Was waren die Menschen einst doch dumm, ignorant und abergläubisch! Man hat doch früher, im Mittelalter tatsächlich an eine flache Erde geglaubt!

Dies ist das Vorurteil. Es ist gänzlich falsch.

Die Kugelgestalt der Erde war schon den antiken Gelehrten bekannt. Eratosthenes von Kyrene berechnete im 3. vorchristlichen Jahrhundert ihren Umfang schon recht genau. Und bereits Aristoteles brachte mehrere Argumente für eine runde Erde vor.

Gut und schön, mag man mir hier einwenden, das war in der Antike mit ihrer hohen Kultur und Bildung. Aber all dieses ging verloren, als das finstere Mittelalter über Europa hereinbrach. Und es war hier, dass man die Erde jahrhundertelang für eine Scheibe hielt! Nein, das tat man nicht. Hätte man im Mittelalter die Erde für eine Scheibe gehalten, der Reichsapfel, der die Welt symbolisiert, wäre wohl eher ein Reichspfannekuchen gewesen. Alle gebildeten Menschen des Mittelalters wussten um die runde Form der Erde. Nicht willkürlich habe ich unter den vielen antiken Autoren, die ich als Beleg hätte nennen können, gerade Aristoteles ausgewählt: Der scholastische Lehrbetrieb an Europas Universitäten war bis zur Renaissance vor allem aristotelisch geprägt, es gab von der Bibel abgesehen vielleicht wenig, das solche Autorität genoss wie das Wort des Aristoteles. Ich brauche hier nur einen einzigen der mittelalterlichen Aristoteliker zu zitieren, Thomas von Aquin: „Eandem enim conclusionem demonstrat astrologus et naturalis, puta quod terra est rotunda, sed astrologus per medium mathematicum, idest a materia abstractum; naturalis autem per medium circa materiam consideratum.“¹ – Und Aquinas war nicht irgendjemand, sondern würde von vielen als wichtigster Theologe und Philosoph des Mittelalters bezeichnet werden.

Aber was war denn dann mit Kolumbus? höre ich sagen. Kolumbus zog keineswegs aus, zu beweisen, dass eine Umsegelung der Erde theoretisch möglich ist – hierüber gab es in seiner Zeit keinen Streit. Sondern das war die Frage, ob eine Weltumsegelung praktisch möglich sei: Wie groß der Umfang der Erde und die Ausdehnung Eurasiens nach Osten hin und wie weit die Reise folglich sei, darüber nämlich herrschte Uneinigkeit. Kolumbus nahm einen wesentlich kürzeren Weg nach China und Indien an als viele Gelehrte seiner Zeit. Der Witz war, dass es Kolumbus war, der irrte, während andere, die ihm widersprachen, mit ihren Einschätzungen, wie weit die Ostküste Asiens von der Westküste Europas entfernt sei, recht nahe an die Wirklichkeit herankamen; und wären Atlantik und Pazifik ein einziger großer Ozean, wäre kein Land zwischen der iberischen Halbinsel und dem japanischen Archipel, kein Schiff jener Tage hätte eine solche weite Reise unternehmen können und Kolumbus und seine Männer hätten all ihre Vorräte aufgebraucht und wären auf See umgekommen, lange ehe sie ihr Ziel erreicht hätten. Nur dass dort, wo Kolumbus bereits Asien vermutete, tatsächlich Land lag, wenn auch nicht das asiatische, sondern das amerikanische, rettete ihn.

Es ist also nur ein Vorurteil, wenn jemand meint, im Mittelalter hätte man an eine flache Erde geglaubt und erst Kolumbus hätte diesen Irrglauben widerlegt. Aber, mag nun irgendein belehrter Leser einwenden: Es ist doch kein sehr bedeutsames Vorurteil. Meinethalben, mag er sagen, so habe ich mich also bisher getäuscht und weiß es nun besser, aber letzten Endes ist es doch ohne große Relevanz, was die Menschen vor Jahrhunderten geglaubt haben oder nicht. Nun, ich sehe das anders. Nicht nur, weil es dem Menschen, „so gewiss er moralisch denkt, nicht gleichgültig seyn [kann], ob er irre oder nicht“.²

Zunächst halte ich gerade die Aufdeckung dieses Vorurteils für geeignet, uns stutzen zu machen: Dass man die Erde im Mittelalter für eine Scheibe hielt, das weiß jeder. Es gehört wohl zu den verbreitetsten historischen Irrtümern. Es ist ein Irrtum, der kaum an den Ausbildungsgrad eines Menschen gebunden ist und dem Akademiker ebenso aufsitzen wie Hauptschulabsolventen. Ein jeder von uns hat dies als Kind gehört, hat es schon in irgendwelchen Kindersendungen oder in der Schule gelernt. Jawohl, der Schule: Eine Untersuchung deutscher und österreichischer Schulbücher ergab, dass nicht nur einige, sondern dass die meisten von ihnen den Schülern diesen Unsinn weismachen. Und soll man etwa annehmen, die Lehrer wüssten es besser und würden die Bücher korrigieren, aus denen sie unterrichten? Es ist nicht glaublich. Lehrer sind keine Fachleute, keine Menschen, die gründliche gelehrte Kenntnisse ihres Gegenstandes besitzen, es sind Leute, die einige wenige Semester oberflächlichstes Wissen über ein Fach ansammelten und die Universität wieder verließen, ehe sie Zeit gehabt hätten, ihr Studium desselben zu vertiefen. Von Allen, die von einem Stoff Ahnung haben, hat gewöhnlich niemand so wenig Ahnung als der Lehrer. Und Schulbuchautoren sind nicht besser, oder sollte man glauben, dass diese Werke etwa von großen Historikern verfasst werden? Der Lehrer sieht es nicht gerne, wenn sein Schüler in einem Vortrag Wikipedia zitiert, aber die Wahrheit ist, dass er keine seriösere Quelle zitiert hätte, hätte er aus seinem Schulbuch zitiert.³ Wobei ich betonen will, dass nicht nur Lehrer und Schulbuchautoren dieses Vorurteil nach wie vor verbreiten, selbst in den Werken von Historikern, durchaus auch Werken jüngeren Datums, oder in den Äußerungen von Professoren fällt immer mal wieder das Wort vom einstmaligen Glauben an die flache Erde. Doch um noch einmal von der soeben erwähnten Studie zu sprechen: Diese kam nicht nur zu dem Ergebnis, dass die Mehrzahl der Schulbücher für den Geschichtsunterricht heute Falsches lehrt, sondern dass falsche Darstellungen seit der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts in den Schulbüchern immer mehr zugenommen haben und die dortigen Darstellungen immer fiktiver geworden sind. Das gilt nicht nur für die Mär vom Glauben an die flache Gestalt der Erde. Von der geringen Lebenserwartung der damaligen Menschen über ihre Ungewaschenheit bis hin zum Bild, sie alle wären prüde Frömmler gewesen, die keusch bis zur Ehe lebten und in einem fort Hexen verbrannten – so gut wie alles, was man sich heute unter dem Mittelalter vorstellt, hat es entweder nie oder erst irgendwann in der Neuzeit gegeben oder es ist wenigstens grob verzerrt. Möglich, dass ich künftig über weitere das Mittelalter betreffende Vorurteile schreibe, doch jenes vom Glauben an die flache Erde, das sich so hartnäckig hält, scheint mir gut geeignet, exemplarisch für sie alle zu stehen. Und was irgendwelche Dokumentationen mit ihren lächerlichen Spielszenen oder eben Schulbücher mit ihren altklugen, kindgerechten Texten erzählen, das ist oft nicht näher an der Wahrheit dran als das, was man aus einem Computerspiel oder einem Fantasyfilm lernen mag. Gut erinnere ich mich, wie ich einem mir bekannten Schüler mit seinen Geschichtshausaufgaben half, als er in der 7. oder 8. Klasse gewesen sein mag, und wie er da einen Text zu lesen und zusammenzufassen hatte über das typische Leben eines mittelalterlichen Mädchens, der wohl besonders anschaulich sein und es den kleinen Schulkindchen besonders leicht machen sollte, sich in dieses Mädchen hineinzuversetzen, der aber vor lauter Anschaulichkeit so wenig Wahrheitsgehalt hatte wie gewisse Spiegel-Reportagen. Da hatte Einer geschrieben, was er sich unter dem Mittelalter vorstellte, nicht Einer, der je auch nur ein ernsthaftes Buch über das Mittelalter gelesen hatte. Mit so etwas wurden die Schüler unterrichtet (ich kannte die Lehrerin aus meiner eigenen Schulzeit und zweifle nicht, dass sie an diesem Arbeitsblatt, das ich in der Luft hätte zerreißen mögen, nichts auszusetzen fand)! Die Aufdeckung dieses Vorurteils, sagte ich, kann uns stutzen machen: Wenn etwas uns so Selbstverständliches falsch ist, was alles mag es noch sein? Wenn Schulbücher, Lehrer, Dokumentationen und Dergleichen hier Falsches lehren, wenn selbst viele vermeintliche Experten die Wahrheit nicht kennen, obwohl die oberflächlichste Suche im Internet sie bereits zutage fördert, was noch mag alles Unsinn sein? Man sinne darüber einmal nach und beschränke sich nicht auf den Bereich der Geschichte: Wie vieles, was man, was auch der Arzt für selbstverständlich gesund oder für ungesund hält, ist es z. B. nachweislich nicht? Wer vor dem Lesen dieser Zeilen noch glaubte, die Menschen im Mittelalter hätten ihre Welt für eine Scheibe gehalten, der sei doch künftig vorsichtiger und kritischer mit all seinem Wissen. Er sei dies insbesondere dann, wenn er es an andere weitergibt, erst recht, wenn er dies in einer Position wie der eines Lehrers tut, aber auch dann, wenn er es als Privatmann gegenüber seinen Freunden oder Kindern oder in irgendeinem Internetforum oder wo immer sonst tut: Er halte ruhig dann und wann inne, er sei so gewissenhaft und aufrichtig, sich ab und zu zu fragen: „Weiß ich dies eigentlich tatsächlich oder glaube ich nur, es zu wissen?“, er scheue sich auch nicht, einmal Dinge nachzuschlagen, über die er bereits Bescheid zu wissen wähnt, sofern er sich selbst nicht Rechenschaft darüber abzulegen vermag, woher er denn Bescheid weiß, bzw. solange dieses Woher keine glaubwürdige Quelle ist (alles in der Schule Gelernte ist dies nicht). Dieses Vorurteil als Vorurteil zu erkennen, ist ebenfalls geeignet, um bescheiden zu stimmen, denn wenn wir uns so gravierend in dieser Sache täuschen, welches Recht haben wir noch, über die Täuschungen, über die Unbildung Anderer uns auszulassen? So hält der Deutsche sich gerne für gebildeter und aufgeklärter als den US-Amerikaner. Seit der letztere seinen momentanen Präsidenten gewählt hat, hat dieser plumpe Rassismus – als ob der US-Amerikaner nicht genug Möglichkeiten böte, gegen ihn einen feineren Rassismus zu entwickeln – eine neue Hochphase: Ob von meinem Onkel, ob in der Unterhaltung zweier Mitfahrgäste im Zug, besonders vonseiten der deutschen Akademiker wurde ich seither alle Nase lang mit einem überheblich-abgeklärten: Jaja, die Amerikaner, die seien eben alle so dumm und ungebildet, die hätten solch eine schlechte Schulbildung, belästigt. Vielleicht sind sie dumm und ungebildet und haben solch eine schlechte Schulbildung. Tatsache jedenfalls ist: Während die deutschen und österreichischen Schulbücher seit der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts immer wilder ausgeschmückte Fiktionen verbreiten und immer öfter die Mär vom Glauben an die flache Erde erzählen, ist diese in den vergangen Jahrzehnten aus US-Schulbüchern mehr und mehr verschwunden.

Wir können, haben wir dieses Vorurteil einmal als solches erkannt, zudem eine wichtige Lektion lernen, wenn wir an die heutigen Flacherdler denken: Deren Verschwörungstheorien müssen uns nun noch um ein Vielfaches amüsanter scheinen, denn während sie glauben, eine moderne Lüge aufgedeckt zu haben und zu der jahrhundertelang bekannten Wahrheit zurückgekehrt zu sein, sind sie es vielmehr, die einer modernen Lüge aufsitzen, wenn auch einer anderen als die ist, von der sie reden: Dieses Vorurteil nämlich ist eine Erfindung des 19. Jahrhunderts (wie beinahe alles, was auf Erden schlecht und verlogen ist, könnte man mitunter meinen), worauf ich sogleich noch zu sprechen kommen werde. Hören wir einmal auf zu lachen und schauen wir wachen Blicks hin: Dann kann uns auffallen, dass dies ganz in der Ordnung ist bei allen Konservativen und ähnlichen Lebensverweigerern: Unaufgeklärte sind gar nicht fähig, sich mit irgendetwas zu beschäftigen, das nicht sie selbst sind, und sich irgendetwas vorzustellen, das nicht der jetzige Moment ist; dass sie je eine andere Epoche betrachten und sich auf ihre Andersheit einlassen, muss man nicht glauben. Wenn sie meinen, in irgendeine bessere Vergangenheit zurückzukehren, irgendeine „Ursprünglichkeit“ zu leben, so projizieren sie zumeist etwas sehr Junges und Zeitgemäßes in eine Vergangenheit, die ganz anders war, als sie sie in ihrer ideologischen Verblendung machen. Das betrifft gleichermaßen irgendwelche Daesh, die meinen, den wahren Islam irgendeiner glorreichen Vergangenheit zu leben, während sie doch von sehr modernen Begriffen und Denkmustern durchdrungen sind, nicht wenige davon von den westlichen Kolonialmächten übernommen und sehr viel eher christianischem Denken entsprechend als mohammedanischem (diese Rotznasen hätten nur einmal innehalten und sich fragen müssen, warum es die Ruinen von Palmyra, die sie sprengten, oder die nicht-mohammedanischen Jesiden, Christianer usw., die sie vertrieben, versklavten und abschlachteten, in den Regionen, in denen sie wüteten, überhaupt noch gab, wenn doch jeder wahre Moslem diese sprengen bzw. vertreiben, versklaven und abschlachten würde und diese Regionen über Jahrhunderte in den Händen wahrer Moslems gewesen waren), – das betrifft gleichermaßen hiesiges rechtes Gesocks, das einen ethnisch und kulturell reinen Staat zurücksehnt, den es niemals gab (schon gar nicht in Deutschland, in der Mitte Europas, wo sich Germanen, Romanen, Kelten und Slawen trafen und mischten, wo Juden und Zigeuner lebten, wo Hunnen, Mongolen und Türken einfielen, in Deutschland, dessen Kaiser mal in Böhmen, mal in Sizilien residierten und durch das die Heere Gustav Adolfs, Napoleons und Vieler mehr zogen), oder eine Familie aus arbeitendem Vater, kochender Mutter und Kindern, die es auch niemals oder nur in einer sehr kleinen Schicht in einer sehr kurzen Zeit gab (Arbeiter und Bauern hätten es sich gar nicht leisten können, ihre Frauen daheim zu lassen, und gemeinsame Plackerei macht die Menschen gleich).

Aber dieses Vorurteil aufzudecken ist nicht nur wichtig, weil wir daraus lernen können: über unsere Vorurteilbehaftetheit und Unbildung überhaupt und über das Wesen von Konservativen, die vor allem sich selbst täuschende LARPer sind: Es ist auch deshalb wichtig, weil dieses Vorurteil, wie alle Vorurteile, nicht aus dem Nichts geboren ist. Es ist vielmehr eine alte Propagandalüge, und solche gehören aufgedeckt und ausgerottet. Ich erwähnte schon, dass es vor allem das 19. Jahrhundert war, das diesen Irrglauben verbreitete (wenn es auch in früheren Jahrhunderten schon vereinzelt die Unterstellung gab, Diese oder Jene hätten an eine flache Erde geglaubt). Es hatte zwei Gründe, dies zu tun, die eng miteinander verwoben sind:

1. Drei Rassismen sind weit verbreitet, ohne dass je von ihnen gesprochen würde: Der gegen die Genien und Weisen, der gegen die Kinder und Jugendlichen und der gegen die Vergangenheit. Der letztere trifft keine Epoche härter als das Mittelalter und er ist es, dessentwegen dieses Vorurteil aufkommen und sich so lange halten konnte. Das finstere Mittelalter ist zu großen Teilen eine Erfindung des 19. Jahrhunderts. Und je finsterer und barbarischer es dieses hinstellte, als desto lichter und kultivierter konnte es sich selbst verkaufen. Es hatte diese Propaganda dringend nötig, war es doch ein Zeitalter der Verfinsterung. Der seit dem 19. Jahrhundert so starke Rassismus gegen die Vergangenheit ist eng verwoben mit der Ausklärung jenes Jahrhunderts: Frühere Jahrhunderte waren düster und abergläubisch gewesen, ohne jede Wissenschaft und ohne jede Zivilisation. Das 18. Jahrhundert hatte die Aufklärung gebracht und all dem ein Ende bereitet. Man selbst war nun durch die Aufklärung hindurch gegangen, man hatte sich vom alten Aberglauben frei gemacht, hatte nun die Wissenschaft, war fertig, war aufgeklärt, d. h. ausgeklärt, hatte es folglich nicht länger nötig, noch an sich zu arbeiten. Dies war die damalige Selbstgerechtigkeit, es ist auch noch die heutige. Die Vergangenheit hat keine Gruppe, die für sie Partei nimmt. Die politisch Korrekten, die doch so wackere Kämpfer gegen den Rassismus sind, scheren sich nicht darum, wenn dieser längst Tote und vergangene Kulturen trifft – zum klaren Beweise, dass es ihnen nicht um echte Menschenachtung, nicht um Vorurteilsfreiheit, nicht um offenes und differenziertes Hinschauen zu tun ist, sondern nur um Korrektheit eben, um Benimm und um Befindlichkeiten, welche freilich nur Lebende haben können: Sie sind eben Konsequentialisten, diese Korrekten, sie schauen nur darauf, ob jemand verletzt, nicht ob einer geachtet oder missachtet wurde, ja sie sind in ihrer Mehrheit so oberflächlich und so ohne alles sittliche Empfinden, dass sie ratlos und kopfschüttelnd vor diesen Zeilen sitzen und nicht verstehen werden, was denn diese Achtung überhaupt sein soll, bei der es nicht um das unmittelbare Befinden des Anderen geht, und was denn umgekehrt falsch daran sein soll, in der Ethik nach den Konsequenzen seines Tuns zu fragen. Nun, die Mühe, dies ihnen, die es eh nicht verstünden, auseinanderzusetzen, brauche ich mir nicht zu machen: Hätten sie daran Interesse, sie fänden es sehr anschaulich erklärt beispielsweise in Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Aber hoppla! Kant war ja ein böser Rassist und Sexist und ein alter weißer Mann obendrein. Hier zeigt sich: Die politisch Korrekten bekämpfen den Rassismus gegen die Vergangenheit nicht nur nicht, sie betreiben ihn selbst, wenn sie etwa Vorlesungen stürmen, weil Aristoteles, Rousseau oder Kant behandelt werden und diese nicht politisch korrekt genug waren oder wenn sie, wie ich gerade erst wieder las, sich beschweren, dass im Lateinunterricht Ovid gelesen wird, der doch von Vergewaltigungen schreibe. Es ist putzig, mit welcher Borniertheit und Blindheit diese Leute gegen die Vergangenheit wettern, weil sie nicht ihren Benimmregeln folgte – glauben sie denn, dass die Zukunft in zwei- oder dreihundert Jahren sie, die doch so anständig und korrekt sind, nicht gleichermaßen verurteilen wird, weil sie nicht den ganz anderen Benimmregeln jener Zukunft entsprachen? Nein, das glauben sie nicht, so weit denken sie nämlich gar nicht. Sie sind dem Moment verhaftet wie alle Unaufgeklärten. Sie verabsolutieren die Moralvorstellungen ihrer Ideologie, sie sind so fern selbst der oberflächlichsten negativen Aufklärung, dass sie es nicht einmal zu einem trägen Relativismus gebracht haben. Aber die Unaufgeklärtheiten des Feminismus sind hier nicht mein Gegenstand, schließlich soll dieser Beitrag sich nicht zu einem Buche ausweiten. Nur den Rassismus gegen alles Frühere, nur die Überheblichkeit der Gegenwart wollte ich anprangern. Der Erkenntnis wie der Moral nach dünken wir uns über die Vergangenheit erhaben. „Die haben die Erde für flach gehalten, haha, was für Trottel! Und wenn sie krank waren, dann waren ihre Antwort auf alles, vom Schnupfen bis zur Beulenpest, Blutegel, hihi! Und böse waren sie obendrein! Haben Frauen unterdrückt! Und hatten noch nicht so eine tolle liberale Demokratie wie wir! Pfui!“ Diese Haltung erhält sich selbst: Wenn die Vergangenheit schlechter war als die Gegenwart, dann hat sie uns Gegenwärtige nichts zu lehren. Wenn sie uns nichts zu lehren hat, dann brauchen wir sie nicht anzuschauen, das wäre ja nur verschwendete Zeit. Und wenn wir sie nicht anschauen, dann entdecken wir auch nicht, dass sie vielleicht in manchem doch nicht so schlecht war und uns noch einiges lehren könnte. Am Ende schadet dieser Rassismus also auch uns selbst: Wir berauben uns damit manch eines Schatzes, der uns heute bereichern könnte. Manch oberflächliches Herumgetappe und Herumgeirre könnten wir uns heute sparen, wenn wir wüssten, um wie vieles die Alten uns in gewissen Dingen voraus waren, und von ihnen lernten.⁴ Zu erfahren, dass die Menschen im Mittelalter wussten, dass die Erde rund ist, kann helfen, den Rassismus vor dieser Zeit abzulegen. Es kann auch helfen, gegen die eigene Zeit kritischer zu werden. Denn wir sind es doch offenbar, die hier einem offensichtlichen Unfug aufsitzen, und so mag jemand sich an die Stirne fassen und ausrufen: was sind wir doch dumm, ignorant und abergläubisch!

2. Das 19. Jahrhundert verbreitete dieses Vorurteil nicht nur als Propaganda gegen die Vergangenheit, sondern auch als Propaganda gegen Kirche und Religion. (Es versteht sich, dass beides eng verwoben ist: Die Vergangenheit war kultistischer als die ausgeklärte Gegenwart, wie also besser allen Kultus diskreditieren, als indem man die Zeit angreift, da er herrschend war?) Es waren wohl zunächst vor allem Protestanten, die dem Mittelalter unterstellten, es hätte nicht um die Form der Erde gewusst. Das Mittelalter war katholisch gewesen, diese Unterstellung diente als Angriff auf die katholische Kirche, die die Menschen über Jahrhunderte hinweg dumm und unwissend gehalten hätte. Aber rasch konnte hieraus ein Angriff auf Kirche und Kultus überhaupt gemacht werden. Wie stets war der Protestantismus hier die Vorstufe zum Atheismus (ein Satz, den weiter auszuführen hier nicht der Ort ist, aber wer an ihm Zweifel hegt, der schaue sich nur einmal an, welche Stellung die Kirche und der Kult in den katholischen oder auch orthodoxen Ländern nach wie vor haben, und der sehe sich hingegen um, in welchen Nationen der Atheismus am verbreitetsten ist, er wird, auch wenn ihm vielleicht das tiefere Verständnis für die Notwendigkeit dieser Verquickung abgeht, finden, dass es zwischen Protestantismus und Atheismus einen eben solchen Zusammenhang gibt wie zwischen Protestantismus und Kapitalismus). Es war nun die Zeit, da der Atheismus und die große Religionsfeindlichkeit aufkamen. Es war die Zeit, da Gibbon the Decline and Fall of the Roman Empire⁵ dem Christianismus in die Schuhe schob und Comte das auf das religiöse und das metaphysische folgende positivistische Stadium der Wissenschaft ausrief. Insbesondere die letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts und die ersten Jahrzehnte des 20. aber haben eine zunehmende Feindseligkeit zwischen Vertretern der Kirche und Vertretern des modernen akademischen Wesens und ihren jeweiligen Lehren gesehen. Der Streit entzündete sich oberflächlich vor allem an der Diskussion um den Darwinismus, aber in Wahrheit ging es um noch ganz anderes, etwa darum, wer die Hoheit über Schulen und Lehrbetrieb innehaben sollte. Damals wurde dann die Behauptung verbreitet, Religion und Wissenschaft seien unvereinbar, und die Kirche, die so gerne mit der Religion verwechselt wird, wurde zur ewigen Feindin der Wissenschaft erklärt. Es kam der Glaube auf, Kirche und Religion hätten zu jeder Zeit den Fortschritt bekämpft und aufgehalten und sich den empirischen Fakten verweigert. Der Konflikt rund um Darwinismus und Kreationismus wurde künstlich aufgebauscht (und erst dadurch verbissen sich gewisse Christianer so recht im Kreationismus) und vieles, das man in der Gegenwart erlebte, wurde zurückprojiziert: Auf Galilei und Kopernikus⁶ und auch auf Kolumbus und die Frage nach der Form der Erde, die in Mittelalter und Neuzeit überhaupt niemals eine Frage war. In Wirklichkeit danken wir alles, was wir an Wissenschaft haben, der Kirche, ohne deren Klöster und Universitäten es im Mittelalter gar kein gelehrtes Publikum gegeben hätte und die das Wissen und die Gelehrsamkeit vielfach gefördert und nicht etwa bekämpft hat. Es sind in diesem Falle ja die Wirrationalen von heute, die Wissen und Gelehrsamkeit bekämpfen, dagegen Mythen und Aberglauben befördern – denn wie sonst sollte man den Glauben ans finstere Mittelalter nennen, wenn nicht einen offenbaren Aberglauben? Erst vor einigen Tagen las ich in irgendeinem wegwerfenden YouTube-Kommentar, ja, ja, die Kirche hätte die Wissenschaft immer bekämpft und nicht anerkennen wollen, dass die Erde rund ist, bis sie es letztlich nicht mehr leugnen konnte, typisch eben für die Religion! Der so schrieb, weiß ja wohl, wenn er nur einmal selbstkritisch darauf reflektieren würde, dass das alles seiner Phantasie und seinen Vorurteilen entsprungen ist und dass er in Wahrheit keine Ahnung davon hat, seit wann die Kirche die Kugelform der Erde anerkennt. Und doch redete er so selbstsicher daher in seinem Eifer… Ist er nicht selbst gerade so abergläubisch und engstirnig, wie es die Religiösen nach seiner Meinung sind? Dieser zeitgenössische Atheismus ist doch wirklich das Kläglichste, was man sich auf Erden vorstellen kann. Wenn die Religion ein solcher Humbug ist, sollte er nicht auch ohne Lügen und Ignoranz spielend mit ihr fertig werden? (Es gab ja auch schon Ungläubige von anderem Kaliber, die zu einem differenzierten Blick fähig waren und die die wichtige Rolle anzuerkennen vermochten, die Kirche und Religion bei der Entwicklung hin zum modernen Europa und damit auch hin zu ihrer Freidenkerei gespielt hatten; man nehme nur Nietzsche oder Shaw.) Stattdessen macht er sich durch die fortdauernde Propagierung derartiger Vorurteile verdächtig: Wem es um Wahrheit zu tun ist, der verbreitet nicht derart hartnäckig die dumpfesten Lügen. Das tut, wer Ideologe ist und nur seinen Gegner verleumden will. Wenn aber den Atheisten die Verleumdung ihres Gegners wichtiger ist als die Wahrheit, wenn sie Wahrheiten lieber übergehen, die in ihr Weltbild nicht recht passen, dann kann ihnen die Wissenschaft nicht viel bedeuten, denn deren Wahlspruch muss immer lauten fiat veritas et pereat mundus⁷. Woraus sich ergibt, dass sie den Namen der Wissenschaft nur als Schlachtruf im Munde führen, während es ihnen um ganz Anderes geht (wie der Söldner im Dreißigjährigen Krieg heute unter dem Marienbild, morgen unter dem protestantischen Kreuz focht, wie es sich eben gerade anbot). Aber hier verlassen wir den Boden der Vorurteile und kommen auf die Lügen, und die gehören nicht in diese Kategorie.

1 „Der Astronom nämlich und der Naturphilosoph beweisen die gleiche Konklusion, z. B. dass die Erde rund ist, aber der Astronom beweist sie mittels der Mathematik, d. h. durch Abstraktion von der Materie, der Naturphilosoph hingegen aus der Betrachtung der Materie.“ (Tommaso d’Aquino: Summa Theologica. I, q. 1, a. 1, ad. 2.)

2 Johann Gottlieb Fichte: Das System der Sittenlehre nach den Principien der Wissenschaftslehre. Drittes Hauptstück. Zweiter Abschnitt. §. 18. V.

3 Hier sieht man, was von der Schulpolitik der deutschen Länder zu halten ist. Denn kein Bildungsministerium unternimmt irgendwelche Anstrengung, den Schülern bessere Schulbücher zur Verfügung zu stellen. Doch über derlei wird kaum gesprochen, man belässt es bei Klagen über schmutzige Schulklos und über den häufigen Ausfall von Unterricht, der, wie er dermalen nun einmal ist, gar nicht oft genug ausfallen kann.

4 Gerade erst kam mir ein Artikel unter, der sich mit der Klimakrise und dem ewigen Streit um Verbote und dem Gekreische über den Verlust von Freiheit befasste. Die Kommentare waren voller Lob, was für ein gelungener Artikel das sei. Ich muss traurigerweise eingestehen: Er war in der Tat gelungen, vergleicht man ihn mit dem, was sonst in solchen Artikeln gefaselt wird. Legt man aber einen weniger relativen und laxen Maßstab an, dann war er zum Haareraufen. Wir bräuchten einen neuen Begriff von Freiheit. Einen, der mit Selbstbeschränkung einhergehe. Freiheit dürfe nicht mehr nur Autonomie sein, die tut und lässt, was sie will. Und dann wurde irgendein Halbkopf von angeblichem Philosophen zitiert – wer eigentlich hat den zum Philosophen erklärt und nach welchen Kriterien? –, dass wir der Natur zu ihrem Schutze Eigentumsrechte geben sollten. Was sind das für verquere Begriffe von Autonomie? Von Recht und Eigentum? Von Natur? Der Artikelschreiber und der Philosophaster hätten lieber die Mäuler halten und die Kritik der praktischen Vernunft und die Rechtslehre studieren sollen. Darin ist alles gesagt, was über Freiheit und Eigentum zu sagen ist, auch in Bezug auf die Umweltfrage. Und was dort gesagt ist, ist strenge Vernunftwissenschaft, nicht loses Geschwätz von Menschen, denen keiner beigebracht hat, dass es sich nicht geziemt, seine Gedanken zu äußern, wenn man keine hat.

5 den Niedergang und Fall des römischen Reiches

6 Auch diese Debatte und die Verurteilung des ersteren waren komplexer, als man heute meint, auch hier war die Kirche keineswegs schlicht der böse Feind der Wissenschaft, doch hierüber müsste ausführlicher gesprochen werden, es ist dies ein Gegenstand für ein anderes Mal, einstweilen empfehle ich jedem Interessierten Hans Blumenbergs sehr gründliche Genesis der kopernikanischen Welt.

7 Es sei Wahrheit, und wenn darüber die Welt zugrunde gehe.