Für Entdeckung der Wahrheit ist die Bestreitung der entgegengesetzten Irrthümer von keinem beträchtlichen Gewinn. Ist nur einmal die Wahrheit von ihrem eigenthümlichen Grundsatze durch richtige Folgerungen abgeleitet; so muss alles, was derselben widerstreitet, nothwendig, auch ohne ausdrückliche Widerlegung, falsch seyn; und so wie man den ganzen Weg übersieht, den man gehen musste, um zu einer gewissen Kenntniss zu kommen: so erblickt man auch leicht die Nebenwege, die von ihm ab auf irrige Meinungen führen, und wird gar leicht im Stande seyn, jedem Irrenden ganz bestimmt den Punct anzugeben, von welchem aus er sich verirrte. Denn jede Wahrheit kann nur aus Einem Grundsatze abgeleitet werden. Welches dieser Grundsatz für jede bestimmte Aufgabe sey, hat eine gründliche Wissenschaftslehre darzulegen. Wie aus jenem Grundsatze nun weiter gefolgert werden solle, wird durch die allgemeine Logik vorgeschrieben, und so lässt denn der wahre Weg sowohl, als der Irrweg sich leicht entdecken.

Aber die Anführung entgegengesetzter Meinungen ist von grossem Gewinn für die deutliche und klare Darstellung der gefundenen Wahrheit. Durch Vergleichung der Wahrheit mit den Irrthümern wird man genöthigt, besser auf die unterscheidenden Merkmale beider aufzumerken und sie sich mit schärferer Bestimmtheit und in grösserer Klarheit zu denken. –

 

Johann Gottlieb Fichte: Einige Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten. Fünfte Vorlesung.