Ich habe eine Bekannte, die von Computern und vom Internet gerade genug versteht, um Emails zu empfangen. Dieser versuchte ich einige Videos per Mail zukommen zu lassen, doch sie war nicht in der Lage, sie herunterzuladen; angeblich fehle ihr dazu irgendein Programm. (Es bedurfte keines solchen. Schon hier liegt eine Unaufgeklärtheit, nämlich in diesem hilflosen Umgang mit Computern und allem Ähnlichen, den nicht wenige an den Tag legen, die noch ohne diese Technologien aufgewachsen sind, insbesondere, aber nicht ausschließlich, alte Menschen. Es geschieht oft, dass Menschen sich gewissen Tätigkeiten mit einer kaum glaublichen Unfähigkeit widmen: Nicht nur sind da immer wieder ältere Menschen, die einen Computer behandeln, als wäre er ein unergründliches Rätsel. Ich habe auch zahlreiche Male bei Mitschülern oder später bei meinen eigenen Schülern erlebt, wie sie vor irgendeinem Text Goethes, Kleists, Kants oder eines anderen Menschen, der nicht gerade heutiges Internetdeutsch schrieb, kapitulierten und sich beklagten, sie verstünden kein Wort, obwohl doch auch in diesen Texten die meisten Wörter ganz banale und geläufige Vokabeln sind. Und dann sind da die Menschen, vorzüglich Frauen, die sich so verzweifelt und vergeblich beim Versuch abmühen, den Deckel irgendeines Glases zu öffnen. All diese Fälle haben gemein, dass die Menschen hier nicht scheitern, weil ihnen tatsächlich die Fähigkeiten fehlen, die sie bräuchten. Nein, sie scheitern, weil sie sich von vorneherein einreden, dass sie das, was sie gerade angehen, unmöglich schaffen können. D. h. eigentlich ist auch dies falsch, ein Einreden findet hier nicht statt, sie erwägen die Sache nicht bewusst und sagen sich nicht bewusst, dass sie es nicht schaffen werden. Sie leben ihr Unvermögen einfach, ohne dass ihr Bewusstsein hierbei hätte eine Arbeit tun müssen; jenes wird höchstens hintendrein aktiv und rationalisiert besagtes Unvermögen. Sie schreiten nicht unvoreingenommen zur Tat, sondern gehen die Sache mit einer selbst errichteten inneren Blockade an: Auch die Jüngeren wurden nicht mit dem Wissen geboren, wie man einen Computer bedient, sondern haben es irgendwann einmal gelernt; nichts verhindert, dass jemand es auch später in seinem Leben noch lerne, und manch Ältere haben es getan. Ein etwas älterer Text muss nicht schwerer zu verstehen sein als ein zeitgenössischer, stammt er von einem großen Geist, ist er vermutlich sogar einfacher, weil klarer, aber wer, ohne eigentlich zu dumm zu sein, sich schon vor Beginn der Lektüre weismacht, es wäre ein Ding der Unmöglichkeit, einen Satz mit mehr als sechs Wörtern oder einen mehr als dreißig Jahre alten Text zu verstehen, der wird es tatsächlich unmöglich finden. Und wenn schließlich Frauen sich mit verschlossenen Gläsern oder Vergleichbarem im Durchschnitt öfter schwerer tun als Männer, so nicht, weil sie schwächer sind als diese, sondern weil sie sich einreden, dass hier Kraft vonnöten wäre, die sie nicht hätten – während mein Vater leicht erklären könnte, dass es hier auf Geschick und nicht auf Kraft ankommt; wer sich aber im Besitz der nötigen Kraft wähnt und daher unbekümmert zupackt, der wird eben dieses Geschick eher anwenden.)
Eine Freundin von mir lud die Videos bald darauf auf Instagram hoch. Anstatt weiter zu versuchen, meiner Bekannten die Videos selbst zuzuschicken, sandte ich ihr daher per Email einfach den Link zum Account meiner Freundin. Ungefähr eine Woche später traf ich besagte Bekannte dann persönlich und bekam zu hören: Nein, die Videos habe sie noch immer nicht gesehen – sie habe den Link gar nicht angeklickt, da sie die Videos auf Instagram doch sowieso nicht würde anschauen können: sie habe nämlich selbst keinen Account – und sich übrigens sehr über mich gewundert, da ich das doch hätte ahnen können. Leider hat sie sich nicht weitergewundert: In der Tat wäre ich höchst überrascht gewesen, hätte sich herausgestellt, dass sie einen Instagramaccount besäße – aber eben hieraus hätte sie folgern können, dass die Videos wahrscheinlich öffentlich zugänglich waren und man nicht selbst angemeldet sein musste, um sie anzuschauen, denn andernfalls, davon durfte sie vernünftigerweise ausgehen, hätte ich es unterlassen, ihr diesen Link zuzusenden. Selbst ohne diesen Gedankengang aber hätte sie es ja einfach ausprobieren und den ihr zugeschickten Link anklicken können. Das hätte sie bloß ein Sekündchen gekostet. Im schlimmsten Falle wäre das Ergebnis dasselbe gewesen, das sie nun herbeigeführt hatte, indem sie es gar nicht versucht hatte: Sie hätte eben die Videos nicht gesehen. Vielleicht aber wäre auch die andere Möglichkeit eingetreten und alles hätte ohne Schwierigkeit funktioniert. Das konnte sie nicht wissen, da sie sich ja mit Instagram nicht auskannte; was sie wohl wissen konnte, war eben dies: dass sie es nicht wissen konnte – denn um ihre Unwissenheit wenigstens wusste sie ja. Und hier lassen sich zwei Probleme der Unaufgeklärtheit klar benennen:
Zum einen lebt der Unaufgeklärte nicht in der Wirklichkeit, sondern in seiner Vorstellung. Und er versäumt es, diese Vorstellung an der Wirklichkeit zu überprüfen. Ihm fehlt es an lebendiger Anschauung und daher sind seine Vorstellungen leer und nur allzu oft falsch und werden viel zu selten berichtigt. Meine Bekannte phantasierte sich nur Falsches über die Funktionsweise von Instagram zusammen. Aber der Nächste schon phantasiert über unintegrierte Ausländer und Flüchtlinge, obwohl er doch nie einen Bezirk wie Neukölln oder ein Flüchtlingsheim betreten hat, es also auch ihm an Anschauung fehlt. Mit Rassismus hat meine Bekannte, von der ich hier erzähle, nichts zu schaffen; aber alles kommt darauf an, dass der Leser nicht, wie der Unaufgeklärte es so gerne tut, an der Oberfläche verharrt und sich als unfähig zur sauberen Trennung erweist, alles kommt darauf an, dass er vom Gegebenen abstrahiere und die Haltung erkenne, die meine Bekannte hier an den Tag legte – und dass er seine eigenen Beispiele für diese Haltung finde, dass er sie überall im Alltag wiederentdecke: denn dass sie ihm überall im Alltag, bei Anderen und auch bei ihm selbst, begegnet, dessen kann ich ihn versichern.
Das Zweite, was zu schildern mir diese Geschichte einen guten Anlass bietet, ist die mangelnde Reflexion der Unaufgeklärten über ihre eigenen Grenzen. Eine solche Reflexion ist wichtig für die Aufklärung und es ist kein Zufall, dass es gerade im Zeitalter der Aufklärung und gerade durch einen Aufklärer, durch Immanuel Kant nämlich, geschah, dass in der Philosophie die Frage gestellt wurde: nicht: Was weiß ich?, sondern: Was kann ich wissen? und wo liegen die Grenzen meiner Erkenntnis? Die Unaufgeklärten neigen dazu, nicht nur in ihren Vorstellungen zu verharren, ohne sich einmal prüfend der Realität zuzuwenden, sondern auch, diese Vorstellungen gar nicht bewusst als solche wahrzunehmen, sondern aus ihnen heraus blind über Gegenstände abzusprechen, über die sie kein Urteil haben. Dabei mag der Mensch vieles nicht wissen, aber das eine weiß er doch, wenn er sich nur ehrlich prüft, immer: was er weiß. Meine Bekannte wusste eigentlich, dass sie von der Funktionsweise Instagrams nichts versteht und daher ihre Vorstellungen ebenso gut falsch als richtig sein konnten. Wer im vergangenen Jahr immer wieder gehässig über die Schüler auf den Fridays for Future-Demonstrationen herzog, in den Ferien kämen die selbstverständlich alle nicht zum Demonstrieren, der weiß doch eigentlich, dass das nur seine Vorstellung ist, dass er selbst aber nicht die Orte der Demonstrationen freitags in den Ferien aufgesucht hat und gar nicht wissen kann, ob seine Verleumdung stimmt oder nicht (sie stimmt nicht, weshalb ich sie eben als das bezeichne, was sie damit ist: eine bloße Verleumdung). Wer Verschwörungstheorien anhängt und wissenschaftliche Theorien leugnet, nur weil sie ihm nicht in den Kram passen, wer derart den Klimawandel, die Evolution oder die Kugelgestalt der Erde zur Lüge erklärt, der ist selbst ein Lügner gegen Andere und gegen sich, denn er kann zwar nicht wissen, ob es einen Klimawandel, eine Evolution oder eine Erdkugel gibt, aber das weiß er eigentlich, dass es ihm eben an entsprechender wissenschaftlicher Bildung und an entsprechenden Kenntnissen mangelt und dass er hier gar nicht die Kompetenz hat, ein Urteil zu fällen. Die Geisteswissenschaften trifft diese Ignoranz und Unbescheidenheit oft, nicht zuletzt die Philosophie: Wann hätte man je erlebt, dass einer derjenigen, die diese als Gewäsch aus dem Elfenbeinturm verwerfen, statt sie als Wissenschaft ernstzunehmen, sich vor diesem Urteil eingehend mit ihr beschäftigt hätten? Ob sie wirklich nur Gewäsch oder ob sie strengste Wissenschaft ist, das können sie nicht wissen, aber sie können wissen, dass sie von ihr nichts verstehen – und folglich das Urteil in dieser Sache denen überlassen sollten, die dies tun. Und hier ist jedermanns Verantwortung gefragt: Es ist Pflicht, sich, ehe man urteilt, stets kritisch selbst zu prüfen: ob man im gegebenen Falle überhaupt kompetent ist, zu urteilen. Allein hierdurch könnten die Vorurteile bereits besiegt werden, denn wenn die Menschen durch diese jedesmalige Prüfung auch nicht sogleich wüssten, ob irgendein Vorurteil, das sie hegen, nun richtig oder falsch ist, wüssten sie doch in jedem Falle, dass es sich eben um ein Vorurteil handelt, und würden es als solches behandeln, d. h. nicht sonderlich wichtig nehmen. Aber hier ist Konsequenz gefragt, die den Unaufgeklärten so schwer fällt: Wie viele klagen nicht, dass heute so viele Fachfremde kein Zutrauen mehr zu Naturwissenschaft und Naturkunde hätten und auf Experten nicht mehr hörten, legen aber ihrerseits dieselbe Ignoranz gegen die Geisteswissenschaften an den Tag? Wie viele schütteln nicht wie meine Bekannte über alle Rassisten und deren Vorurteile den Kopf, urteilen dann aber in Alltagssituationen wie jener mit dem Instagram-Link ebenfalls, ohne einmal hinzuschauen und zugleich ohne sich selbst ob dieses Nichthinschauens die Urteilsfähigkeit abzusprechen? Es ist geboten, dass wir eine bestimmte Haltung ausbilden, die gegenteilige ablegen, nur wenn wir selbst dies konsequent und mit der nötigen Kritik tun, können wir es mit Erfolg von Anderen fordern.
(Meine Bekannte übrigens, als ich sie drauf hinwies, sie hätte den Link doch einfach ausprobieren können, redete sich heraus: man dürfe doch nicht einfach auf irgendwelche Links in Emails klicken, da könne man sich doch Viren einfangen! Aber ich hatte ihr ja nicht geraten, einen dubiosen Link aus irgendeiner unbekannten Spammail anzuklicken. Die Mail war von meiner Adresse verschickt worden und der Link führte zu Instagram, also einer weithin bekannten Seite. Und wenn ihr dies nicht genügt hätte, so hätte es ja noch immer die Möglichkeit gegeben, statt den Link einfach anzuklicken, zurückzuschreiben und mich zu fragen, was ich mir denn gedacht hätte, ob dieser Link sicher und auch ohne Instagram-Account einsehbar sei. Diesen möglichen Weg der Nachprüfung hatte meine Bekannte aber ebenso wenig gewählt wie den anderen, der darin bestanden hätte, direkt auf den Link zu klicken. Und geschehen war dies aus Bequemlichkeit, welche ja aller Unaufgeklärtheit zu Grunde liegt und welche es immer ist, deretwegen Menschen sich nicht die Mühe machen, ihre leeren Vorstellungen zu verlassen und den Dialog mit der Wirklichkeit zu suchen. Die Vorsicht vor Viren hingegen, die selbst das nur sehr schlecht rechtfertigt, dass meine Bekannte dem Link nicht folgte, die aber unmöglich der direkten Rückfrage bei mir hatte entgegenstehen können, kann eben deshalb als bloße Rationalisierung abgetan werden.)