Zu den großen Fetischen unseres ausgeklärten Zeitalters gehört das Schlagwort Neutralität: Beständig wird sie eingefordert bzw. ihr vermeintlicher oder tatsächlicher Mangel angeprangert, beständig schmückt man sich auch selbst mit der Behauptung, man sei neutral. Die Medien sollen gefälligst neutral sein, hört man, Lehrer sowieso, und es wird Menschen grundgesetzwidrig das Ausüben dieser Tätigkeit verboten, weil man aufgrund eines Stücks Stoff um ihren Kopf einen Mangel von Neutralität befürchtet, auch sonst soll die Vermittlungen von Kenntnissen neutral geschehen, erwartet man Neutralität etwa von Geschichtsbüchern oder hat sich die Wikipedia beispielsweise Neutralität auf die Fahne geschrieben. Aber auch ganze Staaten wie die Schweiz berufen sich stolz auf ihre Neutralität. Und selbst dort, wo man es vielleicht nicht erwarten würde, meint man offenbar, dem Anspruch der Neutralität genügen zu müssen: So erlebte ich bei Fridays for Future in Berlin, also auf einer Demonstration, die für ein bestimmtes Anliegen eintritt und von der man doch meinen sollte, dass sie schon ihrem Wesen nach nicht neutral sein kann, dass man betonte, man sei politisch neutral.

Wer Neutralität heucheln kann, der erscheint damit sachlich, „objektiv“ (ein Wort, dessen wahre Bedeutung kaum jemand kennt und das fast jeder falsch benutzt), nüchtern, rational (lies: wirrational). Andererseits scheint das Gegenteil von Neutralität den Menschen heute Ideologie, Verblendung, Fanatismus und stets – man denke an Medien oder Lehrer, die in den Geruch kommen, nicht neutral zu sein – mit der Gefahr der Manipulation verbunden zu sein. Diese uns so wichtige Neutralität ist, historisch betrachtet, eher eine Anomalie als eine Regel: Niemand hätte im Mittelalter im selben Sinne den Anspruch erhoben, neutral zu sein, ein Werk damaliger Gelehrter verhielt sich beispielsweise in Glaubensfragen nicht neutral, sondern war christianisch. Aber noch in jüngerer Zeit wurde beispielsweise in der DDR von einer Zeitung nicht gefordert, dass sie neutral, sondern dass sie sozialistisch zu sein habe. Aber das eben hält man für die Errungenschaft unserer Zeit: dass wir uns eben zur Neutralität erhoben hätten. Man wird meine Beispiele gerade als Bestätigung nehmen, dass man, vor den Tagen der Neutralität, eben ideologisch war und die Menschen indoktrinierte.

Aber unsere vielbeschworene Neutralität ist eine Lüge, mehr nicht. Und damit meine ich nicht die, freilich sehr zahlreichen, Fälle, da man dem formulierten Anspruch gar nicht gerecht wird. So dürfte wenigstens die Hälfte der Lehrer recht offen, ja teils ganz offensiv die eigenen politischen oder weltanschaulichen Ansichten vertreten. Der Musiklehrer an meiner Schule, der gerne lang und breit mit den Schülern vom Kommunismus sprach und diesen anpries, der Biolehrer, der ganz offen alle Religion und alle Mythen verhöhnte und die Schüler zu seinem Atheismus zu bekehren suchte, der rassistische Lehrer, der seiner Klasse erklärte, er würde den Schülerinnen gerne die Kopftücher vom Kopfe reißen, die Lehrerin, die ihre Klasse recht eindringlich wissen lässt, wie wichtig der bevorstehende globale Klimastreik sei, – sie alle sind, das wird niemand bestreiten können, keinesweges neutral, und auch bei jenen Lehrern, die nicht gleich so weit gehen, ihre Schüler aktiv in eine bestimmte Richtung stoßen zu wollen, vergeht doch kaum ein Tag, ohne dass sie in Gesprächen im Unterricht oder in der Pause oder in der Hausaufgabenbetreuung usw. mal fallen lassen, dass sie den Angriff auf das Abtreibungsrecht in Amerika ja ganz schlimm fänden oder dass sie im Ukrainekrieg natürlich auf Seiten der Ukraine seien oder dass ihnen der Wahlsieg der italienischen Rechten Bangen mache oder dass sie Vegetarier seien und schon in den Achtzigern in den allerersten Bioläden eingekauft hätten, oder sich mit ihren Schülern über das jüngste Spiel der Weltmeisterschaft in Katar unterhalten, als wäre nichts dabei; ganz menschliche, ganz alltägliche, nicht auf aktive Beeinflussung abzielende (und übrigens nicht ausgedachte, sondern wirklich geschehene) Äußerungen also, derer sich eher eine Minderheit als eine Mehrheit enthält. All solches ist von derartiger Normalität, dass es weder den Schülern noch den Lehrern selbst sonderlich auffällt und dass niemand es hinterfragt. Jeder weiß eigentlich, dass es so ist, sobald er nur einmal wirklich darauf reflektiert – wir sind ja alle in der Schule gewesen, wir haben unsere Lehrer ja erlebt –, nur wird es eben als selbstverständlicher Teil des Schullebens hingenommen, niemand stört sich nennenswert daran, es wird darüber nicht debattiert und es gibt keine Anstrengungen, es zu unterbinden (ich selbst berichte hier ganz – neutral davon), solange, versteht sich, ein solcher es an Neutralität missen lassender Lehrer kein Kopftuch trägt.

Ich könnte hierüber ausführlicher schreiben, könnte den völligen Mangel auch nur des Scheins der Neutralität auch an anderen Orten, wo Neutralität gefordert wird, als nur der Schule beschreiben. Aber wie ich schon sagte: Um solche Trivialitäten, die ja auch jedermann selbst beobachten kann und sich nicht erst von einem Aufklärer erzählen lassen muss, geht es mir nicht. Sondern darum, dass auch dort, wo man sehr wohl den Schein von Neutralität wahrt, dies eben nur Schein ist: dass man hier nicht allein heuchelt, sondern nicht zuletzt sich selbst belügt – und es geht mir darum, dass man dem Anspruch der Neutralität nicht nur nicht gerecht wird, sondern auch gar nicht gerecht werden kann: Neutralität muss notwendig eine Lüge sein, denn Neutralität ist gar nicht möglich.

Ich will mit dem Beleg dieser letzteren Aussage beginnen, denn mit der Unmöglichkeit einer Sache ist zugleich ihre Unwirklichkeit bewiesen, und wer einmal eingesehen hat, dass Neutralität gar nicht möglich ist, dem können Berichte von tatsächlichem Fehlen von Neutralität nur noch beispielhafte Anekdoten sein, derer er gar nicht mehr bedürfte. Ich will diese Aussage auch sogleich wieder einschränken: Neutralität ist sehr wohl möglich – aber nur in einem gewissen und sehr begrenzten Rahmen. Spielen zwei Fußballmannschaften gegeneinander, so bin ich beispielsweise stets neutral, da ich mich für Fußball nicht interessiere, d. h. mir ist es gleichgültig, wer gewinnt, und ich juble weder dem einen noch dem anderen zu. Aber: Ich stehe ja auch nicht auf dem Platz. Wäre ich ein Spieler, wäre mir die Neutralität nicht möglich, denn entweder würde ich für meine Mannschaft spielen oder ich würde mich untätig auf den Rasen setzen, damit aber meine Mannschaft sabotieren und also der anderen indirekt helfen. D. h. Neutralität ist dort – und nur dort! – möglich, wo es nicht auf uns ankommt, wo wir weder eine noch die andere Seite unterstützen können bzw. keiner Seite schaden, indem wir sie nicht unterstützen. Wo immer wir aber für eine Seite uns entscheiden können, da müssen wir uns entscheiden und da heißt sich vorgeblich nicht entscheiden ebenfalls eine Entscheidung treffen. Diese Fälle sind aber in der Mehrzahl: Im Sport mag es nicht auf uns ankommen, im rechten Leben aber tut es das.

Wir sehen dies gut an politischen Wahlen, und es ist uns hier wenigstens einigermaßen bewusst: Deshalb wird Nichtwählern so gerne vorgehalten, sie würden Nazis stark machen. Dies ist freilich Unsinn oder zumindest einseitig und verkürzt, sie machen diese nicht stärker als andere Parteien auch. Auch sollte die Antwort darauf nicht sein, Alle zum Wählen anzutreiben oder gar per Gesetz einen Wahlzwang einzuführen, denn nicht zu wählen, muss eine mögliche Option sein, von keiner einzigen zur Wahl stehenden Partei überzeugt zu sein, ist legitim, ja kann sogar von mehr Charakter und Sittlichkeit zeugen, als wenn jemand utilitaristisch das kleinste Übel wählte: Es müsste daher eine „Partei der Nichtwähler“ eingeführt werden, wie etwa der Politologe Dittberner sie schon vor Jahren ins Gespräch brachte, sodass beispielsweise bei einer Wahlbeteiligung von 75% eben ein Viertel der Parlamentssitze leer bliebe, was ehrlicher wäre und den wirklichen Rückhalt oder vielmehr Mangel desselben für die Parteien und die Regierung deutlicher aufzeigen würde. Derlei wird aber so schnell nicht geschehen: Die Parteien, wenn sie eine solche Reform des Wahlrechts beschlössen, würden sich ja selbst um Mandate, Geld und Einfluss bringen, ja kleinere Parteien müssten fürchten, gar nicht mehr über die Fünfprozenthürde zu kommen, wenn sie nicht 5% der Wähler, sondern der Wahlberechtigten für sich gewinnen müssten. Und es gibt in diesen Dingen keine Gewaltenteilung, was auch niemanden zu stören scheint: die Gesetze, die die Wahlen betreffen, sind, ebenso wie etwa die, die Parteispenden oder Abgeordnetendiäten betreffen, in den Händen eben Derer, die unter ihnen stehen – sie werden sich nicht ins eigene Fleisch schneiden, wenn sie es vermeiden können. Und darum gilt bis auf Weiteres mehr denn je – aber selbst wenn die Nichtwähler, wie es sein sollte, in das Wahlergebnis mit einbezogen würden, gälte: Ich kann, sobald ich das Recht habe, an irgendeiner Wahl teilzunehmen, nicht neutral sein, denn meine Entscheidung für diese Partei, jenen Kandidaten oder auch für niemanden der Zurwahlstehenden bestimmt in jedem Falle über den Wahlausgang mit (selbst wenn ich nicht wahlberechtigt bin, kann ich durch mein Tun oder Nichttun eventuell Einfluss auf Wahlberechtigte um mich her ausüben; ich kann bei einer Wahl also nie neutral sein): So habe ich jüngst nach dem Wahlsieg der italienischen Rechten gehört, eine Mehrheit der Italiener wäre für ein „offenes Italien“, denn nicht nur wären die Rechten von der Hälfte der tatsächlichen Wähler nicht gewählt worden, fast 40% der Wahlberechtigten wäre gar nicht erst zur Wahl gegangen und unterstütze also nicht die Rechten. Aber es ist nur das Wunschdenken des humanistischen Journalisten, das diese 40% ins Camp derer setzte, die ein „offenes Italien“ wollen: wäre ihnen dieses so wichtig gewesen, wären sie ja nämlich zur Wahl gegangen. Dass die Rechten siegen würden, das war schon eine Weile vorher abzusehen gewesen und geisterte als Schreckensszenario durch die Medien. Wer es wirklich hätte verhindern wollen, der hätte durch diese düstere Aussicht motiviert werden können, doch an der Wahl teilzunehmen und ihre Gegner zu stärken. Wer dies nicht getan hat, scheint, wenn schon kein glühender Anhänger der Rechten, so doch jemand zu sein, der sie für so übel nicht hält. Aber nochmals: Es ist freilich Unsinn, dass man durch Nichtwählen immer ausgerechnet Rechtsextreme unterstütze. Man unterstützt die stärkste Kraft. Es gilt ja nämlich genauso gut andersherum, dass, wenn Linke vor einem Wahlsieg stünden¹, all jene, die beschließen, lieber daheim zu bleiben, als etwa die Rechten zu stärken, ihnen diesen Sieg mit ermöglichten.

Neutralität in praktischen Dingen, wo es also ums Handeln geht, kann nicht stattfinden: Man muss eben handeln und das Nichthandeln ist eben auch eine Handlung, die ihre Folgen und für die man Verantwortung hat. Was wollte man von einem Lehrer halten, der, wenn er sieht, wie auf dem Schulhof ein Schüler auf einen anderen losgeht, ruhig zuschaut und hinterher erklärt, er wäre eben neutral gewesen? Oder was würde der Lehrer, sollte er erst später hinzukommen, den Mitschülern dieser beiden sagen, wenn diese dem Angriff nur zugeschaut und weder eingegriffen, noch einen Lehrer geholt hätten, und sich nun mit ihrer Neutralist herausreden wollten? Wer hier neutral ist, der ist nicht neutral, er unterstützt den Schläger, er trägt es mit, dass dieser einen Anderen angreift, indem er den Angriff nicht verhindert. Ganz genauso kann es heute keine Neutralität geben, wenn ein Unrechtsstaat wie Russland einen legitimen Notstaat wie die Ukraine überfällt: „neutral“ sein, die Ukraine nicht mit allen Mitteln unterstützen, mit Russland weiter Handel treiben, all dies heißt eben Russland helfen, heißt diesem sowohl Mittel für seinen Krieg geben als auch signalisieren, dass man gegen eine solche Invasion im Grunde nichts einzuwenden hat. Und ganz im selben Sinne war beispielsweise die Schweiz im Zweiten Weltkrieg nicht neutral, sondern hat die Achsenmächte und den Holocaust unterstützt. Wie sollte Neutralität auch aussehen, wenn vor dem sicheren Tod fliehende Juden an der Grenze eines Staates stehen und Asyl begehren? Man kann es ihnen verwehren, lies: sie ermorden und den Nazis helfen, oder man kann es ihnen gewähren. (Es wollte denn jemand behaupten, man könnte sie, als eine wahrhaft neutrale Handlung, gerade auf dem Grenzstreifen stehen lassen.)

Aber auch theoretisch, da also, wo es um wahr und falsch geht, ist Neutralität schwerlich möglich. Man vergleiche beispielsweise, wie die neutrale Wikipedia von Dingen spricht, die allgemein und von der Forschungsgemeinschaft anerkannt sind, und solchen, die es nicht sind: „Unter Evolutionstheorie (früher auch Evolutionslehre genannt) versteht man die wissenschaftliche und in sich stimmige Beschreibung der Entstehung und Veränderung biologischer Einheiten, speziell der Arten, als Ergebnis der organismischen Evolution, d. h. eines Entwicklungsprozesses im Laufe der Erdgeschichte, der mit der Entstehung des Lebens einsetzte und weiterhin andauert.“ oder „Die Gravitation (von lateinisch gravitas für ,Schwere‘), auch Massenanziehung oder Gravitationskraft, ist eine der vier Grundkräfte der Physik.“, so heißt es da, aber andererseits: „Als Homöopathie [ˌhomøopaˈtiː] (von altgriechisch ὁμοῖος homóios, deutsch ‚gleich‘ und πάθος páthos, deutsch ‚Leid‘) wird eine pseudowissenschaftliche Behandlungsmethode aus dem Bereich der Alternativmedizin bezeichnet.“ oder „Orgon ist der Name einer von Wilhelm Reich behaupteten universalen Energie.“ Hieran ist nichts neutral, sondern hierdurch schlägt sich Wikipedia auf die Seite der jeweils herrschenden Lehrmeinung. Das darf man tun, ich will das gar nicht grundsätzlich verwerfen (was sollte auch die Alternative sein? etwa alle Artikel im Konjunktiv zu verfassen?), nur soll man eben nicht fälschlich behaupten, neutral zu sein, wenn es nicht stimmt.

Das Theoretische kann leicht ins Praktische überfließen. Man nehme ein Thema wie das heute so umstrittene Gender-Thema: Wenn eine Schauspielerin wie Ellen Page erklärt, eigentlich ein Mann zu sein und nun Elliot zu heißen, wie sollten Wikipediaartikel über solch einen Menschen neutral verfasst werden? Der Artikel muss auf Wikipedia entweder „Ellen Page“ oder „Elliot Page“ heißen, es muss entweder lauten: „ist eine kanadische Schauspielerin und Fimproduzentin“ oder „ist ein kanadischer Schauspieler und Filmproduzent“ (so der jetzige Wortlaut), in beiden Fällen bezieht man, ob man will oder nicht, Stellung zur Transsexualität, erkennt sie entweder an oder nicht, und selbst die vermeintlich neutrale Option, sich irgendwie um eindeutige Bezeichnungen herumzuwinden, etwa zu schreiben, Page sei „eine in der Schauspielerei und Fimproduktion tätige Person kanadischer Herkunft, die biologisch weiblich ist, sich aber dem männlichen Geschlecht zuordnet“, wäre nicht neutral, sondern würde wiederum die Transidentität dieses Menschen nicht anerkennen.

Es ist gerade in den Anstandsfragen, auf die unsere Zeit so lächerlich großen Wert legt, keine Neutralität möglich: Wenn Linke das Gendern oder die von einem transsexuellen Menschen gewünschten Pronomen einfordern, wenn Rechte einfordern, dass irgendwelche Sportler während des Abspielens der Nationalhymne stehen und mitsingen oder dass irgendwelche Politiker ihren Amtseid auf die Bibel ablegen – so kann man dieser Forderung nur entweder nachkommen oder man kann es nicht. Aber man kann sich zum Gendern oder zum Schwören auf die Bibel oder derlei nicht neutral verhalten.

Die Journaille ist eines der besten Beispiele dafür, wie das Theoretische – denn sie soll ja Tatsachen berichten und missbraucht ihre Plattform und verliert jeglichen Wert, wenn sie „Meinungs“-Beiträge und derlei veröffentlicht – in das Praktische überließt. Tatsachen berichten, gut und schön! Doch wie? Man kann nicht über alle Dinge zugleich berichten. Schon die Auswahl dessen, was die Öffentlichkeit erfahren soll, was nicht, ist nicht neutral. So hat mir vor Jahren die zuständige Bildungsredakteurin der taz gesagt, was Schüler über ihre Lehrer redeten, interessiere sie nicht, sie hält es also für nicht berichtenswert, wenn Lehrer ihre Schüler tyrannisieren, sich schäbig oder rassistisch verhalten usw.; obwohl es im Redaktionsstatut heißt, man wolle „insbesondere die Stimmen, die gegenüber den Mächtigen kein Gehör finden“ artikulieren² – freilich selbst ein alles andere als neutrales Anliegen –, nimmt sie sich in ihrem Rassismus gegen Kinder heraus, diesen keine Stimme zu geben, obwohl sie es doch nötiger hätten als die üblichen anerkannten Opfergrüppchen, die mit diesem Statut gemeint sind. Sodann, wie die Dinge gewichten? Was tut man auf die Titelseite, was bleibt eine Randnotiz? So wird heute tagtäglich über den Ukrainekrieg berichtet, über den andauernden Krieg im Jemen dagegen schweigen sich unsere Medien weitestgehend aus. Es ist wohl auch kaum neutral zu nennen, wenn in unseren Tagen die größte Nachricht, die es je in der Geschichte des Zeitungswesens gab, nämlich der völlige ökologische Zusammenbruch und der bevorstehende Untergang der modernen Zivilisation, nicht als solche, sondern besten Falles als ein Thema unter vielen behandelt wird. Wenn in einer Diktatur nicht darüber berichtet wird, dass gerade im Nachbarland oder vielleicht in einigen Teilen der eigenen Nation Proteste stattfinden, so nennen wir das zurecht nicht neutral, sondern urteilen, dass durch eine solche Berichterstattung oder vielmehr ein solches Schweigen das herrschende Regime gestützt wird. Wer aber beim Klima heute neutral ist, der unterstützt dessen Zerstörung. Ferner, wie stellt man das dar, worüber man berichtet? Wenn eine Nachrichtensendung mitteilt, es habe einen Wirbelsturm oder eine Überflutung gegeben oder es werde morgen 40°C heiß sein, so ist sie nicht neutral, wenn sie verschweigt, dass dies eine Folge der Klimakrise ist. Eine Wahrheit als Meinung zu behandeln, ist nicht neutral: So etwa, wenn ich lesen muss, Greta Thunberg behaupte, die Klimaziele der britischen Regierung seien unzureichend; das behauptet sie nicht, das ist so, denn Greta Thunberg macht keine Behauptungen, sie spricht in der Öffentlichkeit so gut wie nie als Greta Thunberg, sondern als Stimme der Vernunft: wenn sie Pläne für unzureichend erklärt, geht sie dabei nicht nach einer vagen Befindlichkeit oder privaten Ideologie, sondern nach physikalischen Gesetzen und belegbaren Zahlen – und man braucht nicht einmal ein großer Rechenkünstler zu sein, um zu bemerken, dass, wenn das 1,5°C-Ziel bei den derzeitigen Emissionen schon Ende des Jahrzehnts verfehlt sein wird, irgendwelche Pläne, diese Emissionen bis 2050 oder derlei fernliegenden Daten zu beenden, unzureichend sind. Umgekehrt ist es auch nicht neutral, Meinungen eine Bühne zu geben und sie unwidersprochen stehenzulassen: Es wäre beispielsweise nicht neutral, sondern eine Unterstützung der Nazis gewesen, in der Weimarer Republik zu schreiben, Hitler sehe die Juden für die Niederlage im Ersten Weltkrieg verantwortlich; eine ordentliche Berichterstattung hätte vielmehr schreiben müssen: Hitler sehe die Juden für die Niederlage im Ersten Weltkrieg verantwortlich, dies sei aber nachweislich falsch – und so ist es auch heute alles andere als neutral, dass rassistische oder praktisch den Klimawandel leugnende Politiker unwidersprochen ihre Verkehrtheiten verbreiten dürfen. Allein eine Sache, in der es wahr und unwahr gibt, so darzustellen, als gäbe es hier nur Meinungen und als wären diese alle gleichwertig, ist ein alles andere als neutraler Angriff auf die Wahrheit. So kam mir jüngst die Schlagzeile unter: „Klimaaktivisten blockieren BER – Scharfe Kritik an Flughafenblockade“, welche die meisten Leute wohl für neutral halten würden: Es werden ja nur Fakten genannt! Immerhin gab es die Blockade und gab es die Kritik, die Überschrift schlägt sich schließlich nicht auf eine Seite! Aber was ist an solchem Framing neutral? Es weckt den Eindruck, dass die Demonstration der Aktivisten wirklich kritikwürdig gewesen und die Kritik nicht nichtig wäre, denn über Nichtiges würde man nicht berichten, erst recht nicht schon im Titel. Eine solche Formulierung adelt Angriffe von Seiten der Klimawandelleugner. Wer dies leugnen will, stelle sich einmal vor, eine Zeitung würde ganz „neutral“ berichten: „Proteste im Iran – Scharfe Kritik an Kopftuchverweigerung“ oder „Protest der Weißen Rose – Scharfe Kritik an Aktivisten“. Dass die Träger und Profiteure des herrschenden Systems jeden Widerstand gegen dieses System ablehnen, versteht sich von selbst und ist keiner Meldung wert – man wollte denn den Widerstand abwerten und als aus persönlichen Interessen oder Ideologie motivierte Meinung hinstellen und dagegen das herrschende System in Schutz nehmen. Warum also, so frage ich jeden, der die obige Schlagzeile für neutral hält, lautet sie nicht ebenso neutral: „Klimaaktivisten blockieren BER – Wer wenigstens einmal im Jahr fliegt, gehört zu den 3% der Meistfliegenden“ oder „Klimaaktivisten blockieren BER – Klimaziele aller Parteien in Regierung und Opposition unzureichend, um bis Ende des Jahrzehnts nötige Transformationen durchzuführen und ökologischen Zusammenbruch zu verhindern“? – Auch dies wäre ein Bericht von Fakten, ohne zu diesen Stellung zu beziehen, nur eben von anderen – und von bedeutenderen Fakten. Man kann hier noch so oft das Klischee wiederhlen, Journalisten sollten keine Aktivisten sein. Sie sind Aktivisten, wir alle sind Aktivisten: die Frage ist nur, ob man ein Aktivist für die Wahrheit ist oder gegen die Wahrheit.

Nun werden die meisten Journalisten behaupten, sehr wohl der Wahrheit verpflichtet zu sein. Aber man kann eben nicht zugleich ein Freund der Wahrheit und neutral sein, denn wo Wahrheit und Lüge sich gegenüberstehen, da muss man sich entweder klar auf die Seite der Wahrheit schlagen oder man behandelt Wahrheit und Lüge mindestens gleich, wenn man sich nicht direkt ganz auf die Seite der letzteren schlägt. Und so wird denn die an sich schon verquere Wünschbarkeit Neutralität zur gänzlichen Absurdität, wo immer man sich neben der Neutralität noch zu einer anderen, im Grunde ganz und gar nicht neutralen Sache bekennt. So wollen wir einerseits unsere Lehrer neutral – andererseits heißt es im berliner Schulgesetz (und die Gesetzestexte der anderen Bundesländer enthalten ganz ähnliche Passagen): „Auftrag der Schule ist es, alle wertvollen Anlagen der Schülerinnen und Schüler zur vollen Entfaltung zu bringen und ihnen ein Höchstmaß an Urteilskraft, gründliches Wissen und Können zu vermitteln. / Ziel muss die Heranbildung von Persönlichkeiten sein, welche fähig sind, der Ideologie des Nationalsozialismus und allen anderen zur Gewaltherrschaft strebenden politischen Lehren entschieden entgegenzutreten sowie das staatliche und gesellschaftliche Leben auf der Grundlage der Demokratie, des Friedens, der Freiheit, der Menschenwürde, der Gleichstellung der Geschlechter und im Einklang mit Natur und Umwelt zu gestalten.“³ Die Schule soll also dem Nationalsozialismus und anderen Gewaltideologien gegenüber nicht neutral sein. An dieser Stelle werden oberflächliche und ausgeklärte Leser zwar einwenden, das sei zwar tatsächlich nicht neutral, aber auch der kleinste gemeinsame Nenner unserer liberalen Demokratie – darüber hinaus sollte der Lehrer eben neutral sein und nicht etwa für oder gegen diese oder jene demokratische Partei sprechen. Aber so kann nur daherreden, wer diesen Gesetzestext nur als schöne Floskel und Lippenbekenntnis und gar nicht wirklich ernst nimmt und wer nie ernstlich darüber nachgedacht hat, was ein Höchstmaß an Urteilskraft oder was die Fähigkeit zum Widerstand gegen eine Gewaltideologie eigentlich bedeuten. In Wirklichkeit enthält der Satz gewaltigen Sprengstoff, und jeder Lehrer würde rasch in arge Schwierigkeiten geraten, der mit ihm wirklich ernst machte: Denn wie, wenn eine bestimmte demokratische Partei, wie wenn vielleicht das ganze System der liberalen Demokratie oder des globalen Warenverkehrs die Gewaltherrschaft unterstützten und jeder nur recht Urteilsfähige notwendig dahin käme, sie abzulehnen? Aus ähnlichem Grunde sagte ich schon oben, dass die erklärte Neutralität von Fridays for Future widersinnig ist: Als ich dort vor der Europawahl in Berlin in einer Rede den Schülern riet, nicht nur nach Parteiprogrammen zu wählen, sondern zu schauen, was die jeweiligen Parteien, einmal gewählt, wirklich täten, wobei ja in unseren Tagen beinahe jede größere Partei in irgendeinem Bundesland an der Regierung beteiligt sei oder sie sogar leite, und ihnen darüber hinaus Mut machen wollte, unverzagt ihrer Überzeugung zu folgen, im Zweifel selbst eine Kleinstpartei oder gar nicht zu wählen, statt konsequentialistisch sich für das geringere Übel zu entscheiden, da gingen die studentischen Organisatoren dazwischen: Man wollte hier neutral sein! Das war in jenem Falle schon ganz oberflächlich betrachtet eine Lüge: Einer der Organisatoren stellte sogleich auf der Bühne klar, man sollte natürlich nicht den Wahlzettel ungültig machen, sondern unbedingt wählen, just eine Woche später riet dann jemand ganz direkt, bestimmte Parteien nicht, andere sehr wohl zu wählen – beides Aussagen, die ich für weit weniger neutral halte, als meine es gewesen war, die es jedem selbst überlassen hatte, was er tun wollte, solange er nur wirklich hinter seiner Entscheidung stünde. Aber gesetzt auch, man hätte diesen formulierten Anspruch nicht nur gegenüber meiner Rede vertreten: Wie kann man denn einerseits für die Verhinderung einer Klimakatastrophe eintreten und andererseits neutral sein wollen? Es ist freilich richtig, wenn Fridays for Future sich nicht zum außerparlamentarischen Arm einer bestimmten Partei macht und sich nicht in Grabenkämpfe der Tagespolitik mischt. Aber wenn man es ernst meint mit seiner Forderung, das Pariser Klimaabkommen einzuhalten, so muss man auch klar benennen, wenn eine bestimmte Partei dies mit ihrer Politik erreichen, dagegen die Politik einer anderen Partei ein eindeutiges Verfehlen der Klimaziele bedeuten würde.

– Man bedenke nun nach alle diesem das große Aufregerthema Kopftuch. Man bedenke es frei von Ideologie und – neutral: Man wird finden, dass eine Lehrerin sich nicht neutral kleiden kann. Denn entweder sie trägt ein Kopftuch oder – sie trägt eben keines. Neutralität wäre hier höchstens dann möglich, wenn sie sich für die Arbeit den Kopf abschrauben und ganz ohne Kopf lehren könnte, und wenn ich auch manche Lehrerin hatte, die den Eindruck vermittelte, eben dies zu tun, so bleibt dies doch physisch unmöglich. Dass es nicht neutral ist, kein Kopftuch zu tragen, das haben uns jüngst erst wieder die Menschen im Iran gezeigt: Wie es hier ein Kopftuchverbot gibt, gibt es dort ein Kopftuchgebot, nicht allein für Lehrerinnen, sondern für alle Frauen: Wer hier, sei es als Lehrerin oder in anderen Zusammenhängen, sein Kopftuch heute abnimmt, tut nichts Neutrales und Gleichgültiges, sondern er zeigt damit, dass er nicht hinter dem Regime, seinen Gesetzen und dem von ihm vertretenen Mohammedanismus steht. Wie wenig neutral eine unverhüllte Lehrerin ist, das wird noch deutlicher, wenn man sich die konkreten Argumente anhört, die antisemitische Nazis und ausgeklärte Humanisten (die beiden einzigen Gruppen, die dieses Gesetz tragen; und wer einer der beiden angehört, ist damit schon an sich nicht neutral, sondern in allen Fragen von der jeweiligen Ideologie geleitet) für das sogenannte Neutralitätsgesetz ins Feld führen – etwas, was man nur dann tun sollte, wenn einem danach ist, jeglichen Respekt für seine Mitmenschen zu verlieren –: Da höre ich dann lächerliche Behauptungen wie die, eine Lehrerin mit Kopftuch würde, selbst wenn sie es nicht ausspräche, allen Schülerinnen vermitteln, dass sie ohne Kopftuch in die Hölle kämen oder dass sie keinen Sex vor der Ehe haben dürften. Nun, gesetzt dieses wäre wahr: So würde im Umkehrschluss eine Lehrerin ohne Kopftuch vermitteln, dass es unbedenklich sei und einen nicht in die Hölle bringe, ein solches nicht zu tragen, oder dass man Sex vor der Ehe haben dürfe – Aussagen, die ebenso wenig neutral sind wie das Gegenteil, vor dem man die Schülerinnen zu bewahren sucht.

Wenn aber Neutralität weder gelebt oder auch nur zu leben versucht wird, noch auch nur gelebt werden kann, wenn sie eine Lüge ist, so bleibt zu fragen: Warum lügt man hier? Was trachtet man zu verstecken? Mir kommen zwei Hauptgründe in den Sinn, weshalb man so gerne die Neutralität hochhält, insbesondere in unserem ausgeklärten Zeitalter:

Einmal geschieht es aus Unsicherheit und Angst. Ausklärung bedeutet halbe, bedeutet rein negative Aufklärung, die sich aber mit der ganzen Aufklärung verwechselt: D. h. der ausgeklärte Mensch ist einer, der sich von alten Vormündern und Vorurteilen freigemacht hat – er hat die Tradition verworfen, ist aus der Kirche ausgetreten, gibt nichts mehr auf hergebrachte Vorstellungen von Moral, glaubt ans Vaterland so wenig wie an den lieben Gott –, der aber noch nicht begonnen hat, sich zur Vernunft zu erheben – aber nur mit Vernunft kann das Wahre und Gute eingesehen werden. Wer mittels Vernunft zur richtigen Vorstellung des Wahren und Guten noch nicht gelangt, aber auch nicht durch Vorurteil in einer falschen Vorstellung desselben verfangen ist, für den gibt es kein Wahres und Gutes: Es bleibt einem solchen nur der Relativismus und das persönliche Belieben. Politisch wie moralisch wird er vor allem negativ ausgerichtet sein, er wird einen Liberalismus vertreten, der ihm die Möglichkeit lässt, bei seinem Belieben zu bleiben, dieses oder jenes zu meinen, zu tun, zu sagen, den Anderen dasselbe Recht einräumend, schon damit sie es auch ihm gewähren. Wenn diese ausgeklärten Menschen selber neutral sein wollen, so drückt sich darin ihre Unsicherheit aus: Sie haben Angst, fehlzugehen, wenn sie sich einmal zu einem klaren Ja oder Nein durchringen sollten, und so sagen sie denn weder das eine noch das andere, ohne zu erkennen, dass dies ein Nein zum Neuen und vielleicht Besseren und ein Ja zum Bestehenden und Bösen bedeutet. Man kann diese chronische Unsicherheit in Diskussionen oft erleben, wo das Äußerste, was man einem Menschen abringen kann, wenn man all seine Argumente widerlegt und all seinen Meinungen mit klarer Rede widerspricht, allzu oft nur ein verzagtes „Ja, das könnte schon stimmen, ich bin da lieber neutral“ ist. Man ist eben verantwortlich für jedes sein Ja oder Nein, und nichts flieht der Unaufgeklärte mehr als die Verantwortung. Fordern aber Solche nicht nur von sich selbst, sondern von anderen die Neutralität, so weil sie eben positive Aufklärung nicht kennen, sondern nur negative Aufklärung und Unaufgeklärtheit: So muss ihnen denn jede kräftige Überzeugung, sie gründe in noch so vernünftiger Einsicht, dem Dogmatismus der Unmündigen gleichen, denn sie fragen beide Male bei dem festen Ja oder Nein, das ihnen entgegentönt, nur nach der äußeren Form und sehen nur das unbedingte und von jedem Zweifel freie Eintreten für eine und gegen eine andre Sache, suchen aber nicht die Quelle dieser Unbedingtheit und fragen nicht, ob sie am Mangel der Reflexion oder gerade an deren vollendeter Durchführung liegt. Es sind im Grunde Arationalisten, diese Ausgeklärten, und weil sie an Vernunft nicht glauben, muss ihnen jede Überzeugung aus der Unvernunft kommen, welche sie denn zurecht ablehnen. Kurzum, sie kennen nur persönliche Parteilichkeit und Ideologie, gegen diese verwahren sie sich – und das zurecht! – und treffen dabei in ihrer Blindheit eben Das mit, was solche Parteilichkeit und Ideologie zuverlässiger vernichten würde als all ihr Relativismus: Das überindividuelle und aus reiner Vernunft gefällte Urteil.

Der zweite Grund für die Überbetonung der Neutralität ist sinistrer: Hier treibt nicht allein Kleinmütigkeit, Schlaffheit und Unmännlichkeit, hier treibt eine Täuschungsabsicht, wenn auch keine bewusste. Unser Zeitalter gaukelt sich selbst gerne vor, das erste zu sein, welches frei von Ideologie ist – das aber gerade ist seine Ideologie, dass all sein Tun und Treiben, dass der heutige Lebensstil, das heutige politische und wirtschaftliche System, dass unsere Weltsicht und kurz und gut alles, das wir sind, ganz rational, ganz nüchtern, ganz „objektiv“ und richtig und natürlich sei, dass wir allein die Wirklichkeit anschauen, wie sie eben ist, und das Leben leben, wie es eben gelebt werden sollte, dass alle anderen vor oder neben uns irrten, alle Gläubigen dieses oder jenes Kultus, alle Anhänger des Kommunismus und Nazismus und sonstiger Ismen, nur alleine wir nicht. Und wie könnte man besser die eigene Ideologie befördern, nicht allein bei andren, sondern vor allem bei sich selbst, als indem man allen Blick für das Kontingente und eben Ideologische derselben verschließt? Man könnte freilich sprechen: „Ich glaube an dieses und jenes, aber zu meinem Glauben gibt es Alternativen, ich erkläre diese Alternativen für falsch und habe dafür folgende gute Gründe, aber doch gibt es Alternativen und gibt es Menschen, die an diese glauben“, aber das würde, abgesehen davon, dass es geringere Egozentrik, dass es irgendeine noch so oberflächliche Form von Hinschauen und Auseinandersetzung mit dem Gegner erforderte, die eigene Position fragwürdiger machen. Wie viel eleganter ist es da, zu sprechen: „Ich für meine Person glaube an gar nichts, nur die anderen alle glauben etwas und damit irren sie und sind lächerlich, denn aller Glaube ist verkehrt“! (Man gedenke nur all der Atheisten, die, obgleich theoretisch wie praktisch in jeglicher Hinsicht ohne Gott und also Atheisten, sich allzu gerne herausreden, eigentlich wären sie ja Agnostiker, sie wären offen für jeden Beweis und würden sich – ganz im Gegensatz zu all diesen unvernünftigen Gläubigen, wie sich versteht – eines Urteils enthalten.) Es ließ es in diesem Text schon anklingen: Alle Neutralität bedeutet immer ein Unterstützen dessen, der gerade obenauf ist, alle Neutralität heißt immer, den Status quo unangetastet zu lassen. „Neutral“ sein, das heißt, dafür sein, dass alles so bleibt, wie es ist, denn jedes Eintreten für eine Veränderung, auch hin zum Besseren, wäre ja Verletzung der Neutralität. Die herrschenden Kräfte also und jene, die von ihrer Herrschaft profitieren, werden großes Interesse an möglichster Neutralität haben, solange eben, wie sie die herrschenden sind. Man gehe nun im Geiste noch einmal alle Beispiele durch. Fällt es nicht auf, dass all unsere vielgerühmte Neutralität eben hinausläuft auf einen schwachbrüstigen, menschenfreundlichen Liberalismus, auf parlamentarische Demokratie und Atheismus? Wenn eine Lehrerin Kopftuch trägt, so ist das eigentliche Problem nicht, dass sie einen bestimmten Glauben, sondern dass sie einen gleich doppelt von der Norm abweichenden Glauben ausdrückt (doppelt, einmal weil jeglicher Glaube überhaupt von der atheistischen Norm abweicht, sodann weil ihr mohammedanischer Glaube insbesondere von der hiesigen Norm abweicht). Trägt eine andere Lehrerin kein Kopftuch, so ist zwar auch dieses nicht neutral, sondern lässt ebenfalls auf einen bestimmten Glauben oder Unglauben schließen, aber eben auf den bei uns vorherrschenden: dass es entweder, wie die etwas konsequenteren Atheisten meinen, gar keinen Gott gibt oder dass dieser zumindest, wie die sich zur Konsequenz des ausgesprochenen Atheismus nicht ganz trauenden hiesigen Christianer meinen und damit den Atheisten noch akzeptabel ist, es mit uns so genau nicht nimmt und für unser Leben außer einem erbaulichen Worte zu Weihnachten nicht viel Bedeutung hat, sondern dass wir den lieben Gott lieben Gott sein lassen können und er uns liebe Menschlein kleine Menschlein lassen lässt. Dasselbe gilt ja in der Frage der religiösen Erziehung: Wie oft habe ich irgendwelche Atheisten darüber schimpfen gehört, dass christianische, mohammedanische usw. Eltern ihre Kinder ja ganz schlimm indoktrinieren würden, dass sie doch ihren eigenen Glauben zunächst verschweigen sollten – und dass andererseits sie, diese Atheisten, ihre Kinder religiös und weltanschaulich ganz neutral erziehen würden. Aber das ist ja nicht wahr: sie erziehen ihre Kinder eben gemäß ihrer eigenen, d. i. der heute in der westlichen Welt selbst unter den meisten sogenannten Gläubigen vorherrschenden Weltanschauung. Ein Kind wahrhaft neutral zu erziehen, ist ja auch nicht möglich. Wohl muss und soll man es nicht zwingen, die elterlichen Glaubenssätze nachzuplappern, noch ehe es eigene Überzeugungen ausbilden konnte, aber doch bleibt den Eltern ja nur, von Gott entweder zu sprechen oder eben nicht zu sprechen, was beides Einfluss auf das Kind haben dürfte. Das also ist das verlogenste und böseste Stück in dem heutigen Gerede von Neutralität: Man will dabei nie wirkliche Neutralität – man kann sie auch gar nicht wollen, denn es gibt sie nicht –, man will nur, oft unbewusst, die eigene Agenda verstecken und tun, als hätten allein all die eine Agenda, die einem widersprechen, als wäre man selbst der einzige, der eben keine Agenda hat. Und wo wäre das deutlicher als heute in der Klimakrise? All das Gerede und Einfordern von Neutralität, etwa seitens der Medien, bedeutet hier ja nur: Es soll nicht die Wahrheit berichtet werden, nämlich dass wir in einer echten Krise stecken. Es soll also die heutige Lebensweise und die Zerstörung des Planeten und Ausbeutung von Milliarden nicht angetastet werden. Daher seierten hiesige Journalisten altklug daher, als bei einer BBC-Sendung Thunberg für einen Tag die Redaktion übernahm: Nein, so etwas dürfe nicht sein, Medien hätten ja neutral zu bleiben, als wäre es neutral, wenn das Haus brennt, nicht auf der Titelseite von diesem Brand zu berichten! Eine Politikerin hat jüngst eine verräterische Äußerung getan, als sie der Letzten Generation vorwarf, was man zuvor Fridays for Future, was man auch mir in meinem Leben schon vorgeworfen hat und was man jedem an den Kopf wirft, der das Gute will und sich für Menschenrechte einsetzt: Sie wären demokratiefeindlich – und es gehe nicht an, dass man für seine persönlichen Ziele Menschenleben aufs Spiel setze. Nun, dass die Aktivisten gar kein Menschenleben auf dem Gewissen haben, wissen wir, auch wenn populistische Politiker den Teufel tun werden, diese Unterstellung zurückzunehmen. Aber davon ab: Hier schwingt doch implizit die Behauptung mit: Es gibt eben nichts als persönliche Ziele, schlechthin vernünftige und gebotene Ziele kann es nicht geben, denn es gibt keine Wahrheit, und darum ist die Demokratie wertvoll, denn Demokratie heißt gerade, dass jeder seine unverschämten Partikularinteressen einbringen kann, aber eben auch Abstriche machen und Kompromisse eingehen muss, sodass die der anderen ebenfalls ein wenig befriedigt werden können. Hier mag vorgegaukelt werden, man hätte eine irgendwie höherstehende, weil neutralere Position – aber neutral, das heißt hier nur: keinem dieser Partikularinteressen unbedingt zugeneigt: Es heißt aber eben auch, dem Interesse der Vernunft unbedingt abgeneigt. Und jeder, der kein Klimawandelleugner ist, kann die Absurdität einer solchen Aussage schmecken. Der immergleiche Vorwurf, jemand sei demokratiefeindlich, der so selbstverständlich die Demokratie als das Höchste und als Wert an sich behauptet, als wäre alles gesagt, wenn man jemanden als ihren Gegner entlarvt hat, geht von der Prämisse aus, dass es keine Wahrheit gibt und daher ein System Selbstzweck ist, in dem jeder seine Meinung, seine Willkür geltend machen kann. Spätestens im Angesicht der Klimakrise muss man aber erwidern: Wenn die Demokratie ist, was ihr darunter versteht – was ich hier wenigstens nicht gesagt haben will, auch wenn man es mir nun unterstellen wird –, dann ist die Demokratie lebensfeindlich. Das nämlich sagt ihr, wenn ihr sagt, die zum Fortbestand unserer Zivilisation nötigen Maßnahmen seien undemokratisch oder sie würden uns unseren Wohlstand kosten und unsere Wirtschaft kaputtmachen: Ihr sagt dann, dass unsere Demokratie und unsere Wirtschaft eben nicht mit dem Fortbestand unserer Zivilisation vereinbar sind. Ihr sagt das, nicht ich. Aber ich sage: wenn ihr Recht damit habt – und wenn ihr es doch nicht sagen wollt, wohlan, so beweist doch das Gegenteil und zeigt uns, dass eure Demokratie und eure Wirtschaftsweise uns sehr wohl vor dem ökologischen Zusammenbruch retten können! –: wenn ihr Recht habt damit, so ziehe wenigstens ich das Leben der Demokratie und der Wirtschaft vor.

Neutralität ist nicht möglich. Sie ist auch nicht erstrebenswert. Das heißt im Umkehrschluss jedoch nicht, dass wir parteiisch und ideologisch sein sollen. Wir sollen Partei nehmen – aber nicht für irgendein Partikularinteresse, sondern für die Wahrheit, für das Recht und für das Gute. Der Lehrer soll nicht, weil irgendein Privatinteresse ihn dazu treibt, seiner Klasse erzählen, 1+1 sei gleich 3, er soll auch nicht scheinneutral sagen, es könne da jeder meinen, was er wolle, viele sagten 2, andere sagten 3, sondern er soll, nicht weil es ihm für seine Person so in den Kram passt, sondern weil es so ist, sprechen: Es ist 2 und wer immer etwas anderes sagt, der geht eben irre. Wir sollten aber freilich, neben dieser Liebe zum Wahren und Rechten und Guten – oder vielmehr mit dieser Liebe, denn sie wird, wo sie nur echt ist, nie ohne das Folgende auftreten – zwei andere Ideale an Stelle des Scheinideals Neutralität haben: Zum einen das der Unvoreingenommenheit. D. h. man soll parteiisch sein für das Wahre – aber eben auch nur für das, was man wirklich als wahr eingesehen und wovon man sich wirklich überzeugt hat, nicht für das, wovon man nur meint, es sei wahr, vor allem nicht für das, wovon man schon vorher entschieden hat, es müsse das Wahre sein: So will ich von einem Richter, wenn beispielsweise jemand einen anderen eines Verbrechens bezichtigt, nicht Neutralität: Ich will, dass er auf Seiten des Rechts steht und den Angeklagten verurteilt, sofern er schuldig, freilspricht, falls er unschuldig ist. Ich will aber von ihm Unvoreingenommenheit, sodass er nicht von vorneherein, etwa aufgrund von Hautfarbe oder Herkunft oder eines anderen Vorurteils oder einer Bestechung wegen, entscheidet, der Angeklagte müsse ganz sicher schuldig oder aber sein Ankläger ganz sicher ein Lügner sein. Das zweite Ideal ist das der Freiheit unserer Mitmenschen und ihrer eigenen Einsicht: Es ist das Ideal jedes echten Aufklärers, im Gegensatz zum bloßen Tyrannen im Namen von Vernunft und Tugend. Es soll den Menschen persönlich an der Wahrheit gelegen sein, aber es soll ihnen mehr daran gelegen sein, dass jemand diese Wahrheit wirklich als Wahrheit einsehe, als dass er sich nur in Worten zu einer eigentlich unverstandenen und nicht eingesehenen Sache bekenne. Auf das Vorhaben verfallen, jemanden zu manipulieren, kann ich ja nur, wenn ich irrigerweise meine, dass es an sich Wert habe, wenn er sich zu einem bestimmten Glaubenssatz bekennte, gleichgültig ob er dies aus eigener Einsicht und Überzeugung heraus macht oder aber, ohne ihn und seine Wahrheit selbst verstanden zu haben. Wenn mir aber des Menschen Freiheit mehr wert ist als sein Bekenntnis, so werde ich ihn zwar vielleicht auf vernünftige Weise von der Wahrheit zu überzeugen, ich werde ihn aber nicht mit Zwang oder Tricksereien auf meine Seite zu ziehen suchen. So dürfen Eltern beispielsweise einen Glauben haben und müssen auch weder mit diesem noch mit ihrem Wunsche, ihr Kind möge ihn teilen, hinter dem Berge halten. Doch sollten sie es akzeptieren, solange eben dieses Kind in ihrem Glauben keine Wahrheit finden und sich selbst nicht dazu bringen kann, ihn ebenfalls anzunehmen.

Wer immer Aufklärung lebt und wer immer das Wahre, Rechte und Gute aufrichtig liebt und erstrebt, sage ich, der wird gewiss diese beiden Ideale leben: Er wird selbst unvoreingenommen sein und nicht vor, sondern erst nach seiner eigenen Einsicht urteilen. Und er wird anderen nichts Unverstandenes und Uneingesehenes einflößen wollen, sondern wird wünschen, dass sie nur durch eigene Vernunft zur wirklichen Erkenntnis der Wahrheit gelangen, und es ihrer Freiheit überlassen, die Wahrheit zunächst zu verfehlen. Ein solcher braucht keine Neutralität – und überlässt den verlogenen Anschein derselben den eigentlichen Manipulatoren und den Ausklärern.

1 Aber ob einst mit Hitler in Deutschland, ob in unseren Tagen in Polen, der Türkei, Ungarn, Italien, Brasilien oder bis vor kurzem noch den USA: es sind gewöhnlich rechte Populisten und Extremisten, die es verstehen, auf demokratischem Wege durch Wahlen in Amt und Würden zu gelangen, die ihnen sodann ein Abschaffen oder wenigstens Manipulieren aller Wahlen erlauben. Wie oft hätte man erlebt, dass es linken Agitatoren in gleicher Weise gelänge, die Massen für sich zu mobilisieren? Linke Diktaturen entstehen, außer in den Alpträumen rechter Ideologen, die schon die deutschen Grünen oder die amerikanischen Demokraten für Stalinisten halten, nicht durch Wahlen, sondern durch Putsche und gewaltsame Machtergreifung wie einst in Russland oder Kuba. 

2 Die Tageszeitung: Redaktionsstatut: § 2. Artikel 3.

3 Schulgesetz Berlin § 1.