Der Philosoph bedarf nicht bloss das Wahrheitssinnes, sondern auch der Wahrheitsliebe. Ich rede nicht davon, dass er nicht durch seine Sophisticationen, deren er sich selbst wohl bewusst ist, von denen er aber etwa glaubt, dass sie keiner seiner Zeitgenossen entdecken werde, die schon vorausgesetzten Resultate zu behaupten suchen solle; dann weiss er selbst, dass er die Wahrheit nicht liebt. Doch ist hierüber jeder sein eigener Richter, und kein Mensch hat ein Recht, einen anderen Menschen dieser Unlauterkeit zu bezüchtigen, wo die Anzeigen nicht ganz offen da liegen. Aber auch gegen die unwillkürlichen Sophisticationen, denen kein Forscher mehr ausgesetzt ist, als der Forscher des menschlichen Geistes, muss er aus seiner Hut seyn: er muss es nicht nur dunkel fühlen, sondern es zum klaren Bewusstseyn und zu seiner höchsten Maxime erheben, dass er nur Wahrheit suche, wie sie auch ausfalle und dass selbst die Wahrheit, dass es überall keine Wahrheit gebe, ihm willkommen seyn würde, wenn sie nur Wahrheit wäre. Kein Satz, so trocken und so spitzfindig er aussehe, muss ihm gleichgültig – alle müssen Ihm gleich heilig seyn, weil sie alle in das eine System der Wahrheit gehören, und jeder alle unterstützt. Er muss nie fragen: was wird hieraus folgen? sondern seines Weges gerade fortgehen, was auch immer folgen möge. Er muss keine Mühe scheuen, und sich dennoch beständig in der Fähigkeit erhalten, die mühsamsten und tiefsinnigsten Arbeiten aufzugeben, sobald ihm die Grundlosigkeit derselben entweder gezeigt wird, oder er sie selbst entdeckt. Und wenn er sich denn auch verrechnet hätte, was wäre es mehr? was träfe ihn weiter, als das bis jetzt allen Denkern gemeinschaftliche Loos?

 

Johann Gottlieb Fichte: Über den Begriff der Wissenschaftslehre oder der sogenannten Philosophie. Zweiter Abschnitt. § 7. Fußnote.