Es ist Pflicht, Geist und Körper vorzüglich zur Brauchbarkeit für denjenigen Stand zu bilden, welchem man sich gewidmet hat. Dem Landbauer ist Stärke und Dauerhaftigkeit des Leibes, dem Künstler Geschicklichkeit und Fertigkeit desselben vorzüglich vonnöthen; theoretische Geistesbildung ist ihnen in ihrem Stande nur Mittel: dem gelehrten ist allseitige Ausbildung des Geistes Zweck, und ihm ist der Leib nur Mittel, um den Geist in der Sinnenwelt zu tragen und zu erhalten. – Die Gelehrten scheinen in dieser Rücksicht einen schädlichen Einfluss gehabt zu haben auf die Meinung der Völker. Ihnen ist es Pflicht nachzudenken, und ihren Verstand systematisch auszubilden; denn das erfordert ihr Stand. Was Standespflicht war, wollten viele zur Menschenpflicht überhaupt machen, und der Sinn ihrer Forderung schien ohngefähr der zu seyn, dass alle Menschen Gelehrte würden. Am sichtbarsten war und ist zum Theil noch bei den Theologen die Tendenz, alle Menschen zu ebenso guten Theologen zu machen, als sie selbst sind, und ihre Wissenschaft für nothwendig zur Seligkeit anzusehen.
Johann Gottlieb Fichte: Das System der Sittenlehre nach den Prinzipien der Wissenschaftslehre. Drittes Hauptstück. Dritter Abschnitt. § 21. IV.