Mein Geburtshaus ist ein Altbau, an dessen Außenwand nachträglich eine Feuertreppe angebracht wurde. Über Streben ist sie mit der Fassade verbunden, gerade dort wo auf jedem Stockwerk die Badezimmer liegen. Steigt jemand diese Treppe hinauf oder hinab, dann vibriert jedes Mal die ganze Wand und es bilden sich mitunter Risse in den Badezimmerkacheln. Sie ist auch daher nur für den Notfall bestimmt. Das aber hat über die Jahre immer wieder Leute und besonders hausfremde Menschen nicht gehindert, sie zu benutzen.
Ich erinnere mich noch deutlich an einen inzwischen bereits einige Zeit zurückliegenden Fall, da im Hinterhof ein paar junge Ausgewachsene herumlungerten, die nicht aus unserem Haus kamen. Die stampften bald schon auf der Feuertreppe auf und ab. Papa tat, was er in solch einem Fall stets tut: Er trat auf den Balkon und rief hinunter, sie möchten doch von der Treppe gehen, durch die Vibrationen, die sie auslösten, würden die Kacheln in der Wand kaputtgehen.
Hätte es sich um aufgeklärte Menschen gehandelt, wären sie dieser Bitte nachgekommen und die Geschichte wäre hier zu Ende. Stattdessen aber rief ein junger Mann zurück: Das könne er sich nicht vorstellen, und fing eine Diskussion an.
Die Aussage nun, dieses oder jenes könne man sich nicht vorstellen (oder eine sinnverwandte wie, man könne es nicht glauben), ist typisch für die Unaufgeklärten und mir auch schon in vielen anderen Fällen untergekommen, da sie ebenso fehl am Platze, ja lächerlich war wie hier. (Hier entsinne ich mich beispielsweise eines Gesprächs mit meinem Onkel; als dieser, ein blinder Anhänger der SPD, von Papa hörte, was Willy Brandts ehemalige Frau über diesen zu erzählen gewusst hatte: wie der sie nämlich einmal angefahren hatte: „Verstehst du denn gar nicht, dass ich Macht will?!“ – da hatte mein Onkel sogleich erklärt, das könne er nicht glauben: eine Aussage, die durch den Umstand noch amüsanter wird, dass mein Onkel bitterer Atheist ist und sich für einen sehr wissenschaftlichen Menschen hält.) Was besagt der Satz „Das kann ich mir nicht vorstellen!“ eigentlich? Nun, im Grunde genommen nicht mehr als dies: Dass der, der ihn spricht, sich etwas nicht vorstellen kann. Das ist aber höchst uninteressant, vor allem wenn es sich um einen Fremden handelt, an dem und an dessen Können oder Nicht-Können wir nicht interessiert sind, wie es doch im Falle des Kerls in unserem Hof der Fall war. Höchstens könnte in diesem Satze unausgesprochen noch der stecken: „Mein Vorstellungsvermögen ist sehr eingeschränkt.“ – Denn so muss ich wohl von jemandem urteilen, der sich Dinge nicht vorstellen kann, die ich mir sehr wohl vorstellen kann und offenbar auch vorstelle, indem ich von ihnen zu ihm rede. Sein eingeschränktes Vorstellungsvermögen mag bedauerlich sein, ist aber wiederum wenig interessant.
Aber beides ist auch gar nicht, was der, der so spricht, meint. Was er zu sagen meint, das ist: „Das kann nicht sein!“ Aber von „Das kann ich mir nicht vorstellen!“ zu „Das kann nicht sein!“ gelangt man höchstens durch ein Zwischenglied, das dieser Mensch also notwendig stillschweigend voraussetzt und das da lautet: „Ich bin der Maßstab der Wirklichkeit, mein Vorstellungsvermögen umfasst alles Seiende und Mögliche und was ich nicht denken kann, das kann es auch nicht geben.“ Diese Voraussetzung ist eine hochgradig arrogante und überhebliche, darüber ist eine Meinungsverschiedenheit nicht möglich. Und doch kann man gewiss sein, dass jeder, der so spricht wie der junge Mann auf unserer Feuertreppe, hoch beleidigt reagieren wird, wenn man ihn arrogant und überheblich nennt – womit er, da ich doch gerade bewies, dass er eben dies ist, sich darüber hinaus noch als unsittlich und Feind der Wahrheit erweist.
Ich nannte die Aussage dieses unaufgeklärten Burschen typisch. Sie erlaubt uns, einen Zug aller Unaufgeklärten zu beschreiben, deren Ausdruck sie ist: Sie alle sind faktenresistent, vom Leben nicht berührbar. Während der Aufgeklärte in der wirklichen Welt lebt und mit dieser in Dialog steht, fehlt dem Unaufgeklärten diese wirkliche Welt, er hat kein Du; da aber ein Ich ganz ohne Du nicht sein kann, wie die Wissenschaftslehre streng erweist, muss er sich sein eigenes Du schaffen, das eigentlich doch nur er selbst ist: anstelle der Wirklichkeit hat er nur seine Vorstellung, und eben darob bleibt er stets in seiner Blase gefangen und ist durch Erfahrung nicht belehrbar. Diese Vorstellung, dieser Glaube, von denen hier die Rede ist, sie sind kein echtes Denken. Denn zum Denken, das wusste schon Kant, gehört zweierlei: Anschauung und Begriff. Anschauungen ohne Begriffe mögen blind sein, man wüsste nicht, was man überhaupt wahrnimmt, wenn der Verstand es nicht einordnen und beschreiben würde. Aber Begriffe ohne Anschauungen sind leer, und das ist ein hohler und nur um sich selbst kreisender Verstand, der sich um Anschauungen nicht schert, sondern nur in seinen selbsterdachten Begriffen lebt.¹ Noch einen Zug der Unaufgeklärten kann man hier entdecken, der mit dem soeben beschriebenen eng zusammenhängt: Sie alle, diese Menschen ohne Du, reden immer nur von sich, um sie selbst kreist für sie alles. Der Aufgeklärte ist sich gar nichts, dass er zufällig gerade er und nicht irgendein anderer ist, bedeutet ihm nichts, er abstrahiert von sich und fragt nur nach der Wahrheit, darum wird er von sich selbst nicht viel sprechen. Er käme nicht leicht auf den Einfall, anderen mitteilen zu wollen, was er für seine Person sich vorstellen kann oder nicht. Schon gar nicht würde er aber von den Grenzen seines Vorstellungsvermögens auf die Dinge selbst schließen. Der Unaufgeklärte hingegen käme ebenso wenig je auf den Einfall, sein liebes Selbst einmal beiseite zu lassen; dass „Das kann ich mir nicht vorstellen!“ und „Das kann nicht sein!“ ein und dasselbe bedeutet, ist ihm selbstverständlich, es ist da für ihn nicht einmal ein Schluss, kein also. Auch deshalb dürfen wir diese Gesellen arrogant und überheblich nennen: Weil sie so gemein sind, ihr Ich ins Spiel zu bringen, wo dieses nichts zu suchen hat, ja weil sie insgeheim, freilich nicht mit Bewusstsein, sich alle für den lieben Gott halten.
Kant nennt es logischen Egoismus, was der junge Mann auf unserer Feuertreppe betrieb: Solcher herrscht dort vor, wo immer ein kleines Ich allein über Wahrheit und Falschheit entscheidet und sich um die Urteile anderer Menschen nicht schert. Es ist zwar möglich und schon mehr als einmal vorgekommen, dass ein einzelner Mensch allein eine Wahrheit erkennt und alle anderen im Irrtum sind, aber wer ein logischer Pluralist und nicht Egoist ist, dem wird es zumindest zu denken geben, wenn er mit seiner Meinung allein dasteht und alle Übrigen ihm widersprechen, der wird dies zumindest zum Anlass nehmen, die Sache noch einmal genau zu prüfen. In diesem Falle hat der junge Mann nicht geprüft (dafür hätte er ja in unser Bad kommen und sich die Kacheln selbst anschauen müssen), er hat sich einfach dem Faktum verweigert. Was mag in seinem Kopf wohl vorgegangen sein? Hätte er reflektiert, hätte er doch eingestehen müssen: Er konnte schlechterdings nicht beurteilen, ob die Vibration der Feuertreppe die Kacheln beschädigt oder nicht, solange er es nicht selbst geprüft hat; Papa aber, hätte er ferner gestehen müssen, konnte es beurteilen. Wollte er Papa in dieser Situation widersprechen, hätte er ihn der bewussten Lüge bezichtigen müssen, eine andere Möglichkeit war da nicht. Doch glaube ich nicht, dass er gedacht hat, Papa sei ein Lügner, ich glaube, dass er gar nicht gedacht hat.
Der ganze Fall mag harm-, ja belanglos genug erscheinen, wenn man ihn oberflächlich betrachtet. Aber das Kleben an dem, was nun gerade empirisch wirklich da ist und klar vor den Augen liegt, ist selbst eine Unaufgeklärtheit, der Aufgeklärte vermag den Geist einer Sache zu sehen: Die Haltung dieses achtlosen jungen Mannes oder auch meines ach so wissenschaftlichen Onkels ist dieselbe wie die irgendeines Verschwörungstheoretikers, der beispielsweise den Klimawandel leugnet, so wenig diese beiden Menschen ihre Verwandtschaft zu jenem vielleicht auch sehen mögen: Auch der ist faktenresistent. Auch der ist logischer Egoist und wird nicht stutzig über seine, vielleicht nicht ausgesprochene, aber doch implizierte, Behauptung, dass nicht nur fast alle Menschen, sondern auch alle Fachkundigen und wissenschaftlich mit der Sache Befassten sich in einer Frage irren, in der nur er und wenige Andere klar sehen. Solange wir oberflächlich bleiben, solange wir gewisse Meinungen wie die Verschwörungstheorien zwar als hanebüchen verwerfen, verurteilen oder verlachen, aber unter uns und an uns selbst jene Haltung dulden, aus der sie entspringt, solange werden derlei Verschwörungstheorien, solange wird die Wissenschaftsfeindlichkeit, solange wird die Verweigerung gegenüber der Realität nicht vergehen. Erzählt man eine Geschichte wie die von der Feuertreppe Unbeteiligten, so erkennen sie meist leicht die ganze Lächerlichkeit Dessen, der die Realität danach bemisst, was er sich vorstellen oder nicht vorstellen kann. Aber das genügt nicht. Sondern wir müssen diese Lächerlichkeit an uns selbst empfinden und uns bis ins tiefste Innere unserer Unvernünftigkeit schämen, sollten wir selbst einmal auf sie verfallen.
Noch ein Letztes kann man an dieser Geschichte ersehen: Die verschiedenen Egoismen hängen unmittelbar miteinander zusammen, der logische und der moralische, welcher es ist, den man gemeinhin als Egoismus schlechtweg bezeichnet, gehen Hand in Hand: Wer in theoretischen Fragen Andere ignoriert und auf ihre Anschauungen und Gedanken keine Rücksicht nehmen kann, der wird auf sie auch praktisch keine Rücksicht nehmen, der wird, wie er sich herausnahm, sein kleines Ich zum alleinigen Maßstab von wahr und unwahr zu machen, sich auch herausnehmen, dasselbe kleine Ich zum alleinigen Maßstab von richtig und falsch zu machen. Die Ignoranz des jungen Mannes in unserem Hof konnte in diesem Falle nur zu ein paar Rissen in den Badezimmerkacheln führen. Er hatte keinen positiv bösen Willen, er wollte uns nicht aktiv Schaden zufügen; aber dies ist auch bei den Wenigsten der Fall, das meiste Böse entspringt, wie auch hier, daraus, dass Einer keinen guten Willen hat, dass er auf Andere und darauf, was er diesen antun mag, nicht achtet. Sich nicht vorstellen zu können, was mit dem Anderen ist, das kann dessen Bad demolieren. Es hat, im Falle eines Eichmann beispielsweise, auch schon Millionen den Tod in den Gaskammern gebracht. Mancher kann sich vielleicht nicht vorstellen, wie elend das Leben eines hierhergeflüchteten Menschen war, und sieht in diesem bloß einen faulen und gierigen Wirtschaftsflüchtling, ein Anderer vielleicht kann sich nicht vorstellen, dass dieser Familienfreund, jener Priester, der doch so nett und freundlich ist, ein Vergewaltiger sein könnte, und tut die Erzählungen eines Kindes ab, anstatt sie ernst zu nehmen.
Wie endete diese Geschichte eigentlich? Papa erklärte vom Balkon herab dem jungen Mann, wenn dieser weiter auf der Feuertreppe rumlaufe, werde er ihn für die Schäden im Badezimmer aufkommen lassen und diese zur Anzeige bringen. Da war der Kerl ganz schnell von der Treppe herunter. Aber warum denn, wenn er sicher war, dass Papa Unsinn erzählte und er keinen Schaden anrichtete? Dann brauchte er ja eine Benachrichtigung der Hausverwaltung oder der Polizei nicht zu fürchten. Offenbar war er also doch nicht gewiss. Und wer sich einer Sache nicht gewiss ist, sie aber doch tut, der handelt gewissenlos. Kant schlägt daher zur Prüfung, ob man nach seinem Gewissen handelt, vor, sich zu fragen, ob man eine Wette darauf abschließen würde, dass das, was man tut oder zu tun im Begriff ist, auch tatsächlich gut und recht ist. Und man soll sich fragen, wie hoch wohl der Einsatz ist, den man zu verwetten bereit wäre, ob man wohl gar seine ewige Seligkeit aufs Spiel setzen würde. Im gegebenen Falle stellte sich heraus, dass der junge Mann es nicht nur nicht auf seine ewige Seligkeit, sondern bereits auf eine dagegen doch geringfügige Geldstrafe nicht ankommen lassen wollte. Wenn ich mir aber einer Sache nicht sicher genug bin, um eine solche Wette einzugehen, und sie doch tue, dann tue ich sie also auf die Gefahr hin, dass ich Unrecht und Böses tue – und ob ich Unrecht und Böses tue, das mag ich vielleicht nicht wissen, aber dass in einem bestimmten Falle diese Gefahr besteht, das kann ich immer wissen, wenn ich nur innehalte und mein Gewissen befrage. Tue ich dies nicht, so, nochmals, bin ich eben gewissenlos und damit unsittlich.
1 Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. Transzendentale Elementarlehre. Zweiter Teil. Einleitung. I.