Michel Foucault, dessen Schaffen sich irgendwo zwischen Philosophie, Soziologie, Geschichte, Anthropologie und Psychologie bewegt, war einer der bedeutendsten Denker des vergangenen Jahrhunderts. Er verstarb ein Jahrzehnt vor meiner Geburt und ist damit der letzte, der in der langen Reihe der großen Denker vor mir kam. Er war auch der erste von ihnen, den ich las: Noch während meiner Schulzeit studierte ich mit großer Begeisterung sein Werk Überwachen und Strafen.

Foucault gebührt zugleich das große Verdienst, in einer Zeit, die selbstgefällig meint, die Aufklärung bereits hinter sich zu haben und mit ihr fertig zu sein, und in einer Nation, die gerne meint, das Kernland der Aufklärung zu sein, weil sie gar nicht weiß, dass Aufklärung noch etwas mehr ist als Freidenkerei und der Kampf gegen kultistischen Fanatismus, – in einer solchen Zeit und einer solchen Nation klar und deutlich ausgesprochen zu haben, dass Aufklärung eine Aufgabe ist, die noch immer vor uns liegt. Das ganze Werk Foucaults ist aufklärerisch, all sein Streben galt der Freiheit des Menschen und ihrer Verwirklichung, seine große Fragestellung war, was in der Moderne dieser entgegenstand, weshalb Aufklärung hatte scheitern und der Faschismus sich durchsetzen können, auch weshalb scheinbar in der Tradition der Aufklärung stehende Projekte wie die Französische Revolution oder der Kommunismus die Freiheit am Ende nicht befördert, sondern angegriffen hatten. Was er betreibt, ist also eine Aufklärung der Aufklärung und damit ihre Vertiefung. Foucault hat auch erkannt und ausgesprochen, dass die Frage der Aufklärung die zentrale Frage in der Geistesgeschichte wenigstens in den zwei Jahrhunderten seit Kant ist und dass jeder bedeutende Denker seither sich auf die eine oder andere Weise mit ihr auseinandergesetzt hat, dass alles Denken seither auf eine Aufklärung über die Aufklärung ausging. Von dieser Seite her betrachtet ist nichts Besonderes daran, dass auch Foucault sich auf seine Weise dieser Frage stellte – und er selbst, der sehr bescheiden und zurückhaltend war, würde dem gewiss beipflichten –, aber etwas an seiner Beschäftigung mit der Aufklärung hebt Foucault doch aus der Masse der übrigen Denker der beiden verflossenen Jahrhunderte heraus: dass er sich der zentralen Rolle dieser Fragestellung in der Moderne deutlich bewusst ist, dass er es ausspricht und sich zur Aufklärung bekennt. Nietzsche, Bataille, Arendt, auch sie alle sind Aufklärer, auch sie alle fragen, wie Aufklärung verwirklicht werden kann und weshalb an ihrer Statt der Faschismus kam. Aber sie bedienen sich dabei nicht oder kaum des Begriffs Aufklärung. Hierin sticht Foucault, der letzte in ihrer Reihe, hervor. Und damit ist er mein eigentlicher Vorläufer: Der Begriff der Aufklärung wurde gekapert von den Ausklärern, die seither unter falscher Flagge segelten; dies geschah schon im Zeitalter der Aufklärung selbst und schon Fichte gebraucht deshalb an seinem Ende kaum noch diesen schönen Begriff, obwohl dieser doch seine Sache am besten bezeichnet. Dass der Begriff dergestalt so platt wie möglich genommen und verdreht wurde, das gehört zu den Ursachen dafür, dass Aufklärung sich zunächst nicht verwirklichen konnte. Man hat das Wort dann preisgegeben. Die, denen der Materie nach an echter Aufklärung gelegen war, nicht an Ausklärung, haben jene Vokabel, die zur Bezeichnung der letzteren geworden war, oft nicht mehr benutzt; oberflächliche Betrachter kamen deshalb leicht zu dem Irrglauben, gerade diese wahrhaften Aufklärer hätten sich auch von der Sache abgewandt. Aber einmal musste jene Sache ihren eigentlichen Namen doch zurückerhalten, einmal musste doch gezeigt werden, dass Aufklärung mehr ist und schon einmal mehr war als „Befreiung von diesem oder jenem Aberglauben“¹. Dies leistete Foucault. Und damit leistete er die Vorarbeit, dass nun die Aufklärung endlich wieder unter ihrem wahren Namen auftreten und dass mit mir heute die aufgeklärte Aufklärung an die Menschen herantreten kann.

Es war denn auch Foucault, durch den ich – nicht der Sache nach, an der war mir schon vorher gelegen gewesen – zur Aufklärung fand. Das war im dritten Semester meines Studiums, in einem Seminar, das Hanns-Peter Neumann gab, der in jenen Tagen einer der wenigen ernsthaften Gelehrten unter den Philosophologen an der Freien Universität war und dem ich hierfür Dank schulde. Das Seminar widmete sich einigen kürzeren Texten bzw. Vorträgen Foucaults aus der Zeit kurz vor seinem Tode, in denen er auf sein eigenes Werk reflektierte und sich mit der Aufklärung, der Kritik, der Modernität und ihrem Zusammenhang auseinandersetzte. Durch Foucault und diese seine Texte fand ich nicht nur zur Aufklärung, sondern auch zu Kant – den ich zwar in Teilen zuvor schon gelesen hatte, den mir aber erst Foucault recht aufschloss. Ich entwickelte zudem ein tieferes Verständnis für die Moderne und für das Problem der Kritik und der Revolution. Nicht zuletzt führte Foucault mich nicht nur zur Aufklärung überhaupt, sondern machte mir insbesondere die wichtige Rolle der Selbstkritik für diese deutlich.

Aber niemand sonst nahm so viel aus jenem Seminar und aus Foucaults Texten mit wie ich. Viele meiner Kommilitonen verhielten sich, wie Studenten in einem philosophologischen Seminar sich eben zu verhalten pflegen: Ignorant und hochnäsig. Sie wussten schon so Vieles besser, dass sie sich gar nicht auf Foucault einzulassen brauchten. Gerade gegen Ende des Seminars wurden mir die Sitzungen anstrengend, insbesondere die letzte ist mir deutlich im Gedächtnis geblieben: Die, die neben mir das Wort führten, waren sich recht einig: Foucault sei nicht eindeutig genug – sie wünschten sich jemanden, der ihnen alles Denken abnehme. Foucault habe keine geschlossene Theorie aufgestellt, er sei nicht materialistisch genug – diese Dinge wurden vorgetragen, als verstünde es sich von selbst, dass man materialistisch zu sein, dass man eine geschlossene Theorie aufzustellen habe, es fehlte diesen Studenten jede Reflexion darauf, was für Voraussetzungen sie machten, ohne sie irgendwie zu gründen, und es fehlte jede Bereitschaft hinzuschauen und zu sehen, dass Foucault auf Theoriebildung und Materialismus nicht aus schierer Unfähigkeit verzichtete und Einer war, den man nicht weiter ernstzunehmen brauchte, sondern dass er für seine Herangehensweise seine guten Gründe hatte – Gründe, die man letztlich verwerfen mochte, die man doch aber zunächst einmal anzuschauen und zu begreifen hatte. Diese Studenten, die derart ihre Ignoranz zur Schau stellten, waren alle irgendwie links und marxistisch angehaucht, wobei diese Haltung über Gemeinplätze und arrogante Ablehnung von allem, was mit dieser Ideologie nicht konform ging, nicht hinausging – dies waren keine Kenner von Marx, dies waren ein paar selbstgerechte Rotznasen, die eben aufgeschnappt hatten, dass man als Student links zu sein habe – eine neue Mode zu schaffen, das haben sie versäumt, so müssen sie sich denn in die verwaschenen, abgewetzten Lumpen der gestrigen kleiden –, und sich sehr kritisch und abgeklärt dabei vorkamen, dieses Klischee zu leben und sich von diesem an jeder Bildung hindern zu lassen. Ich zweifle nicht, dass sie wie die Mehrzahl der alten 68er und Spontis, denen man ihnen gegenüber immerhin zugutehalten kann, dass ihre Gesinnung damals noch etwas mehr Originalität hatte und auch ein kleines Stückchen weiter über bloße Plattitüden hinausging, ich zweifle nicht, dass sie wie die Mehrzahl dieser in ein paar Jahren eine ganz unrevolutionäre kleinbürgerliche Spießerexistenz führen werden. Die letzte Seminarsitzung endete damit, dass ich eine recht lange Rede darüber hielt, wie wunderbar Foucault das Vorurteil ausräume, radikale Veränderung brauche eine Revolution – das sei wichtig, denn das sei in der Tat bloß ein Vorurteil. Einer der neben mir aktivsten Teilnehmer verzichtete darauf, meine vorige Rede zu widerlegen, er grinste nur und verkündete abwinkend: „Ich sage dazu jetzt mal nichts.“ Es ist besser so, sagen sollte nur Der etwas, der auch etwas zu sagen hat.

Um die Jahreswende 2014/2015 entstand die nachfolgende Hausarbeit, die ich in diesem Seminar abzugeben hatte (dankenswerter Weise erließ uns Neumann das übliche Zitieren gehaltloser Sekundärtexte). In ihr versuchte ich die aufklärerische und aufgeklärte Haltung herauszuarbeiten, von der Foucault getragen war und aus der seine Werke hervorgingen. Sie ist zugleich eine Antwort auf die Überheblichkeit all der Salonlinken – es sind keineswegs nur die paar Studenten in jenem Seminar, es sind auch namhafte Professoren, namhaft wenigstens unter denen, die keinen Instinkt für den Rang haben –, die zu sehr Gefangene ihrer Vorurteile sind, um sich von einem Aufklärer wie Foucault über deren Beschränktheit belehren zu lassen (Foucault gilt als Linker und stand, wie die meisten, die im letzten Jahrhundert etwas Köpfchen und etwas Herz hatten, den Kommunisten zunächst nahe, ging aber wie alle mit Köpfchen und Herz über diese hinaus).

Ich halte den nachfolgenden Text auch heute noch für die beste unter meinen philosophologischen Seminararbeiten. Ändern würde ich darin heute höchstens jenen Passus unter 2.1, da ich etwas oberflächlich über manchen Autor spreche, den ich damals nur unzureichend oder gar nur aus zweiter Hand kannte und dessen eigentliche Absichten mir nicht bewusst waren.² Hiervon abgesehen halte ich diesen Text noch immer für gelungen. Er ist zweifelsohne ein wichtiger Beitrag zur Foucaultforschung, auch wenn diese ihn erst noch entdecken muss. Für den Moment ist dieser Forschung der Geist und das eigentliche Anliegen Foucaults verschlossen, man missbraucht lieber, was bei ihm eine ihm eigene Vorsicht und Zurückhaltung ist, die ihre guten Gründe hat, um sich einer postmodernen Schwammigkeit und Verworrenheit hinzugeben, man bemüht sich eines fürchterlichen, an Foucault angelehnten Jargons und man betreibt unter Bezug auf Foucault eine (oftmals politisch korrekte) Verfinsterung oder noch eigentlicher: Vertrübung. Möge diese meine Arbeit ein Fingerzeig und eine Besinnungshilfe sein, um zu entdecken, was das eigentlich Wesentliche bei Foucault ist, das man von ihm lernen und, auch für andere Bereiche als jene, denen er sich widmete, übernehmen könnte: sein Ethos, welches dermalen so gut wie Allen abgeht, die sich auf ihn berufen.

Ich stand vor fünf Jahren, als ich diese Hausarbeit verfasste und mich mit den darin analysierten Texten Foucaults auseinandersetzte vor eben jenem Problem, das auch das zentrale Problem Foucaults war, mit dem sich aber alle bedeutenden Denker der letzten zwei Jahrhunderte auf die eine oder andere Weise auseinandersetzten: Was macht, dass Aufklärung nicht wirklich wurde, sondern an ihrer Statt der Faschismus kam, was macht, dass gerade jene Projekte wie die Revolution, der Kommunismus, der Feminismus, die oberflächlich in der Tradition der Aufklärung zu stehen und ihre Verwirklichung zu erstreben scheinen, sich als antiaufklärerisch erweisen? Die Meisten, die sich selbst in irgendeiner Weise als links und progressiv verstehen und sich für aufgeklärt halten, stellen diese Frage nicht. Sie zeigen hiermit ihre ganze Verächtlichkeit und Verantwortungslosigkeit: Denn was anders als verantwortungslos ist es im Angesichte des historischen Beispiels all der Schrecken, die aus den Versprechen hervorgingen, einen neuen Menschen, ein besseres System, eine vollkommene Welt zu schaffen, schlicht weiterzumachen wie bisher und es ohne vorherige Selbstkritik einfach abermals versuchen zu wollen? Dies aber war die Haltung Einiger in jenem Foucault-Seminar und ist auch die Haltung Vieler außerhalb dieses Seminars: Man winkt höchstens ab, ja gewiss, in Russland oder China, da sei das mit der Revolution, dem Fortschritt oder dem Sozialismus schiefgegangen; dann folgt vielleicht eine Oberflächlichkeit: da seien die Menschen und ihr Machtstreben schuld oder da habe man eben Marx falsch interpretiert und falsch umgesetzt oder dergleichen. Möglich! Aber wer steht euch dann dafür, dass beim nächsten Versuch nicht wiederum das Machtstreben der Menschen euch einen Strich durch die Rechnung macht oder dass nicht wiederum Marx falsch gedeutet und falsch umgesetzt wird? – und dann ist es eure Unberührbarkeit, eure geschichtsvergessene Unbekümmertheit, eure verantwortungslose Unbereitschaft, ein Problem als Problem ernst zu nehmen und euch ernsthaft damit zu beschäftigen, durch welche wieder einmal das Blut von Millionen vergossen wurde. Ich beschäftigte mich mit diesem Problem, ich fragte mich, ob denn wirklich Marx und Co. bloß wieder und wieder falsch verstanden worden waren oder ob in diesem Denken selbst vielleicht etwas lag, das notwendig zu diesen Ergebnissen führte: ob hier gar nicht ein Missverständnis, sondern eine fürchterliche, wenn auch freilich nicht beabsichtigte Konsequenz vorlag. Einen sehr großen Teil der Antwort gab mir Foucault (einen anderen erhielt ich von Nietzsche; später ergänzte ich mir die gefundene Antwort noch durch das Studium Batailles). Durch ihn lernte ich die Bedeutung und die Gefahr heilsgeschichtlichen Denkens, das stets einen unerbittlichen Kampf gegen das vermeintlich Böse fordert und zur Opferung der Gegenwart zugunsten einer angeblich besseren Zukunft drängt; starrer und dogmatischer Systeme der Welterklärung, von deren Wissen um die Welt, es mag nun richtig oder falsch sein, immer ein Zwang ausgeht und die dem Menschen die Freiheit nehmen, auch wenn sie aus der Absicht hervorgegangen sein mögen, ihm gerade diese zu ermöglichen; und einer negativen Kritik, die Anderes ablehnt und damit seine Bekämpfung bedeutet, die aber nicht auf sich selbst und die eigenen Grundlagen reflektiert und nicht positiv nach der Freiheit sucht. Diese damals gefundene Antwort nahm für einige Zeit einen zentralen Platz in meinem Denken ein; sie ist seither in den Hintergrund getreten, doch bin ich nicht etwa inhaltlich von ihr abgerückt oder habe sie revidiert. Aber ich lasse mich heute stärker vom Ja, von einem positiven Streben nach Aufklärung leiten, ich bin heute weniger negativ darauf ausgerichtet, den möglichen schlechten Ausgang zu vermeiden.³ Hierin bin ich über Foucault hinausgegangen, der ja auch in der Tat, obwohl er der vorsichtigste, vielleicht auch der zaghafteste unter den Aufklärern gewesen sein mag, nicht verhüten konnte, dass das akademische und feministische Geschmeiß sich auch auf ihn stürzte. Und doch bleibt ewig bedeutsam, was ich durch Foucault lernte. Wenngleich die Aufklärung nicht aus Angst vor möglichen bösen Folgen verworfen und ihr hohes Ideal nicht aufgegeben werden darf, darf dieses doch auch nicht mehr mit der alten Gedankenlosigkeit und Unbeschwertheit erstrebt werden: Es war nötig und gut, dass es diese Zwischenepisode von zweihundert Jahren gab, in denen die Aufklärung sich über sich selbst aufklärte und an deren Ende eben Foucault steht; und nur, dass ich sein Wissen, wie auch das Nietzsche, Batailles, Arendts, in mich aufnahm, gewährt mir, als erster über ihre Sorgen und Ratlosigkeiten hinaus gehen und mich wieder unumwunden zur Aufklärung bekennen zu können.

Es findet sich noch mehr in dieser Arbeit als nur die Auseinandersetzung mit der Gefahr der Entgleisung der Aufklärung und des Faschismus. Es findet sich darin Anderes, das noch wichtiger ist für mein heutiges Denken:

– Dass es bei Aufklärung heute nicht um eine bestimmte Doktrin, um die Anerkennung gewisser und die Verwerfung anderer Kenntnisse, sondern um ein Ethos geht, das lässt sich aus dieser Arbeit und von Foucault lernen.

– An meiner Hausarbeit wird ebenfalls der Blick für Opfer- und Täterhaltung deutlich, den ich mir mittlerweile bereits erarbeitet hatte: Im Semester, nachdem ich jenes Foucault-Seminar besucht hatte, aber noch bevor ich diese Arbeit verfasste, formulierte ich diesen für meine Philosophie zentralen Gedanken nach der Auseinandersetzung mit Nietzsche. Er erlaubte mir ein tieferes Verständnis Foucaults und der Aufklärung überhaupt: Ich gebrauchte hier zwar nicht die Terminologie von Täter und Opfer, aber dies halte ich nur für förderlich, denn man soll nicht an Wörtern kleben, dem „bequemste[n] Mittel für Buchstäbler, jedes System seines Geistes zu berauben, und es in ein trockenes Geripp zu verwandeln“⁴, sondern man soll die Sache erfassen. Und die Sache, die jeder Leser deutlich erkennen sollte, ist, dass Jene, die sich von irgendwelchen Kenntnissen, von einem Theoriegebäude abhängig machen, dass auch Jene, deren Kritik heteronom ist und Werte zu Prämissen nehmen muss, die von außen gegeben sind, schließlich Jene, die heilsgeschichtlich denken und die in Gut und Böse trennen und meinen, das Böse sei schuld am Leide der Guten und müsse deshalb beseitigt werden – dass all Jene Opfer und damit unaufgeklärt sind; dass hingegen die positive Kritik, die Foucault üben will und die nicht nach richtig und falsch, sondern nach den eigenen Möglichkeiten und damit der Freiheit fragt, dass auch die Selbstschöpfung, um die es Foucault geht, die Ereignishaftmachung, die nicht bloß historische Fakta auffasst, sondern die selbst die Geschichte macht, indem der Mensch selbst entscheidet, was ihm Ereignis, was an einem historischen Geschehen ihm wichtig ist und was nicht – dass dies Ausdruck der Täterhaltung und damit aufklärerisch ist.

– Schließlich habe ich damals bei Foucault auch gefunden und kann der Leser von meiner Arbeit lernen, wie der Mensch seine Freiheit leben kann, anstatt nur Anderes kaputtzumachen, um am Ende wieder in neue Ketten gelegt zu werden: Negative Kritik, Kritik des Anderen, wie sie so gerne geübt wird, wie sie beispielsweise alle linke und rechte Politik auszeichnet, wenn diese sich auch darin an der Oberflächliche unterscheiden mögen, welches dieses kritisierte Andere ist, erklärt das Ich nicht nur zum Opfer dieses Anderen, sie muss auch konsequenterweise die Beseitigung eben dieses Andren fordern, also die Revolution, den Umsturz, dann die Exekution und Auslöschung, mithin in den Faschismus führen. Positive und auf das Ich gerichtete, dieses als Täter begreifende Kritik aber kann dieses daraufhin befragen, wer es ist und wer es sein möchte. Eine solche Kritik befreit das Ich, es schaut nicht länger auf die bösen äußeren Faktoren, die es scheinbar einschränken, sondern es entdeckt seine Möglichkeiten und damit neue Wege, sich selbst und damit auch seine Umwelt, mit der es in stetiger Wechselwirkung steht, zu transformieren. Eine solche Kritik schafft die Grundlage, nicht zur Revolution, sondern zur Reform, die doch aber nichts weniger als gemäßigt, die in Wahrheit deutlich radikaler als die Alternative des Krieges gegen das Böse ist. Heute, im Angesicht der Klimakrise, wäre es dringend geboten, die alten Denkmuster der Unfreiheit zu verabschieden, von denen etwa die Kommunisten geprägt waren und die die Welt nicht gebessert, sondern das Elend nur verlängert und verstärkt haben, und endlich frei zu sein: frei zu sein, sage ich, was etwas anderes ist, als gegen die Unterdrückung für irgendeine künftige Freiheit zu kämpfen.

Diese Elemente, wie gesagt, erscheinen mir heute an dem, was ich bei Foucault herausarbeitete, bedeutender als die Antwort auf die negative Frage, was schief ging und was demnach bei einem neuen Versuch die Menschen zu befreien vermieden werden sollte, wenn gleichwohl auch diese Antwort von großer Wichtigkeit ist und endlich einmal zur Kenntnis genommen werden sollte. Darüber hinaus halte ich den folgenden Aufsatz schließlich auch abseits seines Inhalts, abseits von Foucault und der Aufklärung, für lesenswert, weil er ein Beispiel für aufmerksame und gründliche philologische Arbeit ist, wie sie heute leider kaum jemand beherrscht und wie sie nirgends gelehrt wird, wie sie also nur beherrschen kann, wer sie sich selbst beibringt: Foucaults Texte sind voll feiner Nuancen, von denen ich viele benannt habe, auch wenn ich nicht allen weiter nachgegangen bin: Wenn er davon spricht, sich einer Chiffrierung zu überlassen, so dürften Viele hieraus entnehmen, dass da Etwas schon da ist, unabhängig vom erkennenden Subjekt, das nur noch entdeckt und historisch aufgefasst werden muss; Wenige werden bemerken, dass Foucault fortfährt, es gehe darum, einer Sache Bedeutung und Wert zu geben, nicht ihre Bedeutung und ihren Wert nur zu entdecken. Wenn Foucault an anderer Stelle zwei Denktraditionen unterscheidet, die sich an Kant und die Aufklärung anschließen und die eine als eine kritische Philosophie, die andere als ein kritisches Denken bezeichnet, so werden Viele dies als eine unbedeutende Abwechslung in der Wortwahl überlesen, während ich hieran die Überlegung anknüpfte, ob Foucault etwa nur die eine dieser Traditionen als im strengen Sinne philosophisch ansieht. Ich meine, dass meine Hausarbeit Dem, der hiernach strebt, eine Hilfe sein kann, diese bedauerlicherweise heute so seltene Genauigkeit im Lesen auszubilden. Meine Arbeit ist ein Muster, wie man einen Philosophen zu lesen hat. So und nicht anders erwarte auch ich, gelesen zu werden. Und wer mich oder einen anderen Philosophen anders liest, wer oberflächlich die grobe Bedeutung der unmittelbar ins Auge springenden Wörter auffasst, anstatt in einen differenzierten Dialog mit dem Text zu treten und die jeweilige Wortwahl des Autors ernst zu nehmen, der schweige, denn er hat kein Recht, über unsere Worte zu urteilen: Er kennt sie nicht.

 

Das Ethos des Michel Foucault – Eine Verbindung von kritischer und moderner Haltung

1 Johann Gottlieb Fichte: Friedrich Nicolai’s leben und sonderbare Meinungen. Vierte Beilage.

2 „Warum ist Foucault dann kein Theoretiker der Praxis? Als solchen könnte man Kant sehen, der mit seinem kategorischen Imperativ eine klare Handlungsanweisung gibt. Oder auch Aristoteles, der in seiner Nikomachischen Ethik eine Theorie des guten Lebens aufstellt. Platon, der in seiner Politeia den Idealstaat entwirft. Oder aber Marx, der die konkreten Probleme der Gegenwart und Vergangenheit analysiert und, wenn er schon die Utopie selbst nicht in der Ausführlichkeit Platons beschreibt, doch zumindest den Weg zu ihr hin schildert.“

3 Hierin bin ich heute ganz mit Fichte einig: er lässt sich nicht vermeiden. „Aber laßt uns hören, was sie etwa vorbringen! Zuvörderst befürchten sie die Gefahren des Mißverständnisses, und die Verwirrungen, die dadurch in den Köpfen hervorgebracht werden könnten. Daraus kann nun nicht mehr folgen, als daß man alle in seiner Gewalt stehenden Mittel anwenden müsse, um dem Mißverständnisse vorzubeugen; aber nur in soweit, in wieweit dadurch dem höchsten und lebendigsten Verständnisse nicht Abbruch geschieht; durch welches letztere jene Vorsichtigkeit gar sehr beschränkt werden dürfte. Oder meinen sie es etwa anders? Wollen sie etwa, daß um des möglichen Mißverständnisses willen auch nicht am Verständnisse gearbeitet werde, und daß von Allem, was mißverstanden werden kann, lieber ganz und gar geschwiegen werde? Ich fürchte, man müßte sodann ganz aufhören zu reden, und besonders auf eine neue Weise zu reden. Alles, was von jeher aus der übersinnlichen Welt in den Gesichtskreis der sinnlichen herabgekommen, hat, je größer und heiliger es war, und jemehr es sich verbreitete, um so mehr Mißverständniß angerichtet, und hat, wenn man die Menschen und die Ereignisse eben nur zählt, und dem Scheine sich hingiebt, unendlich mehr Verkehrtheit und Unheil gestiftet, denn Richtigkeit und Heil. Aber wer das Heilige in Böses verwandelt, der wird nicht erst jetzt verkehrt, sondern er war es schon, seine innere Verkehrtheit offenbart sich nur, und spricht sich aus in diesem Gegenstande; jenes Alles aber, was uns als Unheil erscheint, ist ganz und gar nicht wahrhaftig vorhanden, sondern nur das Heil und der Fortschritt des Heils ist wirklich vorhanden in der ewigen Welt. Verkehrt und verderbt ist die Mehrheit vom Anbeginn gewesen, und sie wird es noch lange bleiben; auch war dieses Verderben vom Anbeginn an nichts anders, denn das Mißverständniß, der Gegensatz, und dessen Aeusserung, gegen das jedesmal in der Welt vorhandene Wahre. Wie dieses letztere steigt, und zu höherer Klarheit sich entwickelt, entwickelt mit ihm zugleich sich das Verderben und die Nichtigkeit gerade zum Gegensatze dieser neuen Gestalt und Klarheit. Was jammern doch jene Schutzredner der Erbärmlichkeit, die durch ihre herzliche Theilnahme bezeugen, aus welcher Verwandtschaft sie selbst sind, daß diejenigen, die nun einmal nichts Anderes können, denn mißverstehen, gerade das, was wir etwa sagen dürften, mißverstehen und verkehren werden, und nicht lieber etwas Anderes; und was wäre denn dabei für Heil zu gewinnen, für diejenigen, die nun einmal nicht taugen können, wenn sie bloß in der alten und hergebrachten Weise nicht taugten und nichtig wären, keinesweges aber etwa in einer neuen, und vorher nicht dagewesenen? Nichtigkeit ist Nichtigkeit und ist allenthalben sich selbst gleich; und sie wird durch die zufälligen Farben, die sie von den Zeitaltern trägt, um nichts weder gebessert, noch verschlimmert.“ (Johann Gottlieb Fichte: Fünf Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten. Erste Vorlesung.) Wer durchaus missverstehen will, der wird es auch tun, man kann noch so deutlich sein und noch so klar jeder Fehlinterpretation vorbeugen. Und da selbst die heiligen Lehren der Bibel und des Koran, obwohl doch aus beiden so lauter und lebensbejahend das Gute spricht, zu den größten Verbrechen gemissbraucht wurden, wie könnten wir uns da einbilden, durch die Vermeidung irgendwelcher Fehler solchem vorbeugen zu können? Wer glaubt, Missverständnis und Missbrauch verhindern zu können, der glaubt nicht an die Freiheit des Menschen – und nimmt sich darüber hinaus noch die eigene, indem er nicht guten Muts und im Vertrauen auf die göttliche Vorsehung seinen Weg beschreitet, sondern aus Angst sich selbst manche Wege versperrt.

4 Johann Gottlieb Fichte: Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre. Vorbericht zur ersten Auflage.