Ich darf schlechthin nie mit Vorsatz tödten: der Tod eines Menschen soll nie Zweck meiner Handlung seyn. Der strenge Beweis ist folgender. Jedes Menschen Leben ist Mittel zur Realisation des Sittengesetzes. Entweder nun, ich halte bei einem bestimmten Menschen für möglich, dass er ein solches Mittel noch seyn und werden könne; oder ich halte es nicht für möglich. Halte ich es für möglich, wie kann ich denn, ohne dem Sittengesetze den Gehorsam aufzukündigen und für die Realisation desselben gleichgültig zu seyn, denjenigen vernichten, der meiner eigenen Voraussetzung nach zu derselben beizutragen bestimmt ist. Halte ich es nicht für möglich, halte ich jemanden für einen unverbesserlichen Bösewicht, so liegt die unmoralische Denkart eben darin, dass ich ihn dafür halte. Denn es ist mir durch das Sittengesetz schlechthin aufgegeben, ihn zur Moralität mit zu bilden, und an seiner Besserung arbeiten zu helfen. Setze ich bei mir fest, dass er unverbesserlich ist, so gebe ich eine schlechthin befohlene Arbeit auf: ich darf das letztere nicht; ich darf sonach auch das erstere nicht. Es ist durch das Sittengesetz schlechthin gebotener Glaube, dass jeder Mensch sich verbessern könne. Ist aber dieser Glaube nothwendig, so tritt der erste Theil unserer Argumentation wieder in seine Gültigkeit ein. Ich kann kein Menschenleben vertilgen, ohne meinen Zweck aufzugeben, und den Zweck der Vernunft in ihm, soviel an mir ist, zu vernichten. Wer moralisch werden soll, der muss leben.

Es ist so gefolgert worden: Es ist mir schlechthin geboten, die Moralität in jedem Individuum zu befördern. Aber ich kann dies nicht, ohne ihre Möglichkeit anzunehmen. Mithin, u. s. w. Der Minor dieses Syllogismus, welcher allein eines Beweises bedürfen könnte, lässt sich so beweisen. Ich mache mir etwas, wie hier die Besserung eines Individuums, zum Zwecke, heisst: ich postulire die wirklichkeit derselben in irgend einem zukünftigen Momente; aber ich postulire sie, heisst: ich setze sie als möglich. Nun muss ich zufolge des Sittengesetzes jenen Zweck mir nothwendig setzen, mithin alles denken, was in ihm enthalten ist. – So wie oben die Nothwendigkeit de Glaubens an die Perfectibilität des Menschengeschlechts überhaupt dargethan wurde, so wird hier die des Glaubens an die Verbesserlichkeit jedes Individuums insbesondere bewiesen.

 

Johann Gottlieb Fichte: Das System der Sittenlehre nach den Prinzipien der Wissenschaftslehre. Drittes Hauptstück. Dritter Abschnitt. Übersicht der allgemeinen unmittelbaren Pflichten. §. 23. I.