Ich erinnere mich noch, wie ich im Unterricht – es wird so in der 8., 9. Klasse gewesen sein – einmal mit einem prominenten zeitgenössischen Afterphilosophen konfrontiert wurde – einem von der Sorte, die es rechtfertigen würde, den Missbrauch des Begriffs Philosoph unter schwere Strafe zu stellen –, der dafür plädiert, behinderte Babys zu ermorden. Wir lasen dann einen Brief Behinderter an diesen Kerl und besprachen die Sache. Ich erinnere mich, dass ich ihn damals schlicht für Abschaum und für einen Faschisten übelster Sorte hielt. Nun ja, ich war jung und noch nicht so bewandert in der Welt. Meine Meinung ist seither differenzierter geworden. Wohlverstanden, ich halte diesen Kerl noch immer für Abschaum und einen Faschisten übelster Sorte – wie könnte ich nicht? –, aber ich muss zugleich anerkennen: Er ist immerhin ehrlicher als viele andere.

Und das bringt mich zu der Lüge, von der ich hier schreiben will: Es bringt mich auf unseren verlogenen Umgang mit Behinderten. (Es versteht sich, dass, wenn ich hier von „wir“ schreibe, ich damit nicht alle meine. Keine der Lügen, die ich hier entlarve, ist eine Allen gemeinsame. Es gibt Menschen und ich kenne selbst Menschen, deren Achtung vor Behinderten ganz ehrlich und ungeheuchelt ist.)

Auf Behinderte ist Rücksicht zu nehmen, Behinderte gehören inkludiert, darüber herrscht heute weitgehende Einigkeit. Viele U-Bahnhöfe in Berlin haben in den letzten Jahren Fahrstühle erhalten, um für Behinderte leichter zugänglich zu werden. Viele schauen sich mittlerweile die Paralympics an und bewundern die sportlichen Leistungen manch Behinderter. Die politische Korrektheit, die sich besonders für Behinderte einzusetzen scheint, will kein schlechtes Wort über solche Menschen hören, selbst das Wort behindert klingt einigen abwertend, die dann lieber von besonders herausgefordert sprechen.

Doch Behinderte soll es zugleich nicht geben.

Das spricht freilich niemand in dieser Allgemeinheit aus. Aber dieser Grundsatz scheint doch viele zu bestimmen und eine Vielzahl von Handlungen und Argumenten sind ohne ihn nicht begreiflich. Wie sonst wäre zu erklären, dass immer öfter Eltern die Pränataldiagnostik in Anspruch nehmen und, wenn sich ergibt, dass eine hohe Wahrscheinlichkeit besteht, ein behindertes Kind zur Welt zu bringen, dieses abtreiben? In Island ist diese Praxis so verbreitet, dass dort so gut wie keinerlei Kinder mit dem Down-Syndrom mehr geboren werden, und hier bei uns soll künftig die Krankenkasse für eine solche Untersuchung aufkommen. Viele sprechen es ja ganz offen aus, dass sie kein behindertes Kind möchten und ein solches sogleich abtreiben würden: sprechen dies aus, als wäre dies eine ganz selbstverständliche und ganz akzeptable Haltung.¹ Ich weiß auch von Lehrerinnen, die ihren Schülern freiheraus sagten, sie persönlich würden ein behindertes Kind sogleich abtreiben lassen. Niemand scheint sich an derlei zu stören, niemand scheint hierin eine Verletzung irgendeiner Neutralitätspflicht und eine Gefahr möglicher Beeinflussung von Schülern zu sehen – und dies unter einem Volke, das Frauen keine Schüler unterrichten lassen will, wenn sie ein Stück Stoff um den Kopf tragen, da Lehrer ja neutral zu sein hätten und eine Lehrerin mit Kopftuch ihren Schülerinnen den Eindruck vermitteln könnte, sie dürften keinen Sex vor der Ehe haben, oder derlei Unsinn (aber ich berühre hier eine andere Lüge, die nicht hierher gehört, sondern ihren eigenen Beitrag verdiente: die Lüge, dass die Ablehnung des Kopftuchs irgendetwas anderes wäre als schlichter Rassismus). Eine Behinderung scheint etwas derart Schlimmes zu sein, dass man auf die bloße Wahrscheinlichkeit einer solchen hin, abtreibt, dass man also lieber in Kauf nimmt, ein vielleicht doch nicht behindertes Kind nicht zur Welt zu bringen, als ein behindertes zu bekommen (denn Wahrscheinlichkeiten sind es, was die Pränataldiagnostik ermittelt, und selbst wenn die Wahrscheinlichkeit einer Behinderung bei einer gegebenen Schwangerschaft bei 80% liegen mag, so bleibt doch eine Wahrscheinlichkeit von 20%, dass eine Behinderung ausbleibt). Und es ist nicht allein so, dass eine einmal begonnene Schwangerschaft oft genug abgebrochen wird, damit kein behindertes Kind geboren wird, behinderte Kinder sollen gar nicht erst gezeugt werden (was ja durchaus konsequent ist, wenn man Behinderungen einmal als etwas nimmt, das nicht sein darf): Wann immer beispielsweise die Sprache auf Inzest und dessen Verbot und darauf kommt, weshalb dieses aufrechtzuerhalten ist und Inzest auf keinen Fall stattfinden darf, so ist das am häufigsten vorgebrachte (und zugleich fragwürdigste) Argument: Inzest führe doch zu behindertem Nachwuchs! Und das wird auf eine Weise gesagt, als wäre damit alles gesagt und als verstünde es sich von selber, dass es deshalb niemals zu Inzest kommen dürfe. Selbst jene Menschen, die aufgeklärt genug sind, diesen nicht rundheraus abzulehnen – es gibt derer immerhin –, äußern fast alle etwas wie: nun ja, wenn zwei Verwandte Sex miteinander haben wollten, so gehe das niemanden an und sollte nicht bestraft werden, sie sollten eben nur verhüten und keinesfalls Kinder zeugen, das sei ja klar, aber unter dieser Bedingung könnte niemand etwas dagegen einwenden. Seltsam, ich wenigstens finde das gar nicht so klar – und ich bin doch Aufklärer, ich müsste Klarheit von Trübheit unterscheiden können. Vom Inzest übrigens soll dieser Beitrag nicht sprechen, das ist ein Thema für sich und es könnte ihn ja jemand auch aus anderen Gründen noch ablehnen, hier war es mir nur um das Beispiel dafür zu tun, mit welcher Selbstverständlichkeit in unserer Gesellschaft Behinderung als etwas angesehen wird, das verhindert werden muss und nicht sein darf.

Wie passt dies zu unserem so humanen Umgang mit Behinderten? Wie passt dies zu dem Kampf vieler politisch Korrekter für die Anerkennung Behinderter? Gar nicht. Vielmehr zeigen sich diese hierin als verlogen. Wir verurteilen die Nazis wegen ihres Euthanasieprogramms, in dessen Zuge sie tausende behinderter Menschen umbrachten. Wir verurteilen jemanden wie den obengenannten Afterphilosophen, der behinderte Babys morden will. Aber dieser und auch die Nazis sind ja nicht einfach blutdürstige Monster, die Spaß am Töten haben, sondern sie glauben schlicht, dass behindertes Leben nicht lebenswert sei. Glauben wir wirklich etwas Anderes? Die Akzeptanz, die man Behinderten heute entgegenbringt, ist vielfach nur eine hübsche Lüge, denn sie ist nicht die Folge echter Achtung vor solchen Menschen, sie ist bestenfalls aus Mitleid geboren und damit selbst eine Form der Missachtung, eine Herablassung nämlich: Wir halten Behinderte im Grunde nicht für Gleiche, denen wir deshalb mit gleicher Achtung begegnen wie allen anderen auch, sondern für arme, bemitleidenswerte Kreaturen, die es schlechter haben als wir und deren Leben schlechter ist als das unsere. Freilich, wenn sie einmal in der Welt sind, dann soll man gütig und freundlich mit ihnen sein, die Armen haben’s ja schwer genug! Aber besser wäre es doch, sie wären gar nicht erst in der Welt!

Warum sollen denn keine Behinderten geboren werden? Was ist denn so verkehrt daran? Offenbar hat jemand dadurch einen Nachteil. Ich sehe nur drei Möglichkeiten, wer dies sein könnte:

1. Die Gesellschaft als Ganzes. Das könnte daran liegen, dass man um die Volksgesundheit fürchtet und den Volkskörper rein halten will, wie es bei den Nazis war. Es könnte ebenso gut sein, dass man die Kosten für das Gesundheitssystem vermeiden will. So drohte die hohe Verbreitung der β-Thalassämie, einer erblichen Bluterkrankung, deren Behandlung hohe Kosten verursacht, das Gesundheitssystem auf Zypern zu überfordern, ehe man hierauf mit mehr Pränataldiagnostik und mehr Abtreibungen entsprechender Kinder antwortete. Wie sehr oder wie wenig Behinderte die Gesellschaft, den Genpool, das Gesundheitssystem usw. nun belasten mögen, eines steht fest: Wenn die Gemeinschaft mehr zählt als der Einzelne, wenn der Einzelne folglich keinen Wert hat und zum Wohle der Gemeinschaft zu opfern ist, so ist dies per definitionem Faschismus. Die Nazis waren offen faschistisch. Falls jemand heute aus demselben faschistischen Grunde, weil er nicht sie, sondern weil er die Gesellschaft im Blick hätte, nicht wollte, dass Behinderte geboren werden, dabei aber zugleich dem politisch korrekten und humanistischen Zeitgeist im Umgang mit Behinderten folgte, so wäre derjenige verlogen.

2. Die Eltern. Bestimmte Menschen könnten keine behinderten Kinder wollen, weil sie das etwa für zu viel Arbeit hielten. Dies könnte strenggenommen niemals ein Argument dagegen sein, dass überhaupt behinderte Kinder gezeugt werden, wie es etwa in der nicht stattfindenden Diskussion um den Inzest vorgebracht wird: Wenn es um die Eltern ginge, warum behinderte Kinder verhindern wollen? Wer keine will, wird schon darauf achtgeben, keine zu zeugen bzw. sie rechtzeitig abzutreiben, wer sich die Arbeit machen will, der soll sie sich machen. Auch betrügen solche Eltern sich selbst, wie es alle tun, die ein kluges Um-Zu zu leben suchen: Wie viel Arbeit sie mit ihrem Kinde am Ende haben werden, das können sie vorher nicht wissen. Gewiss können sie ein möglicherweise behindertes Kind sogleich abtreiben und stattdessen künftig ein körperlich ganz gesundes zur Welt bringen. Aber wer garantiert ihnen, dass dieses nicht eines Tages in einen Unfall geraten und sich hierdurch eine Behinderung zuziehen, dass es nicht depressiv oder ganz einfach unausstehlich und für seine Eltern sehr anstrengend werden wird? Stattdessen hätte ein behindertes Kind vielleicht eine große Bereicherung sein können: nicht wenige Eltern mongoloider Kinder beispielsweise sind tief dankbar für dieses Geschenk. An Eltern, die kein behindertes Kind bekommen wollen, weil sie mit diesem nicht zurechtzukommen meinen, lässt sich gut das Wesen aller Unaufgeklärtheit beobachten: Der Unaufgeklärte will sich auf das Leben, auf seine Vielfalt und Unplanbarkeit nicht einlassen. Er möchte es gerne beherrschen, weil er zu unbeweglich ist, um wirklich zu leben. Darum ist er voller Abers. „Ich will ein Kind“, spricht er „– aber Arbeit darf es mir nicht machen, aber behindert darf es nicht sein“ – ja, was darf’s denn noch sein, bitteschön? Es darf nicht schwul werden? Es darf nicht in der Schule versagen? Es darf nicht einen anderen Lebensweg als den von mir angedachten einschlagen, nicht weniger Geld verdienen, als von mir eingeplant? (Wenn man nur all dies und mehr auch bestimmen und jede noch so kleine unpassende Eigenschaft vor der Geburt aussieben könnte! Und man strebt ja dahin, diesem dunklen Ideale immer näher zu kommen.) In Wahrheit also will, der so spricht, gar kein Kind, er will ein nach Maß vorgefertigtes kleines Designerpüppchen, er will nicht das Kind, diesen anderen Menschen, er will sich selbst und seine eigenen Vorstellungen in der Hülle eines anderen Wesens. Aber dies sei. Das kann jemand ja wollen, ohne ein Lügner zu sein. Ein unaufgeklärter Lebensverweigerer, ein Unsittlicher, das mag er sein, aber das ist ja nicht Gegenstand dieser Rubrik, sondern die Lügen sind es. Wo liegt hier die Lüge? Nun, solche Eltern achten offenbar Behinderte geringer als andere Menschen. Am deutlichsten wird das an jenem schon eingangs erwähnten Philodoxen, der besser ist als so viele anderen Menschen, weil er seine Schäbigkeit nicht wie sie verbirgt: Der meint, welches behinderte Kind sie zur Welt bringen, welches sie abtreiben, ja selbst, welches sie nach der Geburt leben lassen und aufziehen, welches sie umbringen, das sollten die Eltern danach entscheiden, was ihnen das größte Glück bereiten würde – und er selbst gesteht ganz offen, dass er ein Baby mit Down-Syndrom lieber ermorden würde, als es großzuziehen, ihn könnte eine solche Vaterschaft nämlich nicht glücklich machen, da er ja wüsste, dass er dies Kind niemals als einen Gleichen würde behandeln können. Man lasse einmal alle Entrüstung fahren, die man verspüren mag; der Philosoph hat für derlei Befindlichkeiten keinen Platz, er hat besonnen zu sein. Und besonnen betrachtet ist diese Menschenverachtung hoch interessant und erzählt einiges: Dieser Mann gesteht, als Gleiche nur die behandeln zu können, die ihm auch tatsächlich gleich sind, nicht die, die er als intellektuell unter sich stehend ansieht. (Im Vorbeigehen, ich nehme ihm nicht ab, dass er überhaupt einen Menschen wahrhaft als Gleichen behandelt. Wer Missachtung lebt, lebt sie immer gegen alle. Und wenn er es doch täte und sein Kriterium tatsächlich wäre, dass Einer dasselbe intellektuelle Niveau hätte wie er – nun, das wäre kein sehr hohes Niveau, ich dürfte mir wohl herausnehmen, ihn als Ungleichen zu behandeln, ihn ebenso zu verachten wie er die Behinderten, ja ihn gar zu töten.) Das ist recht witzlos: Einen, der mir schlicht gleicht, als Gleichen anzuerkennen, dazu gehört so viel nicht. Die Idee der Gleichheit hat aber gerade zum Inhalt, dass ein Mensch mir nicht gleichen, dass er nicht die gleiche Hautfarbe, das gleiche Geschlecht, die gleiche Herkunft, die gleiche sexuelle Ausrichtung und auch nicht den gleichen IQ haben muss, um meiner Achtung wert zu sein und von mir auf Augenhöhe behandelt werden zu können, sondern dass er jenseits aller äußeren Unterschiede als Mensch schlechtweg mein Gleicher und mit einer unveräußerlichen Würde begabt ist. Aber das zu begreifen haben, trotz des Lippenbekenntnisses zur Gleichheit, Viele Schwierigkeiten. Dieser Mann ist ehrlich, sage ich: Er gibt zu, dass er nur einen Menschen anerkennen kann, den er für ebenso klug hält wie sich und mit dem er über seine antimoralischen Klügeleien schwätzen könnte. Auf einen Mongoloiden trifft das nicht zu, den kann er folglich nicht achten. Betrachtet man seine Äußerung aufmerksam, stellt man fest: Auf Kinder überhaupt trifft das nicht zu und er kann diese nur ertragen, insofern er Aussicht hat, sie in Kopien seiner selbst verwandeln zu können; nicht, was sie jetzt in der Gegenwart sind, hat für ihn Wert, sondern nur, was sie einmal sein können und was eben das behinderte Kind niemals wird sein können. Ist dieser Mann tatsächlich so ein Widerling? Oder – freilich, er ist es – die Frage besser gestellt: Ist dieser Mann tatsächlich so ein Widerling verglichen mit vielen anderen, die sich für besser halten mögen? Der Rassismus gegen Kinder ist doch weit verbreitet und weithin akzeptiert in unserer Gesellschaft und er funktioniert doch immer nach diesem Muster, das nur selten so klar ausgesprochen wird wie von diesem ehrlichen Menschenfeind: Viele begegnen doch ihrem Kinde nicht auf Augenhöhe, viele achten es doch nicht, wie es ist, sondern sehen es als ihre Aufgabe, es zu erziehen und zu einem anständigen Ausgewachsenen zu machen, es also zu brechen und zu dressieren. Auf ihr Kind, wie es gerade ist, lassen sie sich nicht ein, es kennenzulernen, haben sie kein Interesse, viel zu sehr sind sie damit beschäftigt, es bereits umzumodeln.² Sie können mit dem Kinde nichts anfangen, denn sie haben keinen Sinn für Seele, Herz und Geist eines Menschen, sondern schätzen seinen Wert nach der Klugheit ab – und von dieser schreiben sie dem Kinde weniger zu als sich. Aber auch dem Behinderten. Und der Rassismus gegen Kinder und der gegen Behinderte entspringen der gleichen Wurzel und haben viel gemein (es ist kein Zufall, dass geistig Behinderte, wenn man sie nicht gleich mit Tieren gleichsetzt, so gerne mit Kindern gleichgesetzt werden, was oftmals zeigt, dass man weder die einen noch die anderen je recht angeschaut hat). Wenn man aber Behinderte derart verachtet, so wie man Kinder verachtet, wenn man sich von ihnen überfordert fühlt, wenn man mit ihnen nichts anfangen, wenn man sie nicht als Gleiche betrachten kann und vielleicht gerade deshalb keinen von ihnen zum Kinde haben will – dann ist man ein Lügner, wenn man zugleich seine Verachtung nicht offen bekundet wie die Nazis und nicht auch den Mord bereits geborener Behinderter gutheißt wie jener Kryptofaschist, sondern wenn man Anerkennung für Behinderte fordert: anerkennte man sie, würde man es nicht als derart schrecklich empfinden, sich mit einem herumschlagen zu müssen.

3. Die Behinderten selbst. Wenn auch mögliche Unbill für Gesellschaft oder Eltern oft genug als Argumente ins Feld geführt werden, als wäre das ganz in der Ordnung, so wird doch am häufigsten erklärt, man wolle die Behinderten selbst schützen, indem man verhindert, dass sie geboren werden. Nicht wenige Eltern treiben ein solches Kind heute des gesellschaftlichen Drucks und des eigenen schlechten Gewissens wegen ab: sie selbst würden ein solches vielleicht durchaus aufziehen können, aber man redet ihnen ein, dass es eine Grausamkeit und Unverantwortlichkeit wäre, ein solches zur Welt zu bringen. Viele Eltern eines mongoloiden Kindes müssen sich mittlerweile fragen lassen, weshalb sie denn die Pränataldiagnostik nicht in Anspruch genommen, weshalb sie denn nicht abgetrieben haben, und ihnen wird unterstellt, Rabeneltern zu sein, die sich nicht genug um das Wohl ihres Kindes sorgen. Dahinter muss notwendig die Meinung stehen: Besser für einen Behinderten wäre es, er wäre nie geboren worden, sein Leben ist nicht lebenswert oder zumindest weniger lebenswert als das eines nicht behinderten Menschen. Nun liegt hierin selbstredend derselbe Irrtum, den ich schon eben angesprochen hatte, als vom Glück der Eltern die Rede war, der aber eben auch für das Glück der Kinder gilt: Derlei lässt sich nicht vorhersagen. Mancher Behinderter führt ein sehr glückliches Leben. Mancher ist nicht behindert und todunglücklich, verfällt in Depressionen, ja begeht schließlich Selbstmord. Es ist nur das übliche Opferdenken der Unaufgeklärten, das meint, die Lebensfreude eines Menschen hänge derlei von einem äußeren Faktor und nicht vielmehr von ihm selbst und seinem Umgang mit dem Leben ab. Wer sich partout unglücklich fühlen will, der wird schon irgendeinen Anlass dafür finden, er mag nun behindert sein oder nicht. Jede Endlichkeit kann als Behinderung empfunden werden (noch jüngst las ich von einem Verbitterten die Klage, dass der Mensch nicht fliegen könne, da sei die Natur selbst schuld, wenn er sie jetzt durch Flugzeuge zerstöre). Aber diesen Irrtum einmal außen vor gelassen, so werden doch zwei Lügen offenbar, wo die Leute bekunden, kein behindertes Kind ins Leben bringen zu wollen, um dem Kinde das Unglück einer solchen Existenz zu ersparen, oder wo die Leute, die, die ein solches Kind zur Welt bringen, für verantwortungslos halten: Die eine Lüge hierbei ist, dass die Menschen sich um die Zukunft ihrer Kinder sorgen würden. Das ist offensichtlich nicht wahr. Derart offensichtlich, dass es müßig ist, darüber viele Worte zu verlieren. Plastikpartikel finden sich heute in den tiefsten Tiefen des Meeres und in den hohen Gebirgen der Erde und schon kleine Kinder haben mittlerweile sämtlich Plastik im Urin; dieses Zeug ist nicht einfach abbaubar, d. h. es und alles, was es auslösen mag, werden nicht nur unsere Kinder, sondern noch deren Kindeskinder zu tragen haben. Der Atommüll, den wir seit Jahrzehnten produzieren und von dem einige gar noch mehr produzieren wollen, weil sie behaupten, gerade damit könnte man der Klimakrise begegnen – offensichtlich begreifen diese Kurzsichtigen und Verantwortungslosen nicht, dass es sich um eine Lebenskrise handelt, die nicht zu lösen ist, indem man einen Angriff aufs Leben durch einen anderen ersetzt –, wird die Menschen noch in hundert Generationen belasten. Und dann ist da, besonders deutlich und besonders drängend, der Klimawandel, der unsere Zivilisation bedroht und das menschliche Leben in weiten Teilen der Erde unmöglich machen könnte. Wer sich aufregt über jemanden, der ein behindertes Kind austrägt, weil der doch nicht an die Zukunft seines Kindes denke! während er zugleich gedankenlos durch die Gegend fliegt, aus Plastikflaschen trinkt und täglich sein Schnitzel verspeist, also alles dafür tut, seinen Kindern eine Welt voller Kriege um Wasser, voller Stürme und Brände, voller Klimaflüchtlinge und voll weiterer Katastrophen zu hinterlassen – der ist ein Lügner. Das Glück und die Zukunft irgendwelcher Kinder sind ihm offenkundig gleichgültig, man darf also annehmen, dass er schlicht rassistisch gegen Behinderte ist bzw. dass sich hinter diesem dritten Grunde, weshalb keine Behinderten geboren werden sollen, eher einer der beiden ersten verbirgt. Die zweite Lüge, die hier offenbar wird, ist die, um die es mir in diesem Beitrag überhaupt geht: Die Lüge, wir würden Behinderte als Gleichwertige betrachten. Sicher, es scheint zunächst ganz selbstlos, es scheint zu deren Wohl zu geschehen, wenn man ihnen die Pein eines Lebens mit einer Behinderung ersparen will. Aber ist es denn eine Pein? Viele Behinderte sehen das anders, Behindertenverbände kämpfen gegen die Praxis der Pränataldiagnostik und die vielen Abtreibungen von Behinderten. Wie kann in ihrem Sinne sein, was viele von ihnen ablehnen? Und wie ich bereits schrieb: Dieser ach so gütige Umgang mit Behinderten ist doch in Wahrheit ein sehr herablassender: er geht von der Prämisse aus, dass ihr Leben nicht wert sei, gelebt zu werden – und das mag jemand zwar meinen, wenn er aber zugleich tut, als würde er in Behinderten Gleiche sehen, da er ihre Leben doch eindeutig für geringer achtet, so ist er ein Lügner.

Allen drei möglichen Gründen, weshalb jemand verhindern wollen könnte, dass Behinderte überhaupt geboren werden, liegt dieselbe Missachtung zugrunde: Wenn er die Gesellschaft vor irgendeinem vermeintlichen Schaden, vor Kosten und dergleichen schützen oder wenn er sich schlicht selbst nicht mit einem behinderten Kinde herumschlagen will, so liegt das klar am Tage, er stellt ja die Gesellschaft oder seine eigenen Befindlichkeiten über diesen anderen Menschen. Aber auch dort, wo scheinbar dieser andere Mensch selbst es ist, in dessen Sinne gehandelt werden soll, trifft dies nicht zu – der wird nicht gefragt, ob er leben oder nicht leben will, und wie könnte man ihn fragen, ehe er lebt? –, sondern der nicht Behinderte setzt einfach voraus, dass ein Leben mit einer Behinderung ein schlechteres Leben sei, und aufgrund dieses Urteils über jenen anderen, jenen ungeborenen Menschen will er seine Geburt verhindern. Wenn wir aber Behinderte derart missachten, nun, dann seien wir doch so offen und ehrlich dabei, wie die Nazis es waren. Und wollen wir das nicht sein – dann fangen wir einmal an, nicht nur von Rücksichtnahme, von Toleranz und Inklusion zu faseln, sondern sie als Menschen zu behandeln: Das aber wird uns nur gelingen, wenn wir Menschen überhaupt als Menschen behandeln, eingeschlossen uns selbst.

Woher eigentlich jene Geringschätzung gegen die Behinderten? Das gehört nicht mehr zur Lüge, ich will es aber noch erwähnen, und vielleicht werden wir dabei ja doch noch auf weitere Lügen stoßen: Allen drei obgenannten Gründen liegt Utilitarismus zugrunde. Tatsächlich ist dieser faschistoide Philodox, von dem ich zuvor sprach, ebenfalls bekennender Utilitarist (schon deshalb ist es ein Unding, dass man ihn einen Philosophen nennt; welcher Philosoph wäre jemals Utilitarist gewesen? die ganze Philosophie war doch immer und wird immer sein der Kampf gegen jeglichen Utilitarismus). Utilitarismus ist jene angebliche Moral – angeblich, denn es handelt sich in Wahrheit um die Doktrin der vollendeten Unmoral –, deren oberstes Ziel die Erzeugung von möglichst viel Glück bzw. die Vermeidung von möglichst viel Unglück ist. Das ist verführerisch, es täuscht leicht die stets an der Oberfläche dümpelnden Unaufgeklärten: Alle sollen glücklich, niemand soll unglücklich sein, was könne denn daran Schlechtes sein, was sonst könne denn eine Moral fordern?! so meinen viele. Nun, für eine umfassende Kritik des Utilitarismus ist hier nicht der Ort, eine solche werde ich an anderer Stelle besorgen. Aber das will ich sagen: Dem Utilitarismus hat der Mensch als solcher keinen Wert, Wert hat nur das Glück, der Mensch ist nur Mittel zur Glückserzeugung. Deshalb kann ein Einzelner den Vielen immer geopfert werden (was, ich sagte dies schon, eben der Faschismus ist; Utilitarismus erweist sich hier als die Moral jedes Faschismus), aber auch diese Vielen haben keinen Wert an sich, sondern können ihrerseits den noch Mehreren geopfert werden. So kann ein Utilitarist wie jener, den ich hier immer wieder erwähne, meinen: Das Unglück der Gesellschaft oder auch nur der Eltern, die kein behindertes Kind wollen, übersteige das Unglück, das entsteht, wenn dieses nicht gezeugt, wenn es abgetrieben, aber ausdrücklich auch, wenn es als bereits geborener Säugling ermordet wird. Er kann ebenfalls erklären, der Behinderte selbst führe ein so unglückliches Leben, dass es eine gute Tat, ja ein Gebot der Menschlichkeit (vielleicht, aber gewiss keines der Menschheit) sein könne, ihn als Neugeborenes zu morden. In dieser Aussage liegt eine ekelhafte Bevormundung und hier wird eine der Lügen jedes Utilitarismus deutlich: Es gibt für Glück keinen objektiven Maßstab; wie glücklich oder unglücklich dies behinderte oder auch dies nicht behinderte Kind sein wird, kann niemand wissen, wer über ihr Leben und ihren Tod entscheidet und dabei das Glück als Kriterium vorschiebt, der versteckt sich hinter diesem nur, in Wahrheit muss es ihm notwendig um Anderes gehen. Aber wenn es dem Utilitarismus in Wahrheit gar nicht um Glück geht, worum denn dann? Lügner haben es an sich, dass sie sich oft verplappern und die Wahrheit ungewollt doch aussprechen. Das tun auch die Utilitaristen, indem sie sich eben Utilitaristen nennen. Das Utile nämlich ist das Nützliche. Ein hübscher kleiner Kniff lässt aus dem Nützlichen das Glück werden, behauptet, das sei am nützlichsten, was das größte Glück erzeuge. Aber es lohnt sich, das Glück einmal außen vor und diese Frage unausgemacht zu lassen und nur vom Nutzen zu sprechen. Dann wird die Sache klarer: Aller Rassismus gründet auf der Vergötzung des Nutzens und auf dem (ob richtigen oder unrichtigen) Glauben, diese oder jene würden nicht nützen, ja vielleicht sogar schaden: Die Flüchtlinge bringen uns nichts ein (und nur danach bemisst sich der Wert eines Menschen, was er einbringt), sie kommen nur her, um hier von Sozialleistungen, um von unserem sauerverdienten Geld zu leben. Juden sind ohnehin eine parasitäre Rasse, die dem hart arbeitenden Arier und Christenmenschen das Geld aus den Taschen wuchert. Auch der Rassismus gegen Kinder erklärt sich hierdurch: sie tun nichts Nützliches, sind nicht produktiv, arbeiten nicht, haben noch nichts geleistet – oft genug wird dies ganz offen ausgesprochen, so bekam ich schon mehr als einmal von meiner sich ereifernden Großmutter auf irgendeinen Widerspruch hin zugeschleudert: Sie hätte vier Kinder großgezogen (was übrigens gelogen ist; sie hat vier Kinder in die Welt gesetzt, und dass aus wenigstens einem von diesen etwas geworden ist, ist dessen eigenes Verdienst, vielleicht noch meines, aber nicht das ihre) und gearbeitet, von mir brauche sie sich gar nichts erzählen zu lassen! was doch weder mit der diskutierten Sache zu tun hatte noch ein Argument ist – und nur deshalb werden Kinder geduldet, während es Behinderte gar nicht erst geben soll, weil bei ihnen im Gegensatz zu den Behinderten noch Aussicht besteht, dass sie einmal nützliche Mitglieder der Gesellschaft werden (ich erwähnte ja oben, dass der genannte Philodox gerade diesen Umstand recht klar ausspricht). Hier wird nun besonders deutlich, dass in der Tat dieses utilitaristische Nützlichkeitsdenken die Grundlage jedes Faschismus bildet: Der will eine gleichgeschaltete Masse von Menschen, die keine Menschen mehr sind, sondern nützliche Rädchen im Getriebe, die dem großen Ganzen dienen; für Individuen, für Menschen, die von der Norm abweichen oder in irgendeiner Weise ausscheren, hat er keinen Platz. Wer den Faschismus, wer den Rassismus, ob gegen Behinderte, gegen Kinder oder gegen Andere ablehnt, der muss die Ideologie der Nützlichkeit verwerfen. Aber diese sitzt tief: Sie bildet die Basis des Atheismus, sie liegt, wie Bataille gezeigt hat, dem Kommunismus so sehr (wenn nicht mehr!) zugrunde wie dem Kapitalismus, welche beiden Systeme also nicht Alternativen, sondern Brüder sind, was empirisch auch dadurch bestätigt ist, dass sie beide schon dem Faschismus den Weg bereitet haben.

In Wirklichkeit sind freilich Behinderte so wenig notwendig nutzlos, wie sie notwendig unglücklich sind. Sie können in einem höheren Sinne, als der Utilitarist dieses Wort verwendet, einen großen Nutzen bringen: Denn sie haben nicht schlicht geringere, sie haben andere Fähigkeiten und Erfahrungen. Sie können der Gesellschaft aus gewöhnlichen Menschen eine wichtige Bereicherung sein, können dazu beitragen, dass diese nicht an ihrer Gleichförmigkeit und Borniertheit zugrundegeht, können deren Horizont erweitern. „I have Aspergers and that means I’m sometimes a bit different from the norm. And – given the right circumstances- being different is a superpower.“³ – So äußerte Greta Thunberg, die ohne diese ihre Andersheit, wie sie selbst mehrfach bekannte, im Angesicht des Klimawandels sich gewiss so sehr selbst betrogen hätte oder so untätig geblieben wäre wie all die anderen. Was wenn ihre Eltern vor ihrer Geburt gewusst hätten, dass sie das Asperger-Syndrom haben würde? Was, wenn sie sie dann abgetrieben hätten, versteht sich, mit den besten Intentionen? Sie hätten vielleicht später ein Kind zur Welt gebracht, das ohne Asperger-Syndrom leben könnte – und hätten dafür gesorgt, dass dieses Kind dank der anhaltenden Umweltzerstörung bald bei aller eigener Gesundheit keinen gesunden Planeten mehr zum Leben gehabt hätte. Thunberg ist beileibe kein Einzelfall. Es gibt viele mehr, deren Andersheit eine Superkraft ist. Menschen wie Temple Grandin, die autistische Professorin für Tierwissenschaften, die sich in Kühe einfühlen kann, wie es kein Gesunder vermag, und unter anderem Anlagen zu deren Haltung entwirft, in denen die Tiere sich wohlfühlen und mit weniger Angst und Stress leben können. Welch ein Verlust wäre es für die Menschheit gewesen, wäre man so human gewesen, es nie zu Grandins Geburt kommen zu lassen! Oder Menschen wie Pablo Pineda, der Lehrer und Schauspieler, der als erster Europäer mit Down-Syndrom einen Universitätsabschluss hat. „Ich bin gegen die Abtreibung“ behinderter Kinder, erklärte sich dieser. „Aber nicht aus moralischen Gründen, sondern aus Gründen der Erfahrung. Es sind harte Erfahrungen, aber extrem bereichernde, die man durch eine Abtreibung eines behinderten Kindes niemals erleben würde. Eltern mit Kindern, die ‚anders‘ sind, verbessern sich auch als Eltern. Sie werden toleranter und solidarischer. Das ist doch eine Chance, die man nützen sollte. Die Auswahl des Kindes à la carte ist nicht gut. Denn schlussendlich wählen wir das Perfekte. Und wenn dann alle gleich sind, sind wir um vieles ärmer. Auch Blumen sind verschieden, und alle sind schön. Der Drang zur sozialen Homogenisierung ist ein Übel der Gesellschaft. Wenn alle gleich denken, gleich aussehen, alle ‚uniform‘ sind, dann ist das Faschismus.“⁴ Wir waren nicht immer so faschistoid wie heute und folglich nicht immer so ignorant gegen die wichtige Ergänzung, die uns Menschen sein können, die von der Norm abweichen: Man lese nur Eliade, dann wird man finden, dass es gerade die Behinderten, dass es gerade Menschen waren, die in neueren Zeiten vielleicht in der Psychiatrie gelandet wären, welche die Propheten, die Schamanen und Seher waren. Es gab Gesellschaften, die darum wussten, dass sie nicht alles wussten und dass es Andere gab, zu denen die Geister sprachen und auf die zu hören wichtig sein konnte. Thunberg dürfte Eliade nicht gelesen haben, aber es ist dieser Geist, der aus ihren Worten spricht, wenn sie begründet, weshalb sie ihr Asperger-Syndrom eine Superkraft nennt: „Because it helps me see things in a way that others might not see. And it – it just helps me be different, which I think is a superpower where – in a society where everyone is the same, where everyone thinks the same, everyone looks the same, everyone does the same things. And… So I think that is something to – to really be proud of, that you are different. And in – in such a crisis like this we need – we need to think outside the box. We need outside the box thinking. We cannot continue thinking like we are today within our current system. And we need to – and then we need people who – who think outside the box and who can see this from a different perspective from.“⁵ So etwas wie Behinderung gibt es letzten Endes nicht, nicht als objektive Tatsache. Wir bezeichnen damit nur, dass jemand vom Gewöhnlichen abweicht. So sagt Pineda über sein Down-Syndrom: „Es ist keine Krankheit! Es ist eine Kondition, ein Zustand. So wie der eine blond ist, habe ich eben das Down-Syndrom. Es ist viel mehr ein Charakteristikum als eine Krankheit.“⁶ Es mag sein, dass jene Abweichungen, die wir Behinderungen nennen, leicht ein schweres Leben, dass sie leicht bedeuten können, dass dieser Mensch für sich keinen Platz findet. Aber wir täten gut, dies mehr anzuschauen, wie noch am ehesten Reich es tat: Wenn für irgendeinen Menschen kein Platz ist, dann ist nicht dieser Mensch krank – denn was sollte denn falsch an ihm sein? – und dann muss nicht er sich der Mehrheitsgesellschaft anpassen bzw. soll, so er das nicht vermag, nicht existieren. Sondern wenn für einen Menschen kein Platz ist, dann ist es die Gesellschaft, die krank ist, dann hat sie sich anzupassen: sie hat sich zu wandeln und weiterzuentwickeln, solange bis jeder Einzelne einen Platz in ihr hat, und zwar nicht erst, nachdem er gebrochen und in eine feste Form gezwungen wurde, sondern in seiner ganzen Individualität, deren Entfaltung nicht zu hemmen, sondern zu fördern ist. Diese Forderung ist der Gegensatz zu der des Utilitarismus: Es ist die, dass nicht der Einzelne sich der Gesellschaft unterordnen soll, sondern dass die Gesellschaft, die als eine eigene Entität gar nicht existiert, sondern nur die abstrakt angeschaute Summe aller Einzelnen ist, für alle Einzelnen offen ist, nicht nur für die Mehrheit derselben. Diesen anti-utilitaristischen Imperativ umzusetzen, würde von der Gesellschaft oder vielmehr – denn eine Gesellschaft gibt es ja, wie gesagt, nicht – von ihren Mitgliedern Beweglichkeit erfordern. Nun ist der Unaufgeklärte aber träge, er will sich nicht bewegen, wenn schon, dann hat sich die ganze Welt zu bewegen, damit er hocken bleiben kann, und hat sich alles anzupassen, damit seine Befindlichkeiten nicht gestört werden. Deshalb nehmen wir es ganz selbstverständlich in den Kauf, dass bei uns nicht jedermann einen Platz hat, dass zwar eine Mehrzahl sich irgendwie einige Jahrzehnte lang durchschlägt – oft weit davon entfernt, dabei glücklich zu sein –, dass aber immer wieder einige rausfallen, die anders sind und nicht mitkommen, dass immer wieder einige kaputtgehen, dass sie selbst den Tod wählen, vielleicht als Amokläufer und Terroristen noch Andere mit in diesen nehmen, oder dass sie von der Gesellschaft ausgeschlossen werden, ob man sie nun in Gefängnisse oder Psychiatrien sperrt oder ob man sie, dies geschehe nun durch einen Mob auf der Straße oder durch eine Gaskammer, umbringt. Man denkt kaum darüber nach, dass immer Einige hinten rausfallen, man nimmt es jedenfalls als unvermeidbar und man macht dafür diese verantwortlich, meint, dass sie der Gesellschaft und der Norm nicht genügen, anstatt dass man erkennt, was doch offenkundig ist: dass diese Gesellschaft eben ungenügend ist und diesen Wenigen nicht gerecht wird. Sie ist es, ich sagte es schon, die krank ist. Und ich nannte auch den Namen dieser Krankheit bereits: Sie heißt Faschismus. Es gibt auch ein Heilmittel: Es nennt sich Aufklärung.

1 Ich möchte in diesem Beitrag wohlverstanden nicht über Abtreibung sprechen. Das ist eine andere Debatte und soll hier keine Rolle spielen, es braucht also kein feministischer Mob sogleich die Fackeln und Mistgabeln aus dem Schranke zu holen. Nicht darum geht es hier, ob Abtreibungen überhaupt stattfinden sollten oder nicht, sondern darum, aus welchem Grunde abgetrieben wird. Wenn eine schwangere Frau überhaupt kein Kind austragen und dieses deshalb abtreiben möchte, so ist dies das eine, und wie dies zu beurteilen ist, darüber lässt sich reden. Wenn aber eine Frau eigentlich ein Kind möchte und daher auch zur Welt bringen würde, wenn sie nur dieses ganz bestimmte Kind abtreiben lässt, weil es behindert sein könnte und sie kein behindertes Kind in die Welt setzen möchte, so ist dies eine andere Sache. Ich frage mich, was die Feministen, die die Abtreibungsfrage derart ideologisch aufgeladen haben, dass sie zu jeder Betrachtung des Gegenstandes nachgerade unfähig sind, wohl dazu sagen würden, wenn es möglich wäre, vor der Geburt zu ermitteln, ob das Kind homosexuell werden wird, und wenn es Mode wäre, in diesem Falle stets abzutreiben? Wahrscheinlich gäbe dies einen Aufschrei, denn Homosexuelle sind den Feministen ja auch sehr wichtig. – Behinderte können es, da es bei deren Abtreibung keinen Aufschrei gibt, nicht sein.

2 An dieser Stelle sei erinnert, dass 98% der Kinder Genies, d. h. hier zu kreativem Denken und eigenständiger Problemlösung fähig sind, bevor sie eingeschult werden. Bis sie dann 30 sind, sind es nur noch 2%. Der Philosophaster, von dem ich hier rede, gehört nicht zu diesen 2%, er gehört zu den 98% derer, die gleichgeschaltet wurden und nun daran arbeiten, auch die nächste Generation von Kindern derart kaputtzumachen, weil sie mit allem Anderen und Fremden nicht zurechtkommen – was wiederum ganz faschistisch ist.

3 „Ich habe Asperger und das heißt, ich bin manchmal etwas anders als die Norm. Und – unter den richtigen Umständen –: anders sein ist eine Superkraft.“ (Greta Tintin Eleonora Ernman Thunberg: Twitter-Post vom 31.8.2019.)

4 Pablo Pineda Ferrer: Im Interview mit Welt vom 10.6.2009 Europas erster Lehrer mit Downsyndrom.

5 „Weil es mir hilft, Dinge auf eine Art zu sehen, wie andere sie nicht sehen mögen. Und es – es hilft mir einfach, anders zu sein, was ich für eine Superkraft halte, wo – in einer Gesellschaft, wo jeder gleich ist, wo jeder gleich denkt, jeder gleich aussieht, jeder die gleichen Dinge tut. Und… Also ich denke, das ist etwas, worauf – worauf man wirklich stolz sein kann, dass man anders ist. Und in – in solch einer Krise wie dieser müssen wir – wir müssen jenseits vorgegebener Bahnen denken. Wir brauchen ein Denken jenseits vorgegebener Bahnen. Wir können nicht damit weitermachen, so zu denken, wie wir es heute tun in unserem momentanen System. Wir müssen – und dann brauchen wir Menschen, die – die jenseits vorgegebener Bahnen denken und die dies aus einer anderen Perspektive anschauen können.“ (Greta Tintin Eleonora Ernman Thunberg: Im Interview mit Amy Goodman für Democracy Now! “We Are Striking to Disrupt the System”: An Hour with 16-Year-Old Climate Activist Greta Thunberg.)

6 Pablo Pineda Ferrer: Im Interview mit Die Presse vom 17.7.2010 Pablo Pineda: „Ich bin nicht krank“.
Pineda äußert indes auch: „Das größte Manko der Gesellschaft ist, das Anderssein nicht verstehen zu können. Aus dem Nichtverstehen heraus etikettiert man. Die ‚Homosexuellen‘, die ‚Immigranten‘, bis hin zu ‚den Frauen‘. Man teilt in Kollektive. Das ‚andere‘, da wissen viele nicht, wie man es behandeln soll. Sie isolieren es, verkindlichen den Umgang mit ihm, oder sie meiden es schlichtweg. Es entstehen Stereotype, Vorurteile, bis hin zu Wörtern wie ‚Discapacidad‘ (‚nicht fähig sein‘), dem spanischen Wort für Behinderungen.“ (Pablo Pineda Ferrer: Im Interview mit Welt vom 10.6.2009 Europas erster Lehrer mit Downsyndrom.)