Die Bestimmung des Menschen ist ein kleines Büchlein Fichtes, das an einem wichtigen Wendepunkt seines Lebens entstand:

1794 hatte Fichte, kurz zuvor schlagartig bekannt geworden in der Gelehrtenrepublik, nachdem sein Erstlingswerk anonym erschienen und zunächst für eine Schrift Kants gehalten worden war, eine Professur in Jena angetreten. Und er hatte mit der Ausarbeitung der Wissenschaftslehre begonnen, dem vollendeten System der Philosophie. Die nächsten Jahre widmete er der Vertiefung der Wissenschaftslehre. Auch verfasste er eine Rechts- und eine Sittenlehre, die auf deren Prinzipien aufbauten. Er war der leuchtende aufsteigende Stern am Himmel des deutschen Geistes, Friedrich Schlegel zählte seine Wissenschaftslehre neben der Französischen Revolution und Goethes Wilhelm Meister zu den drei großen Tendenzen des Zeitalters. So sehr Fichte aber vielfach bewundert wurde, so sehr wurde seine Philosophie von allen Obskuranten angefeindet. Und wieder und wieder wurde sie grob missverstanden, ja auch böswillig verfälscht, so sehr er gegen diese Missverständnisse auch anschrieb.

1798 und 1799 kam es zum sogenannten Atheismusstreit: Zwei Aufsätze, einer davon von Fichte, im von ihm mitherausgegebenen Philosophischen Journal wurden des Atheismus bezichtigt. Das war absurd, denn in Wahrheit waren Fichtes Gegner die Atheisten und war er vielleicht der einzig Religiöse in ganz Jena. Aber die Feinde der Aufklärung hatten nur auf diese Gelegenheit gewartet und fingen zu schreien an, aha! da hätte Fichte also endlich mit der Wahrheit herausgerückt und gezeigt, worauf seine Philosophie hinauslaufe! Der Streit ergriff die Gelehrtenrepublik, viele namhafte deutsche Gelehrte verteidigten Fichte. Aber zugleich fanden eine schmutzige Verleumdungskampagne und ein politisches Ränkespiel statt, auf deren Details einzugehen hier nicht der Ort ist (Wirtschaft war schon damals wichtiger als Wahrheit und Recht). Fichte hätte seine Stellung behalten können, hätte er sich demütig gezeigt und seine Prinzipien verraten. Er tat stattdessen seine Pflicht und beharrte auf der Wahrheit – und musste Jena 1799 verlassen.

Nun entstanden zwei populäre Schriften: 1800 Die Bestimmung des Menschen, 1801 sein Sonnenklarer Bericht an das größere Publikum über das eigentliche Wesen der neuesten Philosophie. Populäre Schriften waren dies, sage ich: In der Bestimmung des Menschen heißt es: „Das Buch ist sonach nicht für Philosophen von Profession bestimmt“¹ Die beiden Bücher waren an die größere Öffentlichkeit gerichtet. Sie waren ein Versuch Fichtes Missverständnisse in Bezug auf seine Philosophie, darunter auch, aber keineswegs nur das Missverständnis, er lehre den Atheismus, auszuräumen und das aufklärerische Anliegen derselben darzustellen. Insbesondere die Bestimmung des Menschen ist das Buch, in dem in gewisser Weise Fichtes Denken seiner ersten Jahre als Philosoph kulminiert. Er selbst spricht es aus, wenn er von den Philosophen von Profession sagt, „diese werden nichts in demselben [Buche] finden, was nicht schon in anderen Schriften desselben Verfassers vorgetragen wäre.“² Tatsächlich handelt es sich um eine wunderbare Zusammenfassung des fichteschen Denkens bis zu diesem Zeitpunkte – aber auch wohlgemerkt nur bis zu diesem. Nachdem auch diese beiden populären Werke nicht dazu führten, dass man wenigstens zur Kenntnis genommen hätte, was die Wissenschaftslehre sei und was sie nicht sei, gab Fichte das Publikum weitgehend auf und widmete sich ganz seiner Lehre; was wir an späteren Schriften von ihm besitzen, sind größtenteils von ihm gehaltene Vorlesungen. Obwohl Fichte seine Philosophie nun noch einmal vertiefte und erst jetzt die größten Höhen des Geistes erklomm, ist seine Philosophie nach der Bestimmung des Menschen fast völlig unbekannt. Seine beiden in der Philosophie berühmtesten Zeitgenossen, Schelling und Hegel, die beide wenig von dieser Schrift hielten, wandten sich hiernach gänzlich von Fichte ab und wähnten, jeweils über ihn hinaus zu sein, was sie doch schwerlich beurteilen konnten, ohne sein Tun und seine Entwicklung weiter zu verfolgen. Und auch heute liest, wer sich mit Fichte befasst, was bereits selten genug vorkommt, kaum etwas Späteres als die Bestimmung des Menschen. – Tatsächlich wird auch Früheres von Fichte heute so gut wie nicht gelesen: Oft genug nimmt sich jemand die kurze Bestimmung des Menschen vor und meint, hiermit den ganzen Fichte abtun zu können, obwohl sie, so gelungen sie ist, doch selbst mit dem frühen Fichte und seinem Denken keineswegs in Gänze vertraut macht.

So übel es ist, wenn einer meint, Fichte auf dieses Werk reduzieren zu können: dieses Büchlein ist mir doch sehr lieb und ich halte es für eine großartige Schrift. Es war das erste, was ich von Fichte las, und ich kann es auch anderen nur empfehlen, die einen Einstieg in das Werk des größten aller Philosophen suchen. Zugleich halte ich es auch für einen trefflichen Einstieg in die Philosophie überhaupt, denn Fichte diskutiert in den ersten beiden Teilen auch das Denken anderer Philosophen wie Spinoza, Leibniz, Descartes, Hume oder Kant, wenn auch, da das Werk kein gelehrtes sein soll, ohne sie namentlich zu erwähnen. Die Bestimmung des Menschen ist so schlicht und eingänglich geschrieben, wie das bei einem philosophischen Werk nur möglich ist. Sie setzt nichts voraus, als nur, dass ihr Leser der deutschen Sprache mächtig ist. Sie „sollte verständlich seyn für alle Leser, die überhaupt ein Buch zu verstehen vermöchten.“³

Die Bestimmung des Menschen teilt sich in drei Abschnitte: Zweifel, Wissen und Glaube. Das Buch ist aus der Ich-Perspektive eines Menschen geschrieben, der, nachdem er schon einige Zeit auf dieser Erde gelebt und manches gelernt hat, das Philosophieren anfängt und über seine Bestimmung nachsinnt. Es zeichnet die Überlegungen eines solchen Menschen nach, wie sie „sich dem kunstlosen Nachdenken entwickeln müsste[n]“⁴. In jedem der drei Abschnitte gelangt das Ich zu gewissen Ansichten, die sich notwendig aus dem Gang seines Denkens, aus seinen Voraussetzungen usw. ergeben, es gibt sich jedoch nicht zufrieden mit den Ergebnissen der ersten beiden Teile, entdeckt deren Einseitigkeiten und denkt noch weiter. Fichte stellt eingangs klar: „Noch habe ich – für wenige zwar, zu erinnern, dass der Ich, welcher im Buche redet, keinesweges der Verfasser ist, sondern dass dieser wünscht, sein Leser möge es werden; – dieser möge nicht bloss historisch fassen, was hier gesagt wird, sondern wirklich und in der That während des Lesens mit sich selbst reden, hin und her überlegen, Resultate ziehen, Entschliessungen fassen, wie sein Repräsentant im Buche, und durch eigene Arbeit und Nachdenken, rein aus sich selbst, diejenige Denkart entwickeln, und sie in sich aufbauen, deren blosses Bild ihm im Buche vorgelegt wird.“⁵ Man sollte meinen, dieser Absatz ließe sich nicht überlesen oder fehldeuten, zumal die ganze Vorrede, in der er vorkommt, nur eine Seite lang ist und also keinen überfordern sollte. Ich halte es dennoch für nötig, hier noch einmal zu betonen: Das Ich im Buche ist nicht Johann Gottlieb Fichte, der Leser soll es sein, denn er soll sich nicht nur passiv über irgendein ihm fremdes System belehren lassen, das Buch soll ihm nur Hilfe und Stütze sein bei der Entwicklung der eigenen Gedanken; und was im Buche steht, das ist nicht ein fertiges System, was vor allem für die ersten beiden Abschnitte, aber selbst noch für den letzten gilt, das ist nicht etwa der fertige Standpunkt des Johann Gottlieb Fichte, sondern es ist eine Entwicklung, ein lebendiges und sich selbst stets höher hinaus führendes Denken.⁶

Ich besuchte einmal ein Seminar, in dem die Bestimmung des Menschen besprochen wurde, und verfasste dort Ende 2015 die nachfolgende Hausarbeit, darin ich zu zeigen suchte, dass die Bestimmung des Menschen in erster Linie ein Aufklärungsbuch ist, dass der Prozess, den das Ich darin durchläuft und von dem Fichte wünscht, dass auch der Leser ihn durchlaufe, der Prozess der Aufklärung ist. Außerdem – ich denke beim Schreiben stets daran, wer mein Leser ist, und formuliere meine Texte entsprechend, und so waren meine akademischen Arbeiten auch oftmals Angebote an die sie korrigierenden Dozenten, sich aufzuklären und ihren Horizont zu erweitern, auch wenn viele diese Angebote ausschlugen – suchte ich den Dozenten, der eine recht wegwerfende Meinung von Fichte und seiner Schrift hatte, sich selbst dabei aber zugleich für einen besonders kritischen und eigenständigen Geist hielt, darauf hinzuweisen, dass seine Ablehnung Fichtes eine Ablehnung der Aufklärung und gerade jener Vernunft war, die er sich auf die Fahne schrieb. Insbesondere im Fazit sprach ich ihn und seine Ignoranz an. Dies aber ging an meinem Dozenten völlig vorbei, ja er glaubte am Ende eher noch, in mir einen möglichen Komplizen gefunden zu haben, und zog aus meiner Arbeit und dem Nachweis, dass Fichte ein Aufklärer war, nicht die Konsequenz, dass er Fichte mit weniger Ablehnung begegnen sollte, sondern dass ich offenbar, ganz wie er übrigens, auch skeptisch gegen die Aufklärung sein müsste, denn etwas anderes schien er sich schwerlich vorstellen zu können.

Als ich diese Arbeit verfasste, hatte ich noch keine umfassenderen Kenntnisse Fichtes, das ist zu merken. Ich hätte sonst manches anders formuliert, hätte schon in der Einleitung ganz anders dargestellt und belegt, dass Fichte ein Aufklärer war.

Auch die Aufklärung selber erarbeitete ich mir damals erst und hatte meine Begriffe derselben noch nicht vertieft. Dies wird in der Fußnote 32 deutlich, wo ich noch offen lasse, welches das Verhältnis von Faulheit und Feigheit ist, den beiden Ursachen, die Kant für die Unmündigkeit nennt, eine Frage, die ich damals noch nicht für mich geklärt hatte, während ich sie später in meiner Bachelorarbeit dann zu beantworten wusste. Anderes ist bestenfalls zur Hälfte dem geschuldet, dass ich noch nicht jenes tiefe Aufklärungsverständnis hatte, das ich heute besitze, und kommt mehr daher, dass ich in einer akademischen Arbeit wie dieser und zumal bei jenem Dozenten vorsichtig und diplomatisch sein musste. So mag sich die Arbeit mitunter lesen, als wäre Aufklärung etwas rein Formales, als käme es nur auf das Selbstdenken an und als wäre der Inhalt dieses Denkens ganz gleichgültig. Das ist nur wahr auf einer gewissen niederen Ebene der Aufklärung, über die ich schon damals hinaus war, auch wenn ich erst drei Jahre später in meiner Bachelorarbeit belegen sollte, dass aus dem selbstständigen Denken auch ein ganz bestimmter Inhalt erfolgt.

Fragte man mich, was an dieser Arbeit ich heute am ehesten ändern würde, so würde ich antworten: Was ich über die Vernunft schrieb. So sage ich unter 2. beispielsweise: „Wer dem Leben mündig begegnet, mag sich der eigenen Rationalität bedienen, wo andere blind auf fremde Autorität vertrauen. Doch die Entscheidung für diese aufgeklärte Haltung liegt selbst vor jeglicher Rationalität, was sie veranlasst oder hemmt, ist nicht die Vernunft, sondern das Ich und sein eigener Mut.“ Das ist dem Geiste nach wahr, ich rücke heute ebenso wenig davon ab wie von irgendeinem anderen Satz dieser Arbeit. Aber ich würde, sollte ich denselben Geist heute ausdrücken, einen etwas anderen Buchstaben wählen. Das intensive Studium Fichtes, Kants und der gesamten kritischen Transzendentalphilosophie lag zum damaligen Zeitpunkt noch vor mir, entsprechend unbestimmt war mein Vernunftbegriff. Spreche ich hier von Vernunft oder Rationalität, ist eher eine irdische Verständigkeit gemeint, ja komme ich dem nahe, was die Wirrationalen unter Vernunft verstehen, wenn sie sich für vernünftig erklären. Dessen sollte jeder eingedenk sein, der die nachfolgende Schrift liest. Wahre Vernunft geht dem Ich, von dem ich im obigen Zitat spreche, voraus, ist doch dieses Ich bereits Bild der Vernunft.

Lautete die Frage hingegen, was ich auch heute für gelungen und bedeutsam an dieser Hausarbeit halte, so würde ich antworten, es ist gerade jener Teil dieser Arbeit, mit dem ich mich gegen alle Wirrationalen und Ausgeklärten und ihr Vorurteil für das Wissen stelle, von dem sie gar nicht merken, wie es ungegründet in der Luft schwebt: es ist also mein Herausarbeiten der wichtigen Rolle des Glaubens, der nicht etwa unaufgeklärt oder gar antiaufklärerisch, sondern dessen Eingeständnis und bewusste Wahl zutiefst aufgeklärt ist. Insbesondere den Beginn von 5.2 halte ich nach wie vor für gelungen, wo ich schreibe: „Wichtig ist zunächst, festzustellen, dass von einer Wendung zum Glauben zu sprechen, eigentlich unrichtig ist: ‚Wir werden alle im Glauben geboren‘, stellt das Ich fest. Ausführlich zeigt Fichte in der Bestimmung des Menschen, dass letztbegründetes Wissen unmöglich ist und dass jedes Wissen für sich genommen notwendig in den Nihilismus führt. Es bedürfe stets neben dem Wissen noch des Glaubens, des ‚Entschluß[es] des Willens, das Wissen gelten zu lassen.‘ Das Ich verwirft nicht einfach das Wissen und wählt an seiner statt den Glauben, es erkennt vielmehr, dass das, was es für Wissen hielt, immer schon Glaube war. Dies aber bedeutet, dass die vermeintliche Hinwendung zum Glauben nicht einfach eine Absage an das Wissen und ein Aufgeben, sondern ein Akt der Selbstehrlichkeit ist: Die eigentliche Wendung besteht im Abwerfen des Vorurteils, das den Glauben mit Wissen verwechselte. Selbstehrlichkeit und das Freimachen von Vorurteilen aber sind zutiefst aufklärerisch. Wer im Wissen verbleibt und dennoch nicht im Nichts endet, der betrügt sich selbst, wie das Ich bemerkt, dessen Wissen fußt letztendlich auf einem unbewussten Glauben. So jemand aber ist offensichtlich nicht mündig.“ Ich glaube, hiermit in dieser Hausarbeit aus einem neuen Blickwinkel gezeigt zu haben, weshalb in der Wissenschaftslehre der Primat der Praxis gilt – etwas, das als Faktum zwar durchaus bekannt ist und immer mal wieder in Überblicken über die Philosophiegeschichte genannt wird, das aber über das Auffassen als historisches Faktum hinaus bis dato kein Philosophologe wirklich durchdrungen haben dürfte. Zugleich meine ich, hier einen Anknüpfungspunkt dargestellt zu haben, von dem aus sich leicht eine Brücke zum frühen Nietzsche und dessen Gedanken über den Genius und die Illusionen schlagen lässt.

 

Die Aufklärung in der Bestimmung des Menschen – Fichtes Schrift als Beschreibung des Aufklärungsprozesses

1 Johann Gottlieb Fichte: Die Bestimmung des Menschen. Vorrede.

2 Ebd.

3 Ebd.

4 Ebd.

5 Ebd.

6 Ich wurde darüber belehrt, dass es nötig ist, diese beiden Umstände, die eigentlich selbst dem tumbesten Leser deutlich sein sollten, als zentralst hervorzuheben, als ich erleben musste, wie mein Onkel das Ich mit Fichte gleichsetzte und das Buch schon deshalb verwarf, weil der im ersten Teile an dieses und jenes glaube, was ganz falsch sei – und weil mein Onkel, Studiendirektor i. R., sich in zwei geschlagenen Stunden hiervon nicht abbringen ließ und auch hinterher noch darauf beharrte, er habe das Buch verstanden.