Die Invasion der Ukraine durch den russischen Despoten erfüllt dieser Tage viele Menschen hierzulande mit Schrecken. Mancher sieht gar bereits den Dritten Weltkrieg heraufdämmern.¹ Sie bietet gewiss Anlass zu mannigfaltigen weiteren Reflexionen:

– Darüber, dass Osteuropa, dass die slawische Welt noch nicht mit der Geschichte der vergangenen Jahrhunderte abgeschlossen hat, wie es Westeuropa bereits getan hat und wie es nötig ist für den Eintritt in eine neue Geschichtsepoche: Die Ukraine ist noch immer, was sie im Ersten und Zweiten Weltkrieg war, was sie in den Zeiten des Zarenreiches und der Polnischen Teilungen war, was sie davor in den Kämpfen Polen-Litauens, Schwedens und Russlands um die Vorherrschaft war: ein umkämpftes Gebiet, hin und her gerissen, von anderen Mächten zu ihrem Raub und ihrem Schlachtfeld auserkoren. (Indessen mag vielleicht gerade jetzt dies endlich zu Ende gehen: der russische Despot dürfte, statt Russen heim ins Reich geholt zu haben, nachhaltig dazu beigetragen haben, eine ukrainische Nation zu schaffen, die eine eigene Identität, einen eigenen Gründungsmythos, eigene Helden hat und sich deutlich von der russischen abgrenzt. Die seit dem Fall der Mauer voranschreitende Integration der slawischen Völkerschaften in Europa, die nun noch weiter nach Osten voranschreiten und mehr denn je auch die Ukraine erfassen mag, wird diesen vielleicht wie den westlicheren Nationen ein Ende ihrer eigenen Geschichte und ein Aufgehen in einer größeren, europäischen und globalen, Geschichte und gerade hierin eine Entfaltung ihrer eigentlichen Kulturtendenzen ermöglichen.)

– Darüber, dass alle Politik der Sachzwänge und des Konsequentialismus, der Klügeleien, die Übles zu tun geboten, vorschützend, nur so ließe sich noch Übleres verhindern, kolossal gescheitert ist: Dass das Appeasement gegen den russischen Despoten über Jahre hinweg, selbst als sich Anfang des vergangenen Jahrzehnts große Teile seiner Bevölkerung gegen ihn empörten, selbst als er Mitte des vergangenen Jahrzehnts die Krim heim ins Reich holte – so erfolgreich war wie einst das Appeasement gegen Hitler, das diesen den Versailler Vertrag brechen, seine Armee aufbauen, Österreich und die Tschechoslowakei an sich reißen ließ, um einen Weltkrieg zu verhüten, den man so nur auf einige Jahre hinausschob: – und dadurch länger und schrecklicher werden ließ, als wenn man dem Bösen gleich und entschieden Einhalt geboten hätte. Es ließe sich darüber schreiben, dass, so wie wir aus dem Zweiten Weltkrieg nicht gelernt haben, wir auch dieses Mal nicht lernen: dass wir schon wieder klügeln und mit Sachzwängen argumentieren, wahlweise beharren, vom russischen Gas leider abhängig zu sein oder aber dessen Wegfall nur durch die Zusammenarbeit mit der Despotie von Katar kompensieren zu können. – Gar nicht erst zu reden von anderen drängenden Fragen, auf die wir – hierin immerhin konsequent – die nicht einmal in diesem unmittelbaren Falle gelernte Lehre nicht anwenden: So bleibt es auch gegenüber der Klimakrise bei Appeasement und bei der Behauptung, um der Wirtschaft wegen müssten wir eben weiterhin das Böse tun, obwohl doch jeder, der nur sehen kann, weiß, dass wir durch diese Prinzipienlosigkeit nur eine viel größere Katastrophe vorbereiten, als wir sie eben durch diese von der Wirtschaft abzuwenden vorschützen. (Beide Themen hängen auch darin zusammen: dass, hätten wir schon vor Jahren im Angesicht der Klimakrise eine Energiewende vollzogen und unsere Energieversorgung selbst und aus erneuerbaren Energien besorgt, wir jetzt nicht von Russland abhängig und auch nicht auf Katar angewiesen wären. Wie so oft zeigt sich also auch hier, dass eine konsequente Klima- und Umweltpolitik auch dann das Vernünftigste und Geratenste ist, wenn man von der Klimakrise gänzlich abstrahiert, und dass also selbst der Klimawandelleugner, wäre er bei Verstand – aber dann wäre er freilich kein Klimawandelleugner – eine solche Politik fordern würde.)

– Darüber auch, dass sich wieder deutlich der Vorteil des von Fichte schon vor zwei Jahrhunderten beschriebene geschlossene Handelsstaates gezeigt hat: Denn produzierte Deutschland seinen Strom selbst, so wären wir heute in unserer Reaktion auf den Völkerrechtsbruch Russlands oder in unserem Umgang mit einer Despotie wie der von Katar viel freier und könnten eher nach Prinzipien verfahren, als uns in Geiselhaft nehmen lassen und zu Komplizen machen zu müssen. Gleichsam drohte in Afrika keine Hungersnot, wenn man dort seine Nahrung selbst produzierte, statt auf Weizen aus der Ukraine oder Russland angewiesen zu sein. Das System der Handelsanarchie und des uneingeschränkten internationalen Warenverkehrs sitzt freilich viel zu fest und der Durchschnittsmensch, er mag sich noch so selbstständig und ausgeklärt dünken ist viel zu unmündig, um die Dinge sich radikal anders vorstellen zu können, als sie eben sind, als dass wir eine solche Lehre ziehen und über die Möglichkeit der Schließung des Handelsstaates auch nur reden werden. Es wird dabei bleiben, dass das, was dem besonnenen und unvoreingenommenen Verstande unmittelbar einleuchtend und recht trivial erscheinen muss: dass es doch für jeden Staat wünschenswert sei, möglichst autark und möglichst wenig abhängig von anderen Staaten, von deren Willkür, aber ebenso von höherer Naturgewalt zu sein – dass diese einfache Wahrheit den meisten Menschen wie die höchste Absurdität und Naivität erscheinen wird.

– Darüber nicht zuletzt, dass es doch heuchlerisch und unsittlich ist, zu tun, als wäre zum ersten Male Krieg seit Jahrzehnten. Dass es widerwärtig ist, wie wir zwar Russland mit Sanktionen belegen, weil es Menschen in der Ukraine mordet, nicht aber Saudi Arabien, das seit Jahren Menschen im Jemen mordet, oder aber Syrien oder China, die die eigene Bevölkerung morden und knechten, das eine mit Bomben, das andre in Konzentrationslagern. Widerwärtig auch, wie wir ukrainische Flüchtlinge mit offenen Armen empfangen, während wir noch vor wenigen Jahren einig waren, dass das Boot voll, dass kein Platz für ungehinderte Migration, dass die Erfüllung der grundlegendsten Menschenpflicht zu teuer sei – und uns nicht einmal schämen, ganz offen auszusprechen, dass eben die Ukrainer im Unterschiede zu Menschen aus Syrien, dem Irak oder Eritrea, blond und blauäugig seien. (Was alles nicht dahin verstanden werden soll, dass wir dem Geschehen in der Ukraine mit weniger, sondern dass wir dem Geschehen anderswo mit mehr Anteilnahme begegnen sollten.)

– All dieses und mehr ließe sich heute erwägen. Ich will aber an dieser Stelle bei dem Einen bleiben: dass viele Menschen eben voll Schrecken und Horror sind angesichts des vor einem Monat begonnenen Einmarschs in die Ukraine. Und es sind viele, die gerne etwas unternehmen und ihren Beitrag leisten möchten. Solches zu tun ist gut und richtig – einmal schon an sich, weil man eben für das Gute und wider das Böse streiten soll, dann aber auch für einen selbst: Ich sage es nicht als erster und es ist auch durch entsprechende psychologische Studien mehr als hinreichend belegt, es wurde uns in unseren Tagen auch durch das erhabene Beispiel Greta Thunbergs noch einmal vor Augen geführt, die durch ihren Einsatz für Klimagerechtigkeit ihre Depression hinter sich ließ: Wer nichts tut, der wird sich immer hilflos fühlen. Das lähmt oder es ruft blinde Panik hervor (aus der heraus man dann etwa Jodtabletten und Sonnenblumenöl hamstert). Dagegen fühlt sich stets besser, wer nicht zum Rumsitzen und Zuschauen verdammt ist, nicht nur abwarten und Opfer sein muss, sondern wer sich zum Täter aufschwingt, sein geleisteter Beitrag mag noch so klein sein.

Nun gibt es sicherlich vieles, das sich tun und wodurch sich Hilfe leisten lässt. Es ist hier nicht meine Absicht, alle Möglichkeiten aufzuzählen oder eine Möglichkeit als die allen anderen überlegene zu preisen: Hilfe lässt sich auf viele Weisen leisten und jeder tue nur beherzt das Seine und ihm unmittelbar als geboten Vorschwebende, so werden alle gemeinsam an der gleichen Sache schaffen. Ich möchte in diesem Text aber doch einen bestimmten Ansatz hervorheben. Hierzu will ich alle Hilfeleistungen, sie mögen vom Individuum oder vom Staate insgesamt ausgehen, zuvörderst in zwei Gruppen einteilen: Man kann einmal den Opfern des Krieges helfen. Sei es, dass man Geld an das Rote Kreuz spendet. Sei es, dass man Flüchtlinge bei sich daheim unterbringt. Sei es auf anderem Wege. Es mag aber darüber hinaus auch den Wunsch geben, statt nur den Opfern des Krieges zu helfen, auf die eine oder andere Weise in den Krieg selbst einzugreifen, auf seine Beendigung hinzuarbeiten und somit zu verhüten, dass es weitere Opfer, die der Hilfe bedürften, überhaupt gebe. Dies zweitere scheint auf den ersten Blick eher in der Macht der Staaten als des Einzelnen zu stehen: Diese mögen durch Sanktionen, durch Waffenlieferungen, durch das Einrichten einer Flugverbotszone, gar durch direktes militärisches Eingreifen oder auf anderem Wege suchen, Russland Einhalt zu gebieten und den Krieg zu beenden, wobei hier offengelassen werden soll, welcher dieser Wege geraten ist und welcher besser nicht begangen werden sollte. Aber auch dem einzelnen Menschen stehen durchaus Wege offen, aktiver in das Geschehen einzugreifen und nicht nur seinen schlimmen Folgen zu steuern. Die offensichtlichste dieser Möglichkeiten, von der schon zwanzigtausend Gebrauch gemacht haben sollen, ist es, in die Ukraine zu reisen, dort eine Waffe in die Hand zu nehmen und als Freiwilliger mitzukämpfen. Doch werden viele von dieser Möglichkeit aus naheliegenden Gründen keinen Gebrauch machen wollen und will auch ich hier nicht zu solchem aufgerufen haben. Ich will vielmehr auf eine andere Möglichkeit hinweisen: Die der Propaganda (welches Wort ich hier ganz unschuldig gebrauche; es ist bei uns nach dem Ende der Naziherrschaft recht negativ konnotiert, propagieren ist doch aber nur ein Verbreiten und Fortpflanzen, es gibt keine Ursache, warum es nicht zum Zwecke des Guten statt des Bösen geschehen können oder warum man nicht die Wahrheit anstatt der Lüge propagieren können sollte). Diese wiederum kann der Einzelne auf unterschiedlichen Wegen betreiben, und mein Leser ist angehalten, gerne kreativ zu werden und neue Formen zu ersinnen! So haben Menschen auf Google Maps in den Rezensionen russischer Sehenswürdigkeiten und öffentlicher Plätze (ich halte dies, um keine Privatleute in Schwierigkeiten zu bringen, für empfehlenswerter, als es in den Rezensionen von Restaurants und Läden zu tun) Kritik am russischen Despoten geäußert oder Bilder von den in der Ukraine verübten Gräueln hinterlassen. In anderen Fällen wurden Pornoseiten, die zu den wenigen in Russland noch frei zugänglichen Seiten gehöre, zweckentfremdet, um Bilder der Invasion oder Aussagen gegen den Krieg zu veröffentlichen. Ich will hier aber vor allem auf eine Methode zu sprechen und damit zum Eigentlichen dieses Textes kommen:

Über das Projekt 1920.in ist es möglich, an zufällig ausgewählte russische Handynummern oder Emailadressen zu gelangen, die man sodann kontaktieren kann. Man kann freilich nicht wissen, wen man hier anschreibt. Ob die Nummer überhaupt in Gebrauch, ob ihr Besitzer vielleicht ein unberührbarer und glühender Verehrer seines Despoten ist. Und doch wird, wenn nur recht viele Leute diesen Weg beschreiten, doch sicher der eine oder andere Russe erreicht werden. Die Webseite ruft dazu auf, auf diesem Wege Nachrichten zu verschicken, in denen man den russischen Bürgern mitteilt, dass ihr Präsident lüge, und sie aufruft, sich gegen diesen zu erheben, und die Seite bietet hierfür vorgefertigte russische Texte an.

Ich halte diesen Ansatz für einen guten und höchst fruchtbaren, nur ist er nicht zu Ende gedacht. Zum einen dürfte es empfehlenswerter sein, anstelle einer SMS über Messangerdienste wie WhatsApp, Signal oder Telegram zu schreiben, so man die fraglichen Nummern dort findet. Ebenso kann man sie so einstellen, dass sie nach kurzem automatisch gelöscht werden. Schließlich schreibt man an Untertanen einer Despotie, in der schon Worte wie „Krieg“ oder „Invasion“ fünfzehn Jahre Gefängnis bedeuten können und Polizisten auf der Straße die Handys von Passanten kontrollieren. Man sollte derlei im Sinne behalten und Wege des Kontakts suchen, die möglichst ungefährlich für den Empfänger sind. Sodann ist der vorgeschlagene Inhalt der Botschaft reichlich plump. Die leere und durch nichts belegte Behauptung, der Despot lüge, wird wohl niemanden überzeugen, der dies nicht ohnehin schon erkannt hat, der bloße Aufruf zu rebellieren, niemanden dazu bringen Freiheit oder Leben zu riskieren. Eine solche Nachricht, verschickt von der Sicherheit des heimischen Sofas aus in einem Staate, der keine Repressionen kennt, dürfte seitens des Empfängers als westliche Arroganz empfunden werden – oder aber sich ausnehmen wie blindlings von einem Roboter, nicht einem anderen menschlichen Wesen, das einen ansprechen und berühren will, verschickt und wie ein plumper Propagandaversuch aus dem Westen; sofern er nicht eine Falle seiner eigenen Unterdrücker wittern sollte. Derlei scheint, anstatt in irgendeiner Weise zu helfen, eher dazu geeignet, Menschen in Abwehrhaltungen und Trotz zu drängen und stärker in die Arme ihres Despoten zu treiben: in der Meinung nämlich, vom Westen würden sie nicht als Menschen, sondern bestenfalls als Schachfiguren wahrgenommen, von dort seien nur Ignoranz und Überheblichkeit und blinde Befehle zu erwarten, weshalb der Russe eben doch nur auf den Russen sich verlassen könne.

Aber so undurchdacht die Ausführung auch ist, der Ansatz bleibt doch fruchtbar, und längst gibt es andere, die ihn weiterdenken: Markus Reuter rät dazu, auf diesem Wege das Gespräch mit Russen zu suchen, und schlägt vor, wie solch eine Nachricht aussehen könnte. Und nach eigenen Angaben ist er durchaus erfolgreich: Von bisher zwölf verschickten Nachrichten habe er auf immerhin zwei eine Antwort erhalten, woraus sich Gespräche ergeben hätten. Eine bessere Quote, als man hätte erwarten können, will ich meinen (wenn auch der Statistiker zurecht betonen würde, dass zwölf eine zu niedrige Zahl ist, um schon repräsentativ zu sein) – zumal die zehn, die nicht geantwortet haben, nicht allesamt Anhänger ihres Despoten sein müssen: vielleicht hat er ja noch zwei, drei weitere berühren können, die sich bloß nicht trauten, zurückzuschreiben.

Das von Reuter vorgeschlagene Vorgehen, wobei man ein echtes Gespräch sucht, hat gegenüber der vorgenannten Standardnachricht, die schon ausformuliert ist und nur verschickt zu werden braucht, freilich einen bedeutenden Nachteil: die Sprachbarriere. Viele, gerade etwas ältere Russen sprechen kein oder nur sehr schlechtes Englisch, und selbst wer es doch spricht, ist vielleicht noch immer besser in seiner Muttersprache zu berühren. Wenigstens die erste Nachricht, mit der man das Gespräch beginnt, sollte daher möglichst auf Russisch verfasst sein. Und somit eignet sich dieser ganze Plan vor allem für jene unter uns, die des Russischen mächtig sind, was doch eine Minderheit ist. Indes können alle übrigen es zumindest mit einer Übersetzungsmaschine versuchen; diese sind in den letzten paar Jahren schließlich immer besser geworden, und bei einem nicht allzu komplexen Text sollte zumindest ein für den russischen Empfänger verständliches Ergebnis herauskommen – und selbst wenn er Englisch spricht und eine englische Botschaft verstanden hätte, mag er vielleicht den Versuch, ihn in seiner eigenen Sprache zu berühren, schätzen und ehren und über einige Fehler oder ungelenkte Formulierungen der maschinellen Übersetzung hinwegsehen.

Warum, so bleibt mir noch zu erklären, ist dieser Vorschlag ein aufgeklärter und verdient es, gerade unter dieser Rubrik meiner Webseite beschrieben und anempfohlen zu werden?

Weil hier das Gespräch gesucht wird. Dialog aber anstatt Kampf ist der Grundtendenz nach immer aufgeklärt und aufklärerisch. Krieg und Hass sind nur möglich, wo man den anderen nicht kennt und in ihm den Menschen nicht sieht (und am besten mordet es sich mit modernster Kriegstechnologie, wo man nur einen Knopf zu drücken hat, um Bomben abzuwerfen, oder wie in einem Computerspiel eine Drohne steuert, und wo man die Gesichter der Menschen, deren Lebenslichter man auslöscht, niemals schaut). Frieden auf der anderen Seite kann unmöglich durch militärische Überwindung, durch gewaltsame Erzwingung einer Einstellung der Kampfhandlungen, durch Verhandeln und Kompromissschließen zwischen Regierungen zustandekommen – solches kann höchstens in einen Waffenstillstand münden, der Jahre, selbst Jahrzehnte anhalten mag, aber doch kein echter Frieden ist: Oft genug birgt er den Keim zum nächsten Kriege schon in sich, so wie der sogenannte Friedensvertrag von Versailles der Auftakt zum Zweiten Weltkrieg war. Wo aber Menschen als Menschen einander begegnen, wo sie miteinander ins Gespräch kommen, wo sie die Menschheit im anderen wiedererkennen, da nur wird Friede, da aber auch notwendig. Und ein Ansatz zum Frieden ist ja immer da, der nur gehegt und entwickelt werden will. Die Menschen sind zunächst nicht zum Krieg geneigt. Das soll keine Verklärung, das soll nicht die Behauptung sein, dass der Mensch im Grunde gut wäre – nichts läge mir ferner. Aber Krieg will doch der gemeine Mann, er mag übrigens durchaus seine Unsittlichkeit haben, gewöhnlich nicht. Die Russen sind kein blutrünstiges Räubervolk. Und sie haben diesen Krieg nicht einstimmig in einer Volksabstimmung beschlossen. Es sind immer die Regierungen, die Kriege beschließen und erklären. Das soll die Russen von heute so wenig aus der Verantwortung nehmen wie die Deutschen von gestern: die Menschen sind durchaus keine bloßen Opfer ihrer Regierung und diese könnte nie einen Krieg führen, den die Menschen nicht wenigstens geschehen lassen. Aber dafür ist vieles vonnöten. Ideologische Verblendung, Verteufelung des Feindes, herbeigelogene gerechte Kriegsgründe. Man muss dem gemeinen Menschen den Krieg eben erst einreden und rechtfertigen, wenn er ihn mittragen oder wenigstens geschehen lassen soll. Und gegen die Propaganda, die dieses tut, hilft es, auf ihn zuzugehen, mit ihm zu sprechen, ihm zu zeigen: Wir hassen dich nicht und wir wollen nicht gegen dich kämpfen.

Kein Mensch kann für sich allein denken. Wenigstens kann er nicht wissen, ob er wirklich Etwas gedacht oder sich nur etwas ausgedacht habe. Er muss sein Denken an einen anderen Verstand halten, muss die enge Perspektive des eigenen Ich verlassen und eine überindividuelle Position einnehmen. Denken braucht immer den Dialog, und wo alle gleich denken, da wird gar nicht gedacht.

Aus diesem Grunde will der Despotismus jeden Dialog verunmöglichen. Dies ist, woran man ihn eigentlich erkennt: Er nimmt den Menschen die Freiheit des Denkens, Forschen und Kritisierens und damit die Möglichkeit, einen Wandel zum Besseren zu bewirken.² (Noch weiter treibt es der Faschismus, der den Dialog nicht nur mit Gewalt und von oben her zu verbieten sucht, sondern die Menschen alle derart gleichschalten will, dass sie wirklich keinen Dialog mehr führen können, und wenn es auch erlaubt wäre, weil er einem Selbstgespräche gleichkäme.) Dem russischen Despotismus begegnen wir gewiss am besten, indem wir mit den Russen – nicht mit ihrem Despoten – das Gespräch suchen, wie es unter andrem auf dem beschriebenen Wege geschehen könnte. – Das Gespräch, sage ich: Nicht den Kampf, die Verurteilung, die Belehrung, sondern das Gespräch von Mensch zu Mensch. Man kann auf diesem Wege einem Russen schreiben, dass das Geschehen einem nahegeht, kann ihn fragen, wie er sich fühlt, der vielleicht Verwandtschaft und Freundschaft in der Ukraine oder unter den Soldaten hat, kann ihm zeigen, dass man nicht einseitig ist oder über dem Leid der Ukraine die Sorgen und Nöte der Russen vergisst.

Ein Embargo gegen Russland ist zweifellos richtig. Aber auch gefährlich und allein jedenfalls nicht ausreichend. Es kam mir dieser Tage schon die Meinung unter: Wir dürften Russland nicht mit Sanktionen belegen, der Despot in seinem Palast spüre sie eh nicht, sondern der kleine Mann auf der Straße, der aber würde darüber nur in Trotz gegen den Westen verfallen, wir würden die Russen so zusammenschweißen und hinter ihrem Despoten einen, würden bewirken, dass, wenn sie den Westen als sie ablehnend oder erpressend und bedrohend erfahren, sie ihrerseits mit Ablehnung gegen ihn und dem Beschluss, sich derlei nicht gefallen zu lassen, reagieren werden. Ich halte diese Gefahr für höchst real. Ich halte sie zugleich wohlgemerkt für höchst irrelevant bei der Frage nach dem Verhängen von Sanktionen: Das Argument ist, wie grundsätzlich und von vorneherein jedes Argument in moralischen Fragen, falsch, es ist bloße Klügelei, es fordert, dass wir einmal mehr das Gute der möglichen Verhinderung eines vermeintlichen Übels aufopfern, was uns doch erst in diese Lage brachte. Nein, dass wir mit einem Despoten und Kriegsverbrecher nicht Handel treiben und unsere Hände nicht mit Blut besudeln dürfe, das wissen wir unmittelbar, das sagt uns laut und deutlich unser Gewissen, sobald wir uns dumm genug machen, auf dieses einmal wieder zu hören, statt es mit Klügeleien und Ängsten zu übertönen. Aber wenn uns das Gewissen etwas gebietet, das schädliche Folgen haben könnte, so müssen wir, so wenig wir dieser Folgen willen die gute Tat unterlassen dürfen, bei dieser einen Tat ja nicht stehenbleiben, sondern können ihr eine weitere folgen lassen, die den schädlichen Folgen steuert.³ Und dies könnte eben so aussehen, dass, indem wir die russische Führung mit Sanktionen belegen, wir zugleich aufs russische Volk zugehen, diesem die Hand reichen und ihm deutlich machen, dass wir mit ihm keinen Streit haben, insoweit es nicht Komplize und Handlanger ist. Ich kenne einen Ukrainer, der sich auf die Invasion hin in zwar verständlichem, aber dennoch verkehrtem Zorn erging: nicht nur die Invasoren, sondern auch ihre Kinder und Kindeskinder werde man verfluchen, kein Russe sei in der Ukraine mehr willkommen, Moskau müsse zerbombt werden. So verständlich derlei Tiraden sein mögen, was sollen sie bezwecken, außer in die Hände der russischen Propaganda zu spielen, wonach man gegen Nazis kämpft und einen Genozid an Russen verhindert? Was sollen sie über das heutige Morden hinaus bezwecken, als den nächsten Krieg, die Revanche und Vergeltung in einigen Jahren oder Jahrzehnten grundzulegen? Und wie sollte man von den Russen erwarten, innezuhalten, von ihrem Despoten ein Ende des Krieges zu fordern oder diesen gar abzusetzen, solange man ihnen das Gefühl gibt, dass sie mit dem Rücken zur Wand stehen, gehasst und verachtet werden und entweder weiterkämpfen und siegen und sich von ihrem Despoten schützen lassen oder aber den geballten Zorn des Westens oder der ganzen Weltgemeinschaft ertragen müssen?

Der schöne aufklärerische Impuls in der beschriebenen Aktion weist übrigens weit über den heutigen Krieg Russlands hinaus. Dieselbe Aktion und ähnliche ließen sich ja in anderen Fällen wiederholen, und wenn man Russen schreiben kann, so kann man beispielsweise auch Chinesen schreiben. „It is public opinion that runs the free world“⁴ – Und nicht allein die freie, sondern selbst die unfreie. Die Tyrannen und Despoten haben das besser verstanden als wir, deren Politik in noch größerem Maße als die ihre ja nur passiv und bestenfalls reaktiv ist. Sie scheuen sich nicht, mit Propaganda nicht nur auf die eigenen Untertanen, sondern auch auf das hiesige Publikum einzuwirken. Gerade der russische Despot hat bekanntermaßen über Jahre Verwirrung, Misstrauen und Hass gestreut, hat Trollarmeen im Internet Guerillakämpfe ausfechten lassen, hat Verschwörungstheorien genährt, hat Corona- und Klimawandelleugner, Pegidioten und QAnon-Hetzer befeuert, hat die Rechten Europas und Amerikas ideologisch und finanziell unterstützt, weshalb das Geschmeiß von der AfD ihn und seine Propaganda so trägt wie sonst nur die russlandnostalgischen und antiwestlichen Linken und weshalb das Geschmeiß von der FPÖ so leicht glauben konnte, ein reicher Russe wolle seine verbrecherischen Machenschaften finanzieren.⁵ Wir wissen all dies seit Jahren und schauen doch hilflos zu, anstatt gegenzusteuern. Warum sollen denn nicht auch die freien Staaten ihre Propaganda treiben? Warum sollen, wie unsere Feinde uns zu unterwandern und zu destabilisieren suchen, nicht auch wir sie unterwandern und destabilisieren? „Kein freier Staat kann Verfassungen, deren Oberherren Vortheile davon haben, wenn sie benachbarte Völker untrjochen, und die daher durch ihr blosses Daseyn die Ruhe der Nachbaren unaufhörlich bedrohen, vernünftigerweise neben sich dulden; die Sorge für ihre eigene Sicherheit nöthigt alle freie Staaten, alles um sich herum gleichfalls in freie Staaten umzuschaffen, und so um ihres eigenen Wohles willen das Reich der Cultur über die Wilden, das der Freiheit über die Sklavenvölker rund um sich her zu verbreiten.“⁶ Nur dürften wir es ihnen in den Methoden nicht gleichtun; nur dürfte unsere Propaganda nicht genauso funktionieren wie die ihre, nur mit dem gegenteiligen Inhalte. Ihre Methoden, ein anderes Volk anzusprechen und für sich zu gewinnen oder jedenfalls dessen System zu schwächen, sind die ihren, geboren aus ihrem System und passend zu diesem Systeme. Darin werden sie uns immer überlegen sein und wir böten ihnen nur neue Angriffsfläche, wenn wir sie zu kopieren suchten. Nein, geheime Trollfarmen, das Verbreiten von Lügen durch Geheimdienste, staatlich finanzierte Propagandakampagnen, all das ist als Vorgehen einem despotischen Staate wohl angemessen, nicht aber einer Republik von freien Bürgern, welche wir doch gerne heißen wollen. Einer solchen wäre es eben angemessen, wenn diese Bürger – nicht koordiniert und bezahlt von der Regierung, nicht lügnerisch und hinterhältig, sondern jeder von sich aus und aus freier Entscheidung und lauter und offenherzig, selbst ihre Sache verträten und ihre freiheitlichen und aufklärerischen Ideale verbreiteten und wenn sie eben mit den Untertanen despotischer Regime das Gespräch suchten.

Man stelle sich nur einmal eine Zukunft vor, in der wir mit aller Entschiedenheit und Radikalität, aber dabei friedlich und ohne Gewalt vereint dem Bösen auf Erden entgegenträten! Man stelle sich vor, unsere Regierung würde einen die Menschenrechte nicht achtenden Despotenstaat wie Saudi Arabien, Afghanistan, China oder Birma nicht nur mit einzelnen, noch so weitgehenden Sanktionen belegen, sondern rundheraus sämtlichen Handel mit ihm abbrechen und die Freilassung aller Geknechteten kategorisch als von der Vernunft geboten einfordern. – Aber zugleich würde man der zweifellos in diesen Ländern einsetzenden Propaganda, dass sich da der Westen gegen die glorreiche eigene Nation verschworen hätte und einen durch Erpressung in die Knie zu zwingen suche, dass das ein neuer Kolonialismus und ein Angriff auf die eigene Souveränität sei usw. usf. – würde man diesem von Seiten der Regierung, aber auch der normalen Bürger begegnen, indem man dem fremden Volk die Hand reichte und den Menschen, die freilich eher von den Sanktionen getroffen würden als ihre Despoten, auf alle erdenkliche Weise zeigte: Mit euch haben wir keinen Streit, solange ihr nicht etwa hinter euren Machthabern stehen solltet, sondern nur mit diesen, und wenn unsere Maßnahmen gegen diese euch treffen, so tut es uns aus tiefstem Herzen leid, es ist aber nicht unsere Schuld, sondern ihre, die sie euch in Geiselhaft nehmen und als Schutzschilde vorhalten, wir wollten gerne alle Sanktionen sogleich beenden, wenn ihr nur euer eigenes Joch abwürfet. Man denke sich, wir würden die Untertanen dieser Staaten, wenn sie als Gäste oder Forscher zu uns kämen, mit der größten Herzlichkeit empfangen und auch alle ihre Flüchtlinge aufnehmen. Man denke sich, wir würden zum Ausgleich für sonstige wirtschaftliche Sanktionen Bomber schicken – Rosinenbomber nämlich, um Essen und Medizin zu verschenken und Botschaften der Freundschaft abzuwerfen; auf die die Despoten freilich feuern könnten, nur könnten sie schwerlich vorgeben, das eigene Volk dadurch zu schützen, da sie ja keine Bomben, sondern nur Hilfsgüter fernhielten. Und man denke sich eben, wie wir Bürger während alle diesem mit den Menschen aus dem fremden Volke das Gespräch suchten, ihnen zeigten, dass ihre Not und der Druck auf sie nicht vergessen und dass an sie gedacht und dass in uns gegen sie kein Hass ist. – Freilich eine Vision einer besseren Zeit. Es würde zugleich eine wahrhaft prinzipientreue Politik voraussetzen (welche selbst die Besseren unter uns heute kaum wollen und mehr verhindern als befördern) und eine aufgeklärte, im wahren Sinne patriotische, weltbürgerlich gesinnte und pflichtbewusste Bevölkerung. Aber doch keine unmögliche Vision, will ich meinen!

Freilich darf, wer angeregt durch diesen Text sich nun an das Verschicken von SMS macht, sich nicht zu viel versprechen. Selbst wo Gespräche zustandekommen, wird man durch ein paar Textnachrichten kaum die Revolution in Russland auslösen. Aber man sei doch nicht immer so produktorientiert und deshalb, weil eben die gewollte Konsequenz nicht gleich und unmittelbar erreichbar scheint, zu verzagt! Es geht doch kein guter Akt ganz verloren. Es legt doch jede echte Berührung eines Mitmenschen einen Samen in sein Herz, den künftige Berührungen wässern und keimen lassen mögen. Und man unterschätze andererseits die Wirkung eines solchen Kontaktes, nicht die sofortige, aber die schlussendliche, auch nicht. Oder wähnt man denn, die DDR hätte solch ein rasches und friedliches Ende durch ihre eigenen Untertanen genommen, wenn diese Menschen wahrhaft abgeschottet und nur von der eigenen Propaganda abhängig gewesen wären? Sie empfingen eben Westfernsehen und damit eine andere Perspektive (und ausgerechnet im Tal der Ahnungslosen, wo man es nicht empfing, ist man selbst über dreißig Jahre später noch am ahnungslosesten), sie bekamen auch Pakete, Briefe, gar Besuch von Verwandten aus dem Westen und konnten doch immer gewiss sein, dass bei aller Ablehnung ihrer Machthaber durch die Regierung und die Bürger im Westen beide doch fern davon waren, sie, die gemeinen Menschen, ebenfalls abzulehnen und zu hassen, sondern geradezu freudig erwarteten, sie als ihre Brüder in Empfang nehmen zu dürfen. Zeigen wir nur dasselbe den Russen und allen Sklavenvölkern, so werden sie, heute oder in hundert Jahren, schon in den großen Bruderbund der Menschheit mit uns eintreten!

1 Einen solchen werden wir jetzt wohl schwerlich erleben, selbst im allerschlimmsten Falle. Ein Weltkrieg ist eben nicht ein besonders großer und schrecklicher Krieg, ein Krieg zwischen zwei Großmächten oder auch ein Atomkrieg, sondern ein Weltkrieg ist: ein Krieg, der auf und von der ganzen Welt geführt wird, an dem also ein Großteil aller Nationen beteiligt ist und der auf einem Großteil aller Kontinente stattfindet. Ich sehe nicht, wie es einen solchen Krieg jemals wieder geben sollte, nun da das Kolonialzeitalter zu Ende ist: Wenn Europa heute zum Schlachtfeld Russlands und Amerikas würde, wieso sollte das beispielsweise große Kämpfe in Afrika bedeuten? Ich sage dies nicht als Trost – es dürfte ein schwacher Trost sein, wenn bei uns die Atombomben fielen, daran erinnert zu werden, dass in Südamerika, Afrika, dem Pazifik oder dem größten Teile Asiens nichts dergleichen geschieht; ich sage es, weil ich als Philosoph nun einmal auf klaren und besonnenen Gebrauch von Begriffen zu halten habe und wenige Gelegenheiten verstreichen lasse, gegen Plakatworte und Überdetermination vorzugeen.

2 Das Zeitalter ist hierin, wie in allem, viel zu oberflächlich und ganz unfähig den Dingen auf den Grund zu gehen. So gebraucht man die unscharfe Bezeichnung Diktatur und nennt so alles, wo Einer an der Spitze steht, und stellt diesem die Demokratie gegenüber. Aber unsere Demokratie ist ebenso Diktatur. Zwar Diktatur der Mehrheit – aber ob der Diktator nun einer ist wie in Russland oder eine Mehrheit wie hier, es ändert doch nichts daran, dass beide Male nicht Vernunft regiert und das erklärte Staatsziel ist, stets das Rechte zu tun, man mag dieses Ziel auch mal verfehlen, sondern dass es gar kein echtes Staatsziel und gar kein Rechtes gibt, sondern immer der Wille des Diktators geschehen soll und sich vor der Vernunft nicht rechtfertigen muss. In gleicher Weise macht man die Grausamkeit und die Verbrechen eines Staates zum Unterscheidungskriterium. Aber ist denn nur das heutige Russland grausam und verbrecherisch in der Ukraine? Blut klebt auch an unsren Händen und unser Luxus ist auf Sklaverei gebaut (und wir geben sogar ganz offen zu, dass wir eher weiter Blut vergießen, als nur auf den geringsten Teil dieses Luxus Verzicht tun wollen), wir lassen Flüchtlinge im Mittelmeer ersaufen, wir handeln mit China oder Katar, richten in letzterem eine Fußball-WM aus, dieweil wir wohl wissen, dass für diese rund siebentausend Menschen ums Leben gekommen sind, zerstören das Klima und damit die Lebensgrundlage der jungen Generation… – wir haben wahrlich keine Ursache, unsere Politik als moralisch überlegener hinzustellen: Aber darin liegt doch der Unterschied zwischen dem noch so unvollkommenen, diktatorischen und verbrecherischen Notstaat einerseits und der Despotie andererseits: dass der erstere die Möglichkeit seiner eigenen Besserung gewährt, vorzüglich durch das Recht der Denkfreiheit, wodurch ein jeder die Wahrheit suchen und verbreiten, Kritik üben und Besserung auf den Weg bringen kann; wohingegen die Despotie aktiv jede Verbesserung zu hindern und den unvollkommenen Zustand zu verewigen sucht und eben hierdurch erst, nicht durch ihre sonstigen Verbrechen, böse über alle Beschreibung wird. – Aus diesem Grunde übrigens sind alle zu verurteilen und zu bekämpfen, die die Denkfreiheit und den öffentlichen Dialog bekämpfen. Es sei, dass sie, wie es von rechts geschieht, nur auf ihrer Freiheit beharren, jede verkehrte Meinung in die Welt zu posaunen, aber über Verletzung dieser Freiheit klagen, wenn man ihnen nur widerspricht und sie eines Bessren belehrt, d. h. dass sie also gerade verbieten wollen, dass man mit ihnen in Dialog trete und sie berühre; es sei, wie es von links geschieht, dass man jeden cancelt, der es wagt, ein unanständiges Wort zu sagen und nur um Haares Breite von den herrschenden Dogmen und Benimmregeln abzuweichen, und durch seinen Tugendterror Angst und Konformität zu erzeugen sucht. Solche wollen sicher nicht die Aufklärung und den steten Fortschritt des Staates, die eben das freie miteinander Reden und Streiten brauchen, sie wollen den Despotismus – versteht sich, jedes Mal ihren Despotismus und nicht den der anderen, gegen den sie freilich die Losung Freiheit gerne im Munde führen werden. 

3 Das sollte eine Selbstverständlichkeit sein und doch erwähnen die Leute dessen nie, sondern machen sich zu absoluten Opfern: Ich müsse den Verfolger anlügen, wenn er mich fragt, ob der Verfolgte, den er töten will, bei mir Unterschlupf gefunden hat, heißt es im schon von Kant und Fichte aufgelösten moralischen Dilemma – aber lügen soll ich eben nicht; wohl mag er, wenn ich wahrheitsgemäße Auskunft gebe, auf den Verfolgten losgehen, aber nun muss ich ja nicht tatenlos daneben stehen, sondern wir können zu zweit uns gegen den Verfolger zu verteidigen suchen. Mein Großvater hätte im Zweiten Weltkrieg für die Wehrmacht kämpfen müssen, wurde und wird er verteidigt wie so viele andere – aber für die Nazis kämpfen soll ich eben nicht; wohl mögen diese, wenn ich den Kriegsdienst verweigere, mich zu strafen suchen, aber dies muss ich ja nicht ruhig geschehen lassen, sondern kann unterzutauchen und zu fliehen versuchen. Ohne fossile und atomare Energie breche unsere Wirtschaft zusammen, sagt man uns – aber fossile und atomare Energie nutzen sollen wir eben nicht; doch müssen wir ja nicht die alten Kraftwerke abstellen und dann im Dunkeln sitzen, wir können stattdessen regenerative Energie erzeugen. Man komme doch weg vom ewigen Irrtume, nach einer einzigen guten Tat bliebe einem nichts, als sich hinzuhocken und Däumchen zu drehen und alles mögliche folgende Übel nun geschehen zu lassen!

4 Greta Tintin Eleonora Ernman Thunberg: Rede bei der UN-Klimakonferenz in Madrid am 11.12.2019.

5 Es ist kein Zufall, dass gerade die Verschwörungstheoretiker, die glauben, als einzige durchschaut zu haben, wie wir alle belogen und benutzt werden, der wahrhaften Verschwörung auf den Leim gegangen, dass gerade sie die nützlichen Idioten sind, die als einzige nicht durchschauen, wie sie belogen und benutzt werden. Irgendwoher muss ihr Wahn ja kommen, niemanden kennen sie besser als sich selbst, ja als die Egozentriker, die sie sind, kennen sie wirklich niemanden als sich selbst, ohne Zweifel ist es also diese Selbstkenntnis, die sie auf andere übertragen. Wie ja fast immer die Menschen durch das, was sie anderen vorwerfen und unterstellen, nichts über diese anderen, aber alles über sich aussagen. 

6 Johann Gottlieb Fichte: Die Bestimmung des Menschen. Drittes Buch. II.