Es gehört zu den großen Nachteilen der Demokratie – zumindest unserer parlamentarischen, mit ihren Parteien und ihren Wahlen –, dass eigentliche Politik kaum stattfinden kann. So wie es zu den Nachteilen der freien Marktwirtschaft – die ja nichts anderes ist als Demokratie in der Wirtschaft und also wirklich das einzige mit unserer Demokratie vereinbare Wirtschaftssystem ist – gehört, dass eigentliches Handwerk kaum stattfinden kann. Es geht ja um Gewinne, um Wachstum, um Konkurrenz – und folglich niemals um die Sache, sondern immer nur um Werbung. Politik mag teilweise auf kommunaler Ebene stattfinden – auch dort selten genug! –, auf Landes- oder gar Bundesebene ist sie beinahe unmöglich. Es geht nicht um die Sache, es wird nicht versucht, gemeinsam daran zu arbeiten, das Zusammenleben im gemeinen Wesen (in der Polis) zu gestalten und das Recht zu verwirklichen, sondern es geht um Aufmerksamkeit, um Profilierung in Talkshows oder auf Twitter, zuletzt darum, gewählt zu werden. Daher sind unsere Afterpolitiker auch keine Politiker, sondern Vertreter (in der Mehrzahl übrigens sehr schlechte, von denen ein vernünftiger Mensch sich nicht einmal ein Kaugummi aufschwatzen lassen würde; wenn sie dennoch einigen Erfolg haben, so beweist das nur die große Unmündigkeit ihrer Kunden, die den Zirkus der Politikasterei nicht durchschauen, obwohl er ähnlich leer und albern ist wie der etwa beim Wrestling). Nun verkaufen ein Staubsauger- oder ein Versicherungsvertreter, sie mögen noch so schmierig sein, immerhin ein Produkt, wie wenig es auch taugen mag. Diese andere Gattung von Vertretern aber hat nur ein einziges Produkt, das sie an den Mann bringen will: sich selbst und ihre Partei (dass das von ihnen beworbene Produkt eine bestimmte Politik wäre, wäre noch zu viel gesagt und zu gut von ihnen gesprochen, das Produkt sind in der Regel sie selbst, die Politik – ist Teil der Werbung für jenes Produkt).
Nun war und ist Wahlkampf, d. h. das soeben Gesagte gilt gleich doppelt. Und in diesem Wahlkampf lagen schon seit Wochen und Monaten zwei rechte Parteien in den Umfragen vorne. Die eine tritt nationalliberal auf, die andere nationalsozialistisch (bei beiden wird, wie bei nationalen Parteien immer der Fall und wie sie auch gar nicht verschleiern, das Nationale im Konfliktfall immer Vorzug haben und ist das andere nur Beiwerk). Die eine besteht bekanntermaßen aus Kriminellen (von Volksverhetzern bis hin zu Gewaltverbrechern und versuchten Mördern) und Verrätern (die ihr Vaterland jederzeit an Russland oder China und gewiss auch jede andere ausländische Macht, die nur ein wenig bietet, zu verkaufen bereit sind), die andere besteht aus – nun, dem Namen, den Wahlplakaten und der Berichterstattung nach zu urteilen aus nur einer einzigen Person, und ich gestehe, keinen Schimmer zu haben, aus wem sonst noch, wähne aber, dass auch deren Leute sich, wenn man ihnen genügend Zeit und Einfluss gibt, als Verräter an unserem Vaterland offenbaren werden, zumal sie ja schon ganz jetzt offen für die Zusammenarbeit mit einem Despoten werben, der Deutschland seit Jahren zu unterwandern und zersetzen versucht. Beide Parteien jedenfalls sind offen antipolitisch und werben im Grunde mit nur einem einzigen Programmpunkt: Damit, dass sie für Verantwortungslosigkeit stehen und ihren Wählern versprechen, niemals erwachsen werden zu müssen. Man muss übrigens, um festzustellen, dass sie nicht nur, wie die alten Parteien, nicht an Politik interessiert, sondern vielmehr ihrem Wesenskern nach antipolitisch sind, gar nicht erst ihre offen zur Schau getragene Verachtung für Wahrheit und Wissenschaft und ihre Anbiederung an jeden Verschwörungswahn in Erwägung ziehen; sie gestehen dies vielmehr ganz schamlos schon durch ihre Namen. Deutschland ist ja nicht die Vereinigten Staaten, wo die Parteinahmen keine Inhaltsbezeichnungen sind, sondern wirklich bloße Namen, sodass die Parteien statt Republikaner und Demokraten auch ebenso gut Paul und Kalle heißen könnten. Parteinahmen in Deutschland bedeuten etwas, sie drücken ein Programm aus, sind ein Versprechen: sie sollen anzeigen, dass eine Partei für christliche, soziale, grüne, linke Politik steht. Die Wirklichkeit mag eine andere sein, aber zumindest behauptet die jeweilige Partei, für irgendetwas zu stehen. Die beiden neuen antipolitischen Parteien machen aber keinen Hehl daraus, dass sie für gar nichts stehen. Die eine kündigt sich ihrem Namen nach als eine Alternative an, sie verkündet also, gar keinen eigenen positiven Inhalt zu haben, sondern nur eine Dagegen-Partei zu sein, die eben nicht die hergebrachte Politik fortführen wird. Die andere ist noch etwas dreister, sie hat sich eine Schamlosigkeit geleistet, die nicht nur in Deutschland, sondern weltweit ihresgleichen sucht, und sich nach einer einzigen Person benannt. Künftige Geschichtsbücher werden nicht nur als Kuriosum, sondern als Zeichen für die tiefe Unaufgeklärtheit, ja für die gänzliche Verächtlichkeit und auch die Selbstverachtung unserer Zeit darüber berichten, dass, als eine Demagogin eine Partei unter ihrem eigenen privaten Namen gründete, sie dafür nicht von jedermann verlacht wurde und sich in aller Augen auf immer unmöglich machte, sondern dass sich abertausende Menschen fanden, die bereit waren, ihr zu folgen. Aber jedenfalls ist der Name ein klares Bekenntnis: Hier geht es nicht um die Sache, hier gibt es keine Sache, hier geht es nur um eine Person.
Aber zurück zu den weniger ehrlichen Afterpolitikern der alteingesessenen Parteien. Dass es denen nicht um die Sache und nicht um Politik geht, bewiesen jüngst ihre Reaktionen auf den Anschlag in Solingen. Drei Menschen wurden ermordet. Das ist, wie jeder Mord, zunächst ein unentschuldbares Versagen der Regierung und ich frage mich, wie bei jedem Anschlag, zunächst, warum nicht wenigstens der verantwortliche Innenminister zurücktreten muss. Es wäre sodann die Aufgabe der Politiker, im Dialog mit den Bürgern und unter Heranziehung von Gelehrten und anderen Experten, etwas dafür zu tun, dass die Menschen sicher in diesem Staate leben können und ihr Recht auf Leben und Unversehrtheit geschützt wird, denn dies ist die Aufgabe seines Staates, dafür hat er das Gewaltmonopol und zieht Steuern ein und nur daraus, dass er dieser Aufgabe nachkommt, bezieht er seine Legitimität. Stattdessen überschlagen sich aber die populistischen und demagogischen Forderungen. Während der eine nur Messer verbieten will, fordert der nächste gleich Abschiebungen von Flüchtlingen oder einen gänzlichen Aufnahmestopp für syrische oder afghanische Flüchtlinge oder will gar den nationalen Notstand ausrufen.
Dass diese Demagogie dumm ist, liegt auf der Hand. Ich rede hier gar nicht davon, dass sie böse ist. Meinethalben sei ein Politiker ein selbstsüchtiger Bösewicht, der nur an die Macht kommen will und dafür auch über Leichen zu gehen bereit ist. Nur sei er doch bitte ein kluger Bösewicht, der sich die Leichen wirklich zu einer Leiter nach oben auftürme, nicht ein dummer Bösewicht, der sich mit einem Berg aus Leichen den eigenen Weg blockiert! Was nützt es denn etwa einem Unionspolitiker, mit menschenfeindlichen Äußerungen und Forderungen vorzupreschen und den Rassismus im Land weiter anzuheizen? Die Stimmen der Vernünftigen bringt es ihm nicht ein. Und die unvernünftigen Rassisten werden ihn trotzdem zu lasch finden und lieber die waschechten Nazis wählen. Diese Dummheit der Populisten hat mittlerweile einen grotesken Grad erreicht. Nicht dass sie sich an sich gesteigert hätte; sie tun genau dasselbe wie vor zwanzig Jahren. Aber die Welt um sie her ist ja nicht mehr dieselbe wie noch vor zwanzig Jahren, und dies scheint ihnen zu entgehen. Wer ein gerade ausgebrochenes Feuer mit Öl löschen will, mag dumm sein, wer auch eine Viertelstunde später noch Öl über das Feuer gießt, obwohl es mittlerweile schon das halbe Haus erfasst hat, der tut zwar noch immer dasselbe wie am Anfang, aber doch ist sein Tun mittlerweile noch dämlicher als zuvor. In diesem Sinne muss jeder einigermaßen Vernünftige sich ernsthaft fragen, weshalb die Vertreter der Altparteien (und nicht nur der Union, sondern oft genug selbst der SPD oder gar der Grünen, die nun wirklich nicht hoffen dürfen, den Nazis auch nur einen Wähler mit etwas halbgarem Rassismus abjagen zu können) noch immer auf dieselbe Taktik setzen wie vor zwanzig Jahren, obwohl doch deutlich ist, dass der fremdenfeindliche und antisemitische Populismus, mit dem sie wieder und wieder an den Stammtischen auf Stimmfang gingen (etwa als sie Multikulti für gescheitert erklärten oder Kinder statt Inder forderten oder bis zur letzten Patrone gegen Zuwanderung zu kämpfen gelobten, um von der Aushebelung des Asylrechts schon in den 90er Jahren zu schweigen), ihnen gar nicht nützt, sondern ihre politischen Gegner überhaupt erst stärker gemacht hat. Es ist grotesk mit anzusehen, wie diese Parteien Jahr für Jahr mehr Wähler verlieren – und trotzdem nicht wenigstens versuchen, umzudenken und andere Taktiken auszuprobieren, sondern ihren gewohnten Mustern verhaftet bleiben. Mit bloßer Unsittlichkeit lässt sich dies nicht erklären, denn auch ein menschenverachtender Bösewicht könnte doch seine Ziele wenigstens mit Klugheit und Schläue verfolgen. Aber auch mit Dummheit, obwohl ich es bisher als solche beschrieb, ist diese Verhalten nicht erklärt – denn so dumm ist niemand. Eine Laborratte, wenn ihr beim Drücken eines bestimmten Knopfes ein Stromschlag versetzt wird, wird ihn ein- oder zweimal drücken und dann damit aufhören. Kann man so viel Klugheit nicht auch von jedem Menschen erwarten? Nun, hier hat man es mit einem Phänomen zu tun, das am ehesten Wilhelm Reich bemerkte und beschrieb: „This is the result of the mechanization of the human mind. Once a pattern has been formed, the mechanistic human structure remains stuck in it and proceeds like a mechanical monster, obstructing the very ideals it is so prone to proclaim on the anniversaries of the American, Russian, French, and other revolutions.“¹ Die Unaufgeklärten sind nicht einfach nur unmündig und die Sklaven ihrer Vorurteile und Neigungen. Oft sind sie versteift und abgepanzert. Sie sind nicht lebendig – wenn man unter Leben etwas mehr versteht als nur den biologischen Tatbestand, einen Stoffwechsel zu haben, wenn man unter Leben nämlich Beweglichkeit und die Fähigkeit versteht, auf seine Umwelt zu reagieren und sie zu gestalten, also mit ihr in Dialog zu treten, immer wieder eine Antwort auf das Leben, also auf sich selbst zu geben. Viele Menschen gleichen mehr Untoten oder Robotern. Sie mögen umherwandeln, aber sie tun es gleichsam wie auf Autopilot, sie folgen ihrer Programmierung, sie sprechen und agieren nach angelernten Mustern und in Klischees. Und sie sind unfähig, umzudenken und umzulernen (denn dies würde ja eben erfordern, überhaupt selbstständig zu denken und zu urteilen). Daher können sie keine Erfahrung machen. Und daher machen sie wieder und wieder dieselben Fehler. Das lässt sich in der Politik beobachten – ob nun alte Parteien in Deutschland oder anderen Staaten im Angesicht des Aufstiegs rechtsextremer Parteien bei den alten Strategien bleiben, die diese Rechtsextremen offensichtlich nur stärker machen, und selbst dann nichts Neues versuchen, wenn sie nichts mehr zu verlieren haben, ob man vor und selbst noch nachdem Russland die Krim heim ins Reich holte, diesem gegenüber dieselbe Appeasementpolitik betrieb, die schon gegenüber Nazideutschland gescheitert war, ob man über Jahrzehnte im Nahen Osten oder Südamerika oder anderswo immer wieder Despoten unterstützte und demokratische Bewegungen unterdrückte, nur um sich dann, in Kuba, im Iran, in Vietnam oder anderswo mit erfolgreichem Widerstand gegen jene Despoten konfrontiert zu sehen, der nicht länger demokratisch ist, ob Palästinenser oder Kurden oder andere unterdrückte und um ihre Souveränität betrogene Völker an demselben Terrorismus festhalten, der ihnen nur mehr Hass einbringt und die Unterdrückung legitimiert, ob Israel auf Terror jedes Mal so sicher wie das Amen in der Kirche auf eine Weise reagiert, die noch mehr Hass und noch mehr künftige Terroristen erzeugt –; es lässt sich in der Gesellschaft beobachten – die aus der Coronapandemie nicht eine einzige Lehre gezogen hat (wir haben uns nicht einmal wenigstens angewöhnt, in öffentlichen Verkehrsmitteln weiterhin Masken zu tragen, wenn wir krank sind, wie es sich die Japaner vor hundert Jahren nach der Spanischen Grippe angewöhnt hatten), sondern lieber tut, als wäre alles nur ein böser Traum gewesen, obwohl dieselben Fachleute, die schon Jahre vorher vor einer globalen Pandemie gewarnt hatten, warnen, dass solche sich jetzt immer häufiger wiederholen werden; genauso steckt diese Gesellschaft angesichts der Klimakrise den Kopf in den Sand, als würde sich das alles irgendwie von allein geben, wenn man nur die Berichte vom von Flammen umschlossenen Athen genauso ignoriert wie in den vergangenen Jahren die von der brennenden Türkei oder dem brennenden Australien –; aber es ist auf der individuellen Ebene nicht anders, wo der eine Mensch sich immer wieder denselben Typus als Partner anlacht und dann immer wieder über seine kaputten Beziehungen jammert, wo ein anderer von einem Unfall in den nächsten stolpert und schon neue Bandagen trägt, da er der alten kaum entledigt ist, usf. Es ist hier jedes Mal für jeden Außenstehenden, ja für jedes Kind offensichtlich, dass die bisherigen Handlungsmuster dem Handelnden nur Unglück bringen, dass er andere versuchen sollte, dass es, selbst wenn dies auch die falschen sein sollten, dadurch kaum noch schlimmer werden kann – und eben weil es so offensichtlich ist, kann es sich hier nicht um Dummheit, sondern muss es sich um eine Gehemmtheit handeln, die ein Fall für den Psychologen ist. Zuletzt handelt es sich um Faulheit und Feigheit, die Wurzeln der Unaufgeklärtheit, die einen Menschen lieber auf einer gewohnten Bahn in den Abgrund laufen lassen, als dass er sich trauen und anstrengen möchte, um seine Bahn zur Abwechslung einmal zu ändern.
– Aber all dies ist hier eigentlich Nebensache, denn ich will hier ja von einer Lüge sprechen. Und die liegt in der Überreaktion, eingeschlossen den populistischen Forderungen nach Einreisestopps für Syrer und Afghanen. Denn warum fordert man solches? Vermeintlich, um Menschenleben zu schützen. Es hat drei Tote gegeben, es soll nicht noch einmal drei Tote geben.
Nun, in Syrien herrscht Bürgerkrieg. Und wo er nicht mehr herrscht, da herrscht eine Erbmonarchie, nämlich ein Tyrann, dessen ganze Legitimierung darin besteht, dass auch sein Vater schon Tyrann war, der friedliche Proteste lieber niederschlagen ließ und das Land in einen anderthalb Jahrzehnte währenden Krieg stürzte, als seine Macht abzugeben und der unzählige Menschen verschwinden, foltern und ermorden lässt. In Afghanistan dagegen herrscht eine korrupte mafiöse Bande, die andere Stämme unterdrückt und ein derart frauenverachtendes Regime errichtet hat, dass man es sich nicht einmal als Karikatur hätte ausdenken können: Frauen dürfen dort nicht am öffentlichen Leben teilnehmen, nicht studieren, nicht ihr Gesicht zeigen, ja selbst ihre Stimme wurde jüngst für intim erklärt, sie haben in der Öffentlichkeit zu schweigen. Dass sie in Afghanistan Menschen zweiter Klasse wären, das zu behaupten, hieße ihnen ins Gesicht spucken; sie sind in Afghanistan überhaupt keine Menschen, die Gesetze zielen vielmehr auf die völlige Aufhebung ihrer Persönlichkeit. – Die Bezeichnung Wirtschaftsflüchtling ist ein unsägliches Wort und ich sehe nicht, warum derjenige weniger Recht zu leben haben sollte, der an Hunger zu sterben droht, als der, der an Kugeln zu sterben droht. Aber wenn diese Unterscheidung von Wirtschaftsflüchtlingen und richtigen Flüchtlingen, selbst wenn man sie gelten lassen wollte, irgendwo nicht gegen das Asylrecht ins Feld geführt werden kann, dann hier. In Syrien oder Afghanistan gibt es keine Menschenrechte. Ein Leben in Würde wird den Menschen dort verwehrt. Es sind unsichere Herkunftsländer (und es wäre an der Zeit, solche zu deklarieren, dagegen die unsägliche Praxis, bestimmte Herkunftsländer für schlechthin sicher zu erklären, abzuschaffen, denn auch aus einem insgesamt sicheren Land kann im Einzelfall jemand mit gutem Grunde fliehen, etwa ein Snowden aus den USA). Wer ihnen nun vom bequemen Deutschland aus, in dem leben zu dürfen er sich anmaßt, bloß weil er zufälligerweise in seinen Grenzen geboren ist, verwehrt, ihr Land zu verlassen, der ist seinerseits ein Feind der Menschenwürde und verbündet sich, ob er will oder nicht, mit dem Schlächter Assad und mit den faschistischen Taliban. Denn das ist eben, was die Menschenrechte auszeichnet: Dass sie für Menschen gelten, nicht nur für Deutsche. Sie hören nicht an irgendeiner Grenze auf. So wenig wir den Ukrainern unsere Hilfe versagen dürfen, wenn sie um ihr Leben und ihre Freiheit kämpfen, so wenig dürfen wir den Syrern oder Afghanen unsere Hilfe versagen, wenn sie vor Tod und Unterdrückung fliehen. Trotzige Parolen, wir könnten nicht alle aufnehmen oder wir wären nicht das Sozialamt der Welt, haben übrigens keinen Platz, wo es um die Menschenwürde geht. Sie würden nur beweisen, was ich oben schon sagte: Es sind antipolitische Sätze, Sätze der Verantwortungslosigkeit. Politik ist die Gestaltung des gemeinsamen Lebens. Wir leben gemeinsam auf einem Planeten. Wir haben uns nicht einzuigeln und zu verhalten, als lebten wir auf einer einsamen Insel (davon abgesehen, dass wir es nicht können). Das wollen die Schwächlinge freilich gerne, die nicht die Kraft in sich fühlen, Verantwortung zu übernehmen und an der Gestaltung der Welt positiv zu arbeiten. Ihre Schwäche könnte ihnen verziehen werden, wenn sie nur das Feld den Kräftigen und Mutigen überließen, die den Ruf „Du trägst Verantwortung!“ gerne hören, ja die vom Leben immer nur fordern: „Gib mir noch mehr Verantwortung!“ Was immer Menschen trifft, das trifft auch uns, denn auch wir sind Menschen. Und wer es fertigbringt, ruhig zu schlafen, dieweil sein Bruder nebenan gequält wird, den verdammt die Vernunft. Der Aufgeklärte weiß: Solange ein Einziger auf Erden sein Recht noch nicht bekommen hat, solange sind wir Alle ohne Recht.
Aber Kollektivverurteilungen und Sippenhaft von Unschuldigen sind nicht verlogen. Wegen eines einzigen Terroristen Abertausende zu Knechtschaft und Tod zu verdammen, Tausende nichtdeutsche und dunkelhäutige Menschen zu opfern, damit künftig drei hellhäutige Deutsche nicht sterben mögen, ist nicht verlogen. Es ist zynisch, es ist rassistisch, es ist menschenverachtend – aber verlogen ist es nicht. Jedenfalls solange man ehrlich eingesteht, dass einem die eigene Nation über alles geht und dass man kein Freund des Lebens und der Freiheit, sondern nur des eigenen Lebens und der eigenen Freiheit ist.
Aber ist man denn wenigstens dies? Die Lüge, von der ich sprechen will und zu der all das Bisherige nur die Einleitung oder die Nebenbemerkung war, ist nämlich eine ganz andere, und wenn ich nicht so gerne jede Gelegenheit zum freien Denken nutzte, hätte ich gleich hierbei anfangen und es kurz machen können: Gesetzt auch, uns kümmern nur Deutsche und wir sind bereit, um drei tote Deutsche zu verhindern, selbst die Verfassung zu brechen und den Menschenrechten abzuschwören: Sind nicht drei tote Deutsche eine zu vernachlässigende Zahl? Schlimm für die Opfer, schlimm für ihre Angehörigen, aber – um auch einmal zynisch zu sein – im Großen und Ganzen kaum der Rede wert. Sterben denn nicht anderswo viel mehr Deutsche? Warum muss es jedes Mal einen wochenlangen landesweiten Aufschrei geben, wenn irgendein Flüchtling ein oder zwei Menschen niedersticht, warum müssen sich die Afterpolitiker gegenseitig mit ihren populistischen Forderungen überbieten, aber wenn viel mehr Menschen auf andere Weise ermordet werden, kräht kein Hahn danach?
In Deutschland gab es im vergangenen Jahr 2839 Verkehrstote – das sind 7,8 am Tag. Jeden Tag ereignet sich also in Deutschland ein doppeltes Solingen, es interessiert nur niemanden, weil es nicht an einem Ort zugleich stattfindet und weil die Mörder keine Mohammedaner sind. Allein hier in Berlin waren es dieses Jahr bereits 32, also ungefähr ein Ermordeter pro Woche (übrigens, obwohl das Jahr erst zu zwei Dritteln rum ist, nur einer weniger als im ganzen letzten Jahr). Warum verbieten wir nicht alle Autos? Man antworte mir nicht, dies sei überzogen und übrigens wären das ja, verglichen mit der Gesamtzahl aller Autos, reichlich wenig Verkehrstote. Ich sehe nicht, inwiefern es überzogener wäre als die verfassungswidrige pauschale Ablehnung sämtlicher Menschen aus gewissen Staaten oder inwiefern die Gesamtzahl der friedlichen Flüchtlinge weniger stark abstäche von der vergleichsweise verschwindend geringen (wenn auch medial riesig aufgebauschten) Zahl der gewalttätigen. – Aber ich will nicht nur polemisieren und auch nicht nur Lügen anprangern, es geziemt der Aufklärung, immer eine positive Ausrichtung zu leben. Daher will ich nochmals betonen, was ich schon aussprach: Jeder einzelne Verkehrstote in Deutschland ist ermordet worden. Ein Unfall nämlich, der verhindert werden könnte, ist ein Mord – nicht unbedingt von Seiten des Verursachers des Unfalls, aber von Seiten derer, die den Unfall durch mangelnde Schutzmaßnahmen ermöglicht haben, also hier von Seiten unserer Politikaster. Und man muss keineswegs, wie ich eben überspitzt vorschlug, alle Autos verbieten. Durch Helsinki oder Oslo fahren noch immer Autos und doch hat es dort in den letzten Jahren kaum noch Verkehrstote gegeben. Weshalb nicht? Weil man es sich dort zum Ziel gesetzt hat, die Tode im Verkehr zu beenden, und eine entsprechende Verkehrspolitik betrieben hat. Die Tatsachen beweisen, dass dieses möglich ist. Wenn es aber möglich ist, einen Tod zu verhindern, und doch nicht getan wird, so ist dieser Tod kein Unfall mehr, sondern ein Mord (oder, wenn man will, eine fahrlässige Tötung, aber ich muss mich hier nicht an juristische Nuancen halten, denn juristisch handelt es sich ohnehin weder um das eine noch das andere, und ich spreche hier vom Standpunkte der Moral). Ich wiederhole also: Die deutschen Verkehrstoten sind allesamt ermordet worden.
Aber auch Verkehrstote sind, zynisch im Ganzen gerechnet, kaum der Rede wert, wenn es ihrer auch weit mehr gibt als Terrortote. Die unbestreitbar größte Bedrohung ist die ökologische Krise mit all ihren Folgen. Ich weiß freilich, dass ich in einem Land und unter einem Volk lebe, da grob geschätzt 90% aller Menschen, da daher auch sämtliche Parteien (die Grünen ausdrücklich nicht ausgenommen) Klimawandelleugner sind.² (Gerade angesichts der jüngsten Wahlen konnte man dies wieder beobachten in Zeitungen und Talkshows, und dass es den meisten Menschen nicht aufgefallen ist, liegt nur daran, dass diese ebenfalls Klimawandelleugner sind: Man hat nämlich angesichts des Wahlsieges der Nazis zwar viel lamentiert, aber in erster Linie wegen ihres Rassismus, nebenbei noch ein wenig wegen ihrer Russlandunterstützung, aber fast überhaupt nicht deshalb, weil sie offen die Klimakrise leugnen.) Daher wird man das Unbestreitbare entweder doch bestreiten oder, noch verlogener, man wird es mit Worten zugestehen, aber dann doch mit Taten bestreiten. Aber greifen wir doch nur eine einzige Zahl heraus: Im vergangenen Jahr gab es in Europa mehr als 47000 Hitzetote, davon 3200 in Deutschland, was am Tag 8,8 macht, also etwa dreimal Solingen (auch wenn sie sich in der Realität freilich kaum derart gleichmäßig aufs ganze Jahr verteilen werden, sondern es ungleich mehr Hitzetote in den Sommermonaten geben wird). Und dies ist nur eine von mehreren schon jetzt tödlichen Folgen der Klimakrise. Und es ist ein Firlefanz gegen das uns noch Bevorstehende. Aber allein dieser Hitzetoten wegen sollten doch dieselben Politiker, die jetzt wieder gegen Flüchtlinge hetzen, konsequenterweise sich überschlagen in ebenso populistischen Forderungen: Verbietet alle Autos! Verbietet das Fliegen! Schaltet sofort alle fossilen Kraftwerke ab!
Mancher wird einwenden wollen, Verkehrstote oder Hitzetote würden eben nicht so auffallen wie ein terroristischer Anschlag und verschiedene einzelne Tote über die ganze Nation verteilt, das würde anders wahrgenommen als drei Tote am selben Ort. Aber gewiss gibt es auch Verkehrsunfälle, die drei und mehr Tote auf einmal fordern. Und die Klimakrise hat im Ahrtal, auch wenn die schnelllebige deutsche Öffentlichkeit es schon wieder völlig vergessen hat, 135 Menschen auf einen Schlag gemordet. Und dennoch gab es darauf nicht halb so viele populistische Forderungen nach Klimaschutz wie nun nach einer rassistischen Politik.
Ich weiß, ich weiß, mancher wird sich über meine Worte hier empören. Und viele, die nicht lesen, aber gut sich empören und gut verhetzen können, werden es fertig bringen, mir mehr als einen Strick aus dem Gesagten drehen. Als hätte ich Terror relativiert oder dessen Opfer beleidigt. Dabei habe ich ja über den Terror kein Wort verloren. Oder vielmehr, ich habe es doch getan, ich habe nämlich erwähnt, dass es eine Schande ist, dass er stattfinden kann, und dass die verantwortlichen Minister sofort zurückzutreten haben. Um dies klarzustellen: Ich bin es nicht, der Menschenleben gegeneinander aufwiegt. Mir ist jeder Ermordete einer zu viel. Ich will sehr wohl, dass alles nur irgend mit dem Recht Vereinbare unternommen wird, um künftigem Terror vorzubeugen.³ Aber ich will eben auch, dass man Toden aus anderen Ursachen vorbeugt. Und wenn man sich über einige wenige Terrortote aufregt, die hätten verhindert werden können und also auch sollen, aber nicht über viel mehr Verkehrs- oder Hitzetote oder Fluttote (oder noch andere – es ließen sich hier noch viele Beispiele hinzusetzen), so offenbart man damit seine Verlogenheit: Dass es einem nämlich nicht um Menschenleben geht, nicht einmal zynischerweise nur um deutsche Menschenleben, sondern dass man eben doch nur Rassist ist. Die Mohammedaner in diesem Lande mussten sich von mir schon Jahre vor dem aktuellen Gazakrieg und ihrem jetzigen Israelboykott vorwerfen lassen, eben doch nur judenfeindlich zu sein, da sie sich nicht an China wegen der Uiguren oder Myanmar wegen der Rohingya stören, so müssen sich eben die Deutschen jetzt von mir vorwerfen lassen, eben doch nur hundsgemeine Rassisten zu sein, wenn sie sich jedes Mal nur dann stören, wenn ein Flüchtling, aber nicht dann, wenn etwa ein Auto oder die Hitze oder eine Flut jemanden umbringt, der nicht hätte sterben müssen. (Verlogen sind hier übrigens nicht nur die Gesellschaft im Ganzen oder die Afterpolitiker der alten Parteien, als verlogen erweisen sich hier auch – wenn es da noch irgendeines Beweises bedurft hätte – sämtliche Nationalisten, die hierdurch eben zeigen, dass sie nur rassistische Nazis und keine Patrioten sind, denen ihr Vaterland und ihre Staatsgenossen am Herzen liegen, denn tote Deutsche sind ihnen recht gleichgültig, wenn ihre Tode keine Gelegenheit zur Volksverhetzung bieten.)
Und wem diese Beispiele zu weit hergeholt, weil zu andersartig sind, bitte, der bleibe beim Terror: Selbst da ist es bezeichnend, dass mohammedanischer oder importierter Terror die Medien und die Politik mehr aufbringt als rechtsextremer und hier herangezüchteter Terror, obwohl der letztere noch immer weit mehr Menschen auf dem Gewissen hat. Haben dieselben Afterpolitiker, die jetzt alle Syrer und Afghanen abweisen wollen, als ein Querdenker einen Tankstellenmitarbeiter erschoss, alle Querdenkerdemos (die ohnehin gegen die Coronamaßnahmen verstießen) untersagen wollen? Haben sie nach der Ermordung Walter Lübckes, nach dem vereitelten Reichsbürgerputsch, nach Hanau und Halle und dem NSU irgendetwas unternommen? Wenn sie sich gezwungen sehen, mit Nein zu antworten, dann müssen sie es sich gefallen lassen, dass jeder Aufrechte sie ob ihrer jetzigen Reden Lügner nennt – und verachtet⁴.
Will man schließlich bei Messerstechereien bleiben: Nun, auch die geschehen ständig. Und entgegen den Vorurteilen nicht wegen all der Flüchtlinge: Hier in Berlin mit all seinen Migranten ist der häufigste Vorname von Messerstechern noch immer Christian. Die Tage erst las ich von einem Prozess gegen einen jungen Mann – keinen Ali oder Mohammed, sondern einen Vincent –, der, aus Frust, weil er nicht befördert wurde und sich von seiner Exfreundin betrogen wähnte, einen wildfremden Mann auf der Straße niederstach, eine Geisel nahm und davon träumte, als Serienmörder von Stadt zu Stadt zu ziehen. Dies ist aber eine Randnotiz, die es nicht in die Tagesthemen oder Talkshows schafft, denn der Kerl ist eben weder Flüchtling noch Mohammedaner, sein Fall taugt nicht zur rassistischen Hetze, höchstens zur Selbstkritik, nämlich zur Frage, warum diese Gesellschaft so viele erbärmliche Schwächlinge, achtlose Egozentriker und lebensuntüchtige Menschen ohne Triebregulierung hervorbringt – eine Frage, deren Beantwortung, nebenbei gesagt, auch der Terrorprävention dienlich sein würde, da Terroristen wie der von Solingen ja auch nicht aus Ideologie und Glauben handeln – dies ist nur der Überbau, mit dem sie ihr Tun rationalisieren –, sondern aus derselben Lebensüberforderung heraus.
Also, die Reaktionen auf Solingen sind verlogen. Das kann niemand bestreiten, ohne selbst Lügner zu sein. Woher aber diese spezifische Verlogenheit? An den Afterpolitikern mag es bloßes schäbiges populistisches Kalkül sein, wenn auch, wie benannt, recht dummes. (Allerdings sollte man nicht so naiv sein, sie nur allesamt für bewusste Taktiker und Lügner zu halten. Vielmehr ist das Faszinierende an ihnen, dass sie – mehr die linken als die rechten, aber auch diese – ihre eigenen Lügen zu einem gewissen Grade durchaus ernst meinen, dass ihnen die Rolle, die sie spielen, wirklich anwächst oder umgekehrt dass sie im Laufe ihrer Karriere aus ihrer einstigen wirklichen Meinung eine Rolle gemacht haben, sodass die Grenzen fließend sind und sie selbst nicht wissen, ob sie gerade lügen oder ihre wirkliche Meinung sagen. – Ein Wesensmerkmal unserer zynischen Zeit und nicht nur an Politikern, sondern an beinahe allen Menschen jetzt zu finden, weil beinahe alle jetzt irgendetwas vorstellen und schauspielern.) Was aber die breitere Bevölkerung angeht: Der Unaufgeklärte ist der unmündige Sklave seiner Sinne. Denken, Vergleichen (alles Denken ist ein Vergleichen), Urteilen, das kann er nicht. Er richtet sich nach dem, was ihm in die Sinne fällt. Was ihm groß scheint, sei es, weil es selbst laut ist, sei es, häufiger, weil andere laut darüber schreien, das muss auch wirklich groß sein, meint er. Einen tödlichen Verkehrsunfall findet zwar jedermann schlimm, wenn er sich ereignet (oder „tragisch“ in unserer heutigen Unsprache, obwohl es eben gerade nicht tragisch, also nicht unentrinnbares Schicksal, sondern sehr vermeidbar ist), aber man hat sich daran gewöhnt und nimmt es so hin, man nimmt es als bedauerlichen Kollateralschaden, man denkt nicht einmal darüber nach, ob es vielleicht vermeidbar wäre, ob es vielleicht irgendwo tatsächlich vermieden wird und man sich von dort etwas abschauen könnte, es ist mehr bedauerliches Naturereignis wie ein Erdbeben oder eine Überflutung⁵. Selbst gewöhnlichen Mord nimmt man als etwas Schlimmes, aber Natürliches. Es vergeht ja keine Woche, ohne dass man in der Zeitung lesen kann, dass wieder irgendwo ein Mann seine Exfrau und deren neuen Partner erschossen oder eine Mutter ihr kleines Kind erstickt hat oder derlei. Aber das gibt keinen landesweiten Aufschrei, denn es wird, obwohl es ungleich häufiger vorkommt als ein terroristischer Amoklauf, nicht als systematisches Problem genommen, sondern als jedes Mal schlimmer Einzelfall (wie viele hundert oder tausend Einzelfälle sind wohl nötige, ehe es keine Einzelfälle mehr sind?). Ob man hier etwas tun kann, ob z. B. Schulen, Kindergärten und Jugendämter wachsamer sein können, wenn es um Kinder geht, oder ob wir Eltern weniger allein lassen können, sodass sie sich von ihren Kindern weniger überfordert fühlen, ob überhaupt etwas fundamental im Argen sein könnte in dieser Gesellschaft und damit, wie sie die Menschen erzieht, wenn es immer wieder eine nicht unbeträchtliche Zahl gibt, die über die eigenen Triebe und Impulse nicht Herr ist, derlei fragt die Gesellschaft und derlei fragt die Politik nicht. Es würde, ich sage es noch mal, Selbstkritik erfordern und es würde ernsthafte Arbeit an uns und an der Gestaltung unserer Gesellschaft verlangen. Nichts davon will der Unaufgeklärte.
Um aber mit einem Ton der Bejahung zu schließen: Lasst uns aufrecht sein, zuerst zu uns selbst. Und lasst uns das Leben achten und schützen, und zwar gegen jeden Angriff gleichermaßen. Dafür müssen wir zuvörderst die Ehrlichkeit leben und sie zum zweiten einfordern (wir können sie nur einfordern, wenn wir sie selbst leben); sie muss uns wichtiger sein als alle Ideologie und aller Parteigeist. Zum dritten: Wir können das Leben nicht mit bloßen Neins, sondern nur mit Jas schützen. Gehen wir auf es, gehen wir aufeinander zu, beziehen wir die Menschen ein, treten wir in Dialog miteinander. Das Extreme kann das Lasche aufreiben und sich in das andere Extreme verbeißen, d. h. es kann Schaden auf der Oberfläche anrichten, das nicht Oberflächliche, sondern Radikale aber vermag das Extreme aufzulösen und, wenn schon nicht so radikal wie sich selbst, so mindestens lasch zu machen.
1 „Dies ist das Ergebnis der Mechanisierung des menschlichen Geistes. Sobald ein Muster entstanden ist, bleibt die mechanistische menschliche Struktur darin stecken und macht weiter wie ein mechanisches Monster, das eben jene Ideale hemmt, die es so gerne proklamiert am Jahrestag der amerikanischen, russischen, französischen oder anderer Revolutionen.“ (Wilhelm Reich: Children of the Future. Problems of Healthy Children during the First Puberty.
2 Ich sage dies schon seit Jahren und ich bin es leid, mich in dieser Sache wiederholen zu müssen. Mittlerweile sind ziemlich genau sechs Jahre seit Beginn der Fridays for Future-Proteste verstrichen, sechs Jahre in denen nichts geschehen nichts, weder durch Individuen, noch durch die Politik, sechs Jahre, in denen weder der Flugverkehr nennenswert zurückgegangen ist, noch die allergeringste ernsthafte Maßnahme eingeleitet wurde, um unsere Lebensweise zu transformieren. Mir fehlt, gelinde gesagt, mittlerweile die Geduld mit denjenigen, die noch immer den Kopf schütteln, noch immer von Übertreibung und Alarmismus sprechen bei Worten wie den obigen, noch immer von sich weisen, Klimawandelleugner zu sein. Jeder weiß, dass über 80% unserer Insekten und Vögel fort sind. Es ist so offensichtlich, dass selbst die rechten Verschwörungstheoretiker sich nur auf das Leugnen der Klimakrise selbst einschießen und solche anderen Aspekte der weiteren ökologischen Krise geflissentlich beschweigen, weil das offene Leugnen hier denn doch zu absurd wäre, da sich ja jeder, der alt genug ist, noch leicht erinnern kann, wie viele Insekten es noch vor wenigen Jahrzehnten gab. Wer aber angesichts der schon jetzt sichtbaren extremen Folgen und der noch extremeren Aussichten noch immer unbekümmert seinem Tagwerk nachgeht, noch immer lebt wie zuvor, noch immer andere Themen für, ich will nicht sagen wichtiger, sondern überhaupt für im mindesten wichtig hält, der muss sich schon gefallen lassen, dass langsam eine Zeit anbricht, da jeder Vernünftige ihn nicht einmal mehr anspucken mag.
3 Und ich glaube, nebenbei gesagt, dass, wenn man einen ernsthaften politischen Willen dazu hätte, anstatt sich nur profilieren zu wollen, es nicht allzu schwer wäre. Man bedenke doch, wie unsagbar wenig mohammedanischen Terror es in Deutschland seit Jahren gibt, obwohl man alles getan hat, um Mohammedaner im Allgemeinen und Flüchtlinge im Besonderen zu isolieren, ihre Integration zu verhindern, ihnen zu zeigen, dass sie nicht willkommen und nicht erwünscht sind. Dass so wenige von ihnen zu Terroristen oder anderweitigen Verbrechern geworden sind, grenzt an ein Wunder. Man stelle sich also nur vor, was eine echte Willkommenskultur und ein echtes Miteinander bewirken könnten! Ein solches Miteinander, eine echte Politik, also die Schaffung einer wirklichen Gemeinschaft (statt dass wir jetzt ein Haufen isolierter und atomisierter Individuen sind, von denen dann jedes rumkrakeelt, die Regierung solle seinen Neigungen und seinen Ideologien huldigen und nicht der Gemeinschaft dienen, die es ja gar nicht gibt) gelingt uns ja aber nicht nur nicht mit den Flüchtlingen, sondern auch untereinander nicht, wie es auch bis heute gegenüber den Ostdeutschen nicht gelang (in Ostdeutschland sind Gewerkschaften, Parteien, Kirchen, Vereine besonders mitgliederschwach, d. h. gerade hier fehlt es an Öffentlichkeit und Gemeinschaft und sind die Menschen auf sich oder höchstens noch ihre Familien zurückgeworfen). Dabei wäre dies zweifellos der beste Weg, um nicht nur mohammedanischen Terror zu verhüten, sondern auch das Krebsgeschwür des Rechtsextremismus loszuwerden, denn Menschen, die man nicht vor den Kopf stößt und abweist, sondern wirklich teilhaben lässt, wählen keine nihilistischen Parteien.
4 Im Vorbeigehen: Der Unaufgeklärte kann hassen, offen und glühend oder in Form eines vor sich selbst versteckten Ressentiments. Und oft tut er es. Aber eigentliche Verachtung, dieses zugleich eiskalte und doch rasende Gefühl, ist ihm fremd. Selbst da, wo er sich über andere Menschen aus bloß moralischen Gründen, nicht nur aus ideologischer Ablehnung aufzuregen scheint, zeigt er Hass und nicht Verachtung (man denke nur etwa an die sehr verbreitete und sehr leidenschaftliche Ablehnung von Kindesvergewaltigern, die in der Regel eben nicht als tiefe Verachtung, sondern geifernder Hass daherkommt). Wer nicht ernstlich verachten kann, der kann gewiss kein guter Mensch sein. Und wer nicht die meiste und tiefste, ja fast die einzige Verachtung verspürt gegenüber Lügnern, wem nicht jedes noch so schreckliche Verbrechen und jede Mordtat nichtig erscheint gegenüber der Verächtlichkeit der Lüge, und zwar nicht der immerhin wackeren oder verschlagenen, sondern der selbsttäuschenden, will sagen der verlogenen Lüge, der ist weit von aller Sittlichkeit und Aufklärung entfernt. – Andererseits habe ich klarzustellen: Eben diese Verachtung, gerade weil sie kein Hass ist, ist doch mit der tiefsten Menschenachtung, ja selbst mit Mitleid gegenüber dem Verachteten, den man noch für seine Verachtenswertheit bedauert, jederzeit vereinbar. Es ist immer nur der empirische Mensch, dem die Verachtung des Sittlichen gilt, sofern er verlogen ist, nie die Menschheit in ihm.
5 Freilich sind auch Überflutungen vermeidbar, sofern sie Klimafolgen sind, und sowohl sie als auch Erdbeben können, wenn schon nicht vermieden, so doch immerhin bei aufgeklärtem Umgang damit in ihren Folgen sehr entschärft werden.