Vorwort: Greta Thunberg und der Schulstreik fürs Klima

Teil 2: Folgt

Teil 3: Folgt

Teil 4: Folgt

 

Um Thunbergs Anliegen und das, wofür sie kämpft, soll es in diesem Beitrag nicht gehen, sondern erst im nächsten, den ich ihr zu widmen gedenke. Hier will ich stattdessen die Aufmerksamkeit des Lesers einmal auf ihre Person lenken. Ich will darüber reden, was an ihr aufgeklärt ist und was andere Menschen für ihre eigene Aufklärung von ihr lernen können. Hierbei möchte ich über drei Gegenstände sprechen: Thunbergs Redlichkeit, Thunbergs Idealismus und den Charakter, den Mut und die Freiheit, die sie hieraus gewinnt, und Thunberg als Täter und Gestalter ihres Lebens.

 

I.

Wer masochistisch genug veranlagt oder wessen Mut groß genug ist, der mag einmal in die Kommentarspalten verschiedener online abrufbarer Zeitungsartikel schauen, die sich mit Thunberg und ihrem Protest befassen, und der wird dort die gröbsten Falschaussagen und Lügen finden.

Da schreibt der eine, Thunberg handle nicht selbstständig. Das beginnt bei ihren Reden, die zu gut und zu geschliffen für die eines Kindes seien. (Ich dächte eher, sie seien zu klar und eindeutig für die eines Ausgewachsenen.) Wie, nur weil Jene, die gegen Thunberg pöbeln, kaum einen geraden Satz zusammengestoppelt bekommen, soll kein Kind auf Erden dazu in der Lage sein? Ich könnte mir hier die Mühe machen, eigene Schulaufsätze, Debattenbeiträge aus dem Internet oder Geschichten herauszukramen, die ich mit 15 und 16 verfasste, um zu zeigen, dass es auch unter Minderjährigen Menschen geben kann, die tatsächlich sprechen können, aber ich werde mich darauf beschränken, Sirkka Persson zu zitieren, die als Thunbergs bisherige Schulleiterin deren Leistungen vielleicht besser einzuschätzen weiß als irgendein Schreihals aus dem Internet: „Greta, being your Principal at school I do not doubt you are writing your own speeches.“¹ Wer Thunbergs Englisch für zu gut hält, der sollte zudem daran denken, dass es Nationen gibt, in denen das Englisch des Durchschnittsmenschen nicht derart fürchterlich ist wie das von vielen Deutschen, und dass Schweden zu jenen Nationen gehört, schon weil viele englischsprachige Filme dort nicht übersetzt, sondern bereits im Kindesalter im Original und höchstens mit Untertiteln geschaut werden. Aber die Unterstellungen hören hier nicht auf, es heißt oft, Thunberg würde von ihren Eltern gehirngewaschen, sie sei manipuliert worden. Ja, die Widerlichkeiten gehen so weit, dass manch einer besorgt tut und fragt, ob Kindesmissbrauch in Schweden nicht illegal sei, man müsse die Arme doch retten. Kindesmissbrauch! Man schmecke die ganze Verachtung für Thunberg, die aus dieser scheinbaren Sorge spricht, man höre, wie wenig man sie ernst nimmt. „[T]o that I can only say; don’t you think that a 16-year old can speak for herself?“², antwortet sie selbst. Kinder, die sind für sehr, sehr viele Menschen ungefähr, was einmal Frauen oder Neger waren. – Ja die sind Tiere gar: Es sind Geschöpfe, die völlig wehrlos gegen den Menschen, die zu keinem Gedanken fähig sind, die eine eigene Meinung gar nicht haben, sondern höchstens wie dressierte Äffchen vor einem Publikum paradiert werden können und die man gutmütig vor Quälereien schützen mag, aber gewiss nicht als Wesen gleichen Wertes und gleichen Ranges anerkennt. (Indes ist es nur Thunberg, die man vor Kindesmissbrauch gerne schützen würde. All jene Kinder, die in Kriege, in Minen und Fabriken gezwungen wurden, um zu ermöglichen, dass man jetzt auf seinem Smartphone seinen Sorgen um dieses arme missbrauchte Mädchen Ausdruck verleihen kann, würdigt man keines Gedankens, während man hier über angeblichen Kindesmissbrauch schreit. Doch wollte ich mich mit diesen Schäbigkeiten weiter auseinandersetzen, ich hätte es unter den Lügen zu tun, nicht hier, wo es um Aufgeklärtes gehen soll.) Aber nicht dieser offenkundige Rassismus, der uns solch eine Selbstverständlichkeit ist, dass wir für ihn nicht einmal einen Namen haben, ist hier, worum es mir zu tun ist, sondern der simple Umstand, dass unwahr und ohne jede Grundlage ist, was hier behauptet wird. Der Einfluss von Thunbergs Eltern auf ihr Tun ist so gering, dass sie auf die Frage, ob sie ihre Reden, die sie nach dem Schreiben zunächst ihrem Vater vorlegt, auf dessen Vorschläge hin ändere, nur antwortete: „Manchmal. Oft auch nicht (lacht auf). Ich kann sehr stur sein.“³ Jeder, der Thunbergs Persönlichkeit begreifen kann, und sei es nur ganz oberflächlich, – ich kann dies, denn ich habe eine sehr verwandte; es muss wohl am gleichen Geburtstag liegen – der weiß, wie wahr diese Aussage ist: Was habe ich selbst mich nicht im Alter Thunbergs und in noch jüngeren Jahren schon gegen kleinste Eingriffe in Formulierungen von Referaten und dergleichen gewehrt! Ihre bewunderungswürdige Sturheit – Willensklarheit und Treue zu sich selbst, möchte ich sagen – steht ihr doch ins Gesicht geschrieben, wird auch dadurch bewiesen, dass sie sich bisher durch nichts von dem Weg abbringen ließ, für den sie sich einmal entschied. Man müsste keinerlei Menschenkenntnis besitzen, um dies in Frage zu stellen. Man schaue sich doch nur an – es ist ein sehr vergnüglicher Anblick –, wie aufgeweckt sie ihrem Vater zur Seite springt und diesen berichtigt bei gemeinsamen Auftritten.⁴ Oder man höre sie erzählen, wie sie ihm zum Gefallen Passagen einer Rede strich, die er für zu radikal hielt, um sie vor dem UN-Generalsekretär zu sprechen, nur um sie heimlich auswendig zu lernen und dann aus dem Gedächtnis vorzutragen.⁵ „[E]s war umgekehrt[, als die Leute behaupten]: Ich habe meinen Eltern das Gehirn gewaschen. Ich habe sie überzeugt, nicht mehr zu fliegen und kein Fleisch mehr zu essen (schmunzelt).“⁶ (In ihrem Rassismus können viele Menschen sich wohl nicht vorstellen, dass derlei möglich ist. Sie denken sich das Verhältnis zwischen Kindern und Erwachsenen stets einseitig: Die Eltern erziehen, das Kind wird erzogen, der Lehrer lehrt, das Kind wird unterrichtet. Man muss es eingestehen: In sehr vielen Fällen dürfte es sich tatsächlich so verhalten. Was nicht allein den Kindern anzulasten ist, sondern auch dem Hochmut, der Unberührbarkeit und der Missachtung der Erwachsenen, welche dem Glauben aller Unaufgeklärten anhängen, bereits fertig zu sein und sich nicht mehr entwickeln zu müssen, schon gar nicht freilich auf die Anregungen eines Kindes hin, das doch so unreif und ohne alle Lebenserfahrung ist – jener Erwachsenen also, die gar keine Erwachsenen sind, sondern bloß Ausgewachsene. Aber der gute Lehrer lernt stets von seinen Schülern; mir waren und sind die meinen die größte Bereicherung, ohne die ich es niemals zu jenem Grade von Weisheit, auch nie zu jener Popularität gebracht hätte, wie sie mir heute eignen; insgleichen zeichneten sich alle guten Lehrer, die ich im Laufe meines Lebens hatte, gerade dadurch besonders vor den schlechten aus, dass sie offen waren, sich durch ihre Schüler bereichern und bilden zu lassen: und nur von solchen Lehrern kann man lernen, von den anderen gibt es schlechterdings nichts zu lernen, wenn es auch möglich sein mag, an ihnen vieles zu lernen. Ebenso wird jedes Kind, das nur überhaupt ein wenig Leben besitzt, was freilich mehr gesagt ist, als die Meisten lesen werden, sich seine Eltern erziehen, zumal, wenn die Eltern von ihrer Seite berührbar und gegen ihr Kind nicht gänzlich achtlos und verschlossen sind. Ich weiß sehr gut, in welchen Dingen ich mir meinen Vater erzogen habe und was er mir alles dankt, wie ich auch weiß, dass ich meinerseits ihm nur deshalb so vieles danke und nur deshalb solch eine Bildung durch ihn erfahren konnte, eben weil er sich so weit erziehen ließ, wohingegen die meisten Kinder ihren Vätern und Müttern wenig mehr verdanken als das nackte Leben, eben weil diese nie viel von ihnen zu lernen bereit waren. Zugleich muss ich, da Thunberg und ihre konkreten Wünsche, die sie bei ihren Eltern durchsetzte, nämlich den Wunsch nach umweltfreundlicherem Leben, ja mein Ausgangspunkt sind, an die willensstärkste unter meinen Schülern denken, die nur wenige Jahre älter ist als Thunberg und ähnlich klar bestimmt und die sich ganz ähnlich ihre Eltern erzog, sodass ihre Familie, die noch vor kurzer Zeit nie daran gedacht hätte, Bionahrung einzukaufen, nun fast gänzlich von solcher lebt. Wer in einem Kinde nur die Marionette seiner Eltern sehen kann, mit dem braucht man nicht einmal zu reden, er hat offensichtlich noch nie im Leben ein Kind getroffen. Wer aber, wenn er so weit wie jener Erstgenannte auch nicht gehen mag, sich wenigstens nicht vorstellen kann, dass ein Kind seine Eltern erziehe, der dürfte selbst ein Mensch von wenig Kultur sein und der ist ob seiner inneren Armut nur zutiefst zu bedauern. Denn so wichtig und so bereichernd ist die Wirkung eines Kindes auf seine Eltern, so diese für eine Wirkung überhaupt empfänglich sind, dass man getrost von jedem Menschen, der keines hat, sagen darf, dass er nur halber Mensch und dass er noch sehr roh und ungebildet ist.)

Andere behaupten, es werde viel Geld gescheffelt bei diesem Umweltaktivismus und Thunbergs Familie verdiene sich eine goldene Nase. Auch das ist nachweislich falsch. Es ist nicht so, dass Thunberg kein Geld erhielte: Jüngst noch verlieh die Normandie ihr den Prix Liberté, der im Gedenken an die Landung der Alliierten von 1944 an Jene vergeben wird, die sich für den Frieden einsetzen, und der mit 25000€ dotiert ist. Doch dieses Geld hat sie sogleich an vier Organisationen gespendet, die sich für Klimagerechtigekit und für bereits von den Folgen des Klimawandels betroffene Menschen einsetzen. Und wie könnte man ernsthaft glauben, dass sie jemals etwas anderes mit solchen Einnahmen tun würde, wo es ihr doch – ich werde darüber sogleich noch sprechen – nicht um sich geht, sondern um die Sache? „That idea is completely absurd.“⁷ Das Geld, das Thunbergs Familie mit dem Verkauf ihres Buches Szenen aus dem Herzen einnimmt, wird ebenso an acht verschiedene Organisationen gespendet, die sich für Umweltschutz, Tierrechte und Kinder mit Diagnosen wie der Thunbergs einsetzen, keinesweges fließt es in die Urlaubskasse der Thunbergs bzw. Ernmans. Und dann wird Thunbergs ganzes Auftreten als PR-Kampagne eines schwedischen Investors hingestellt, mit der eine Aktiengesellschaft ein großes Geschäft mache, aber stets unterschlagen, dass jene Gesellschaft, die es tatsächlich gibt, mit Thunbergs Namen ohne deren Genehmigung warb und dass Thunberg längst keine Verbindungen mehr zu dieser unterhält. Diejenigen, die derart monetäre Interessen unterstellen, geben damit sehr vieles über sich selbst preis: Zunächst zeigen sie, dass sie nicht hingeschaut haben; von dem Gegenstand, über den sie vermeintlich sprechen, sprechen sie gar nicht, denn über diesen ist ein so krasser Irrtum nicht möglich, wenn man nur einen einzigen Blick auf ihn geworfen hat; stattdessen nutzen sie diesen Gegenstand, nutzen sie Thunberg als Projektionsfläche, um gewisse Vorstellungen, die sie in sich tragen, darauf zu werfen. Das wird niemanden verwundern, der die Unaufgeklärtheit kennt: Diese scheut ja gerade alle Berührung, alles Hinschauen, allen Kontakt mit der Wirklichkeit, ihr fehlt das Du, sie kann deshalb niemals eine Aussage über die Dinge treffen, die sie vor sich hat, weil sie von diesen stets durch einen selbstgeschaffenen Panzer getrennt bleibt, sie kann immer nur über die eigenen Vorstellungen sprechen und lediglich vorgaukeln, es handle sich dabei um Urteile über die Wirklichkeit da draußen. Doch woher der Inhalt dieser Vorstellungen? Da er nicht von außen kommt – denn mit diesem Außen findet ein echter Kontakt ja nicht statt, wie soeben dargelegt –, kann er nur von innen kommen: Der unaufgeklärte Mensch hat nur sein kleines enges Selbst; ohne es zu merken spricht er stets nur von diesem, nur der Oberflächliche kann sich hierüber täuschen und meinen, die Rede wäre von Anderem. Wer also z. B. anderen vorwirft, sie wollten sich nur selbst bereichern und seien nur auf Geldgewinn aus, selbst in Fällen, wo dies ganz evidentermaßen nicht stimmt – der macht sich selbst sehr verdächtig und der wird selber vermutlich nie im aufrechten Kampf für eine Idee aufgehen, sondern immer nur nach seinem kleinen Vorteil streben.

Wieder andere Male lese ich, Thunberg habe keine Ahnung, wovon sie überhaupt spreche – versteht sich, sie ist ja nur ein Kind! –, ja ihr wird auch mal vorgeworfen, nicht sonderlich helle zu sein. Am ekelhaftesten wird es, wenn geätzt wird, dies und jenes, was Thunberg (oder sonstjemand von Fridays for Future; doch diese Bewegung soll Gegenstand eines eigenen Beitrags sein und hier nicht behandelt werden) sagt oder will, das sei offensichtlicher Unsinn – weshalb, das für Jene zu erklären, denen es nicht gar so offensichtlich ist, versäumt man zumeist –: das komme halt vom Schuleschwänzen. (Wer so spricht, der will keinen Diskurs führen und der will kein Argument vorbringen, was er da sagt, das ist ja noch nicht einmal eine geistreiche Polemik, es ist eigentlich überhaupt Nichts, es ist ein geistiger Auswurf, eine Aussage, die keinen Inhalt, sondern nur eine Emotion, nämlich den ohnmächtigen Ärger von Einem ausdrückt, der nicht verwinden kann, dass er an seine sittliche Pflicht und an seine Schuld gemahnt wird. Denn liest man solche Aussagen, könnte man meinen, Thunberg und die streikenden Schüler wären noch nie in ihrem Leben zur Schule gegangen und hätten außer Protest nie etwas anderes getan. Aber Tatsache ist doch, dass sie nur einen Tag in der Woche in der Schule fehlen, vielleicht auch nur einige Stunden an jenem Tage, die meisten nicht einmal jede Woche und dies auch erst seit höchstens einem Jahre. Demgegenüber soll es ja Schüler geben, die ein ganzes Schuljahr überspringen, also den gesamten Unterricht irgendeiner Klassenstufe verpassen, nicht nur den einiger Stunden in der Woche, ohne dass dies jemanden aufregen oder zu Gehässigkeiten provozieren würde. Und dann: Es ist so leicht und bequem, mit leeren Begriffen zu arbeiten, Allgemeinheiten eignen sich hervorragend hierfür: „die Schule“, „das Lernen“, ja, das klingt doch nach etwas, wer das verpasst, kein Wunder, wenn es dem am Ende an aller Bildung gebricht! Aber was werden Thunberg und die streikenden Schüler verpasst haben, weil sie neuerdings freitags für zwei Stunden die Schule schwänzen? Dann sind sie eben mal etwas weniger sinnlos im Kreis gerannt oder sie haben nicht gar so oft in einem Gedicht, das sie anödete und das sie nicht verstanden, nach Alliterationen gesucht und das Versmaß bestimmt, vielleicht haben sie nicht zum xten Male nach einer ihnen eingepaukten Formel zu errechnen versucht, wie hoch die Wahrscheinlichkeit bei einer Tombola ist, eine Niete oder ein Gewinnerlos zu ziehen, möglich auch, dass ihnen jene hochspannende Stunde entging, da der Physiklehrer einen Mohrenkopf, oder wie die abstoßenden Dinger heute heißen mögen, unter einer Glocke aufgehen ließ, indem er dieser die Luft entzog, möglich schließlich sogar, dass die Schüler wegen ihres Protestes nicht mitdiskutieren konnten, als der Philosophielehrer ihrer Klasse die Frage vorlegte, was Epikur, Kant und Schopenhauer jeweils zum Abschreiben von Hausaufgaben sagen würden. Ob Thunberg irgendwo schon einmal Unsinn geredet hat, das sei dahingestellt. Gesetzt sie hat es getan: Zwei Stunden Schule mehr in der Woche hätten sie wohl kaum davor bewahrt (jene, die sie derart angreifen, beweisen dies ja eindrücklich, denn diese scheinen immer brav die Schulbank gedrückt zu haben und aus ihren Mündern kommt nichts anderes als lauter Unsinn). Vielmehr lernen sie und die anderen Protestierenden bei ihrem Engagement mehr, als sie in der Schule je lernen würden, immerhin besteht ihr Schwänzen ja nicht einfach darin, daheim zu bleiben und Computer zu spielen (womit ich nicht so verstanden sein will, als könnte man nicht auch hierbei mehr lernen als in der Schule). Wer ernstlich glaubt, in der Schule würde man viel lernen, sie zu versäumen wäre schädlich, wessen eigene Bildung, die man in diesem Falle kaum so nennen darf, da die Schule, wie sie dermalen nun einmal ist, keine Bildungsanstalt ist, über das in der Schule Gelernte nicht hinausgeht, ja wer überhaupt von sich zu sagen wüsste, er hätte in der Schule irgendetwas gelernt (buchstabieren, das kleine Einmaleins und das Jahr der Machtübernahme der Nazis einmal abgerechnet), auf dessen Äußerungen wird man nichts geben müssen, es ist sicher, dass er nichts zu sagen hat.) Das eben Gesagte war mehr Randbemerkung, das Eigentliche ist auch hier wiederum: Diese Verleumdungen sind schlichtweg sachlich falsch. Die bloße Menschenkenntnis und Lebenserfahrung (von der diese Verleumder doch gerne behaupten, so viel zu besitzen) verrät dies: Ohne alles statistische Material wäre ich sofort bereit, jede Wette abzuschließen, dass die Mehrzahl der bei Fridays for Future demonstrierenden Schüler aus Gymnasiasten besteht und zwar jenen, die nicht die schlechtesten Noten nachhause bringen. Der Ahnungslose, der tumbe Trottel, der Schüler, der im Unterricht nur rumgrölt und schnattert, der schlechte Noten kriegt und dessen Hauptbeschäftigung es ist, den ganzen Tag über zu „chillen“, also sich gemeinsam mit seinen Kumpels zu Tode zu langweilen, der mag auch mal schwänzen, aber der braucht dafür keine Ausrede, und gewiss wird er sich nicht politisch engagieren, ob nun für oder gegen das Klima oder eine beliebige andere Sache. Es war ja auch 1968, welches ich erwähne, da der damalige Protest so gerne mit dem heutigen verglichen wird, nicht anders: Es waren die Streber, es waren die Musterschüler, es waren die Klassenprimi, von denen die Studentenrevolte ausging, auch die erste Generation der RAF-Terroristen bestand ja aus den Klugen und Unterrichteten ihrer Generation. Hintendrein kamen als Nachzügler freilich auch die Anderen, aber sie waren es nicht, von denen jener Protest ursprünglich begonnen wurde. Was Thunberg selbst anbetrifft, so ist bekannt, dass sie kürzlich ihr neuntes Schuljahr abschloss und dabei von drei Bs (was unserer 2 entspricht) abgesehen lauter As (also 1en, überträgt man dies auf die in Deutschland übliche Notengebung) erhalten hat; und ich habe den Verdacht, dass ihr Notenschnitt damit deutlich besser ist als der der meisten Jener, die wettern, sie könnte doch nichts, wäre dumm und unwissend (allerdings möchte ich hiermit nicht den Eindruck erweckt haben, als gäbe ich tatsächlich irgendetwas auf Schulnoten und mäße die Klugheit oder die Kenntnisse eines Menschen an diesen, von seinen höheren Eigenschaften ganz abgesehen). Und dann sind da ja auch Aussagen wie jene Kevin Andersons, eines Professors für Klimawandel und Energie an den Universitäten Manchester und Uppsala, der von Thunberg bekundet: „Ich habe in den Gesprächen mit ihr oft den Eindruck, mit einer jüngeren Kollegin unseres Instituts zu diskutieren, aber nicht mit einer Jugendlichen. Greta weiß unglaublich viel über den Klimawandel, und sie lernt ständig dazu. Neulich hat sie mir einen ihrer Texte über Aerosole geschickt. […] Ich fragte nach, woher sie diese oder jene Zahl habe. Darauf schickte sie mir mehrere Links und Zusammenfassungen aus wissenschaftlichen Texten, die sie durchgearbeitet hatte. Beeindruckend für eine 16-Jährige.“⁸ Auf die Frage, ob sie auf ihn höre, antwortet er: „Nur wenn sie es für richtig hält.“⁹ Konfrontiert mit einer Äußerung des FDP-Chefs, einem „der Politiker, die versagt haben“, wonach man die Sache mit dem Klimawandel doch den Experten und nicht den Kindern überlassen sollte, meint Anderson zudem: „Sie ist sehr wohl Expertin – für Kommunikation. Sie schafft es, Unmengen von Informationen zu prägnanten, einfachen, ehrlichen Botschaften zusammenzufassen. Diese Expertise hat uns bislang gefehlt. Greta erreicht Menschen, die wir Wissenschaftler nie erreicht haben, allen voran Kinder und Jugendliche.“¹⁰ – In der Tat, auch dies ist doch etwas, worin jemand sehr gut sein kann und Thunberg zweifellos sehr gut ist, was ihr aber zugleich kaum je als eine Fähigkeit, die sie nun einmal hat, angerechnet wird. Ich möchte bei dieser Gelegenheit auch anmerken, dass die guten Kenntnisse Thunbergs über den Klimawandel einerseits die geradezu notwendige Folge daraus sind, dass es ihr um die Sache geht: wem etwas wichtig ist, der wird sich immer ernsthaft damit befassen; dass solche Kenntnisse aber andererseits alles andere als selbstverständlich sind, eben weil es den meisten Menschen nicht um die Sache geht, weshalb sie denn auch über gar Nichts recht Bescheid wissen. Ich bin sicher, dass ich Thunberg, spräche ich mit ihr, fragen könnte, wie viel CO2 im Durchschnitt jährlich ausgestoßen wird, und dass ich eine korrekte Antwort erhielte. Was erhielte ich wohl, wenn ich irgendeinen der Wortführer bei Pegida fragte, wie viele Flüchtlinge Deutschland durchschnittlich aufnimmt? Über solche Unterschiede wird kaum je gesprochen, dabei sind gerade sie wesentlich und bezeichnend und es wäre Aufgabe der Medien, auf sie einmal aufmerksam zu machen, was jedoch eine weniger oberflächliche Berichterstattung verlangte: An solchen Unterschieden nämlich wird deutlich, dass es Thunberg und gewiss auch manch Anderem bei Fridays for Future wirklich um etwas geht, dass sie ein echtes Anliegen haben. Irgendein rechter Hassprediger hingegen arbeitet an der eigenen Profilierung und Karriere bzw. er und der gemeine Pegidiot sind mit diffusen Ängsten und Befindlichkeiten beschäftigt, aber viel zu träge, um tatsächlich hinzuschauen oder sich mit ihrer Sache tiefer auseinanderzusetzen. Thunberg schwänzt eben nicht bloß die Schule, sie lernt über das, was ihr wichtig ist, während andere sich auf das Verbreiten von Stammtischparolen auf Facebook und Twitter beschränken.

Schließlich lese ich gar immer wieder, Thunberg sei, das verstehe sich doch angesichts ihres Asperger-Syndroms, kalt und emotionslos, sie fühle nichts, ihr fehle es an Empathie. Was das Letztere angeht, will ich kein Urteil fällen; ich fand dieses fragwürdige Wort bisher ausschließlich von bösen Menschen gebraucht, die es mit Vorliebe auf all Jene anwenden, von denen sie sich in ihren Befindlichkeiten gestört fühlen, zumeist weil sie durch diese an ihre Unsittlichkeit erinnert werden. Ansonsten aber passen diese Vorwürfe nicht zu dem, was wir über Thunberg wissen: Ein Mensch ohne Gefühle würde nicht am liebsten mit seinen Hunden spielen. Ein Mensch ohne Gefühle könnte auch nicht depressiv werden angesichts der Zerstörung dieser Erde, jede Beklemmung, Trauer oder Angst müsste ihm fremd sein, er würde nicht bei einer Rede über die Auslöschung so vieler Arten, die Zerstörung von Wäldern, die Vergiftung von Luft und Wasser in Tränen ausbrechen. Ist es nicht Thunberg, die sich für ein Ende der Umweltzerstörung und damit für das Leben aller Menschen auf dieser Erde einsetzt? Ist es nicht Thunberg, die insbesondere Klimagerechtigkeit einfordert und erinnert, dass es die Armen und die Jungen, dass es diejenigen sind, die am wenigsten Schuld tragen am Klimawandel, welche am stärksten von seinen Folgen getroffen werden? Ist es nicht Thunberg, die sich auch anderweitig für die Menschenrechte einsetzt? – dies ist wenig bekannt, denn wiederum versäumen unsere Medien ihre Aufgabe: wenn Thunberg einmal nicht fürs Klima, sondern gegen Nazis demonstriert, wird darüber kaum berichtet, obwohl dies eine sehr wichtige Meldung wäre, wichtig, weil man aus ihr lernen könnte, dass es nicht um ein einzelnes Thema geht, sei es noch so groß, sondern überhaupt um die Achtung vor dem Leben. Ist es nicht Thunberg, die gegen das Artensterben ankämpft und selbst vegan lebt? – Und sind es auf der anderen Seite nicht gerade die, die ihr mangelndes Mitgefühl oder dergleichen vorwerfen, die darauf beharren, jeden Tag ihr Schnitzel zu verspeisen, und die keine Flüchtlinge aufnehmen wollen, sondern meinen, die Afrikaner seien an all ihren Schwierigkeiten selbst schuld, der Deutsche hätte ja auch in die Hände gespuckt und in harter Arbeit sein Land selbst aufgebaut? Es mag sein, dass Thunberg mit ihrem Asperger-Syndrom anders fühlt als viele Menschen. Daran wäre wahrlich nichts Schlechtes, denn viele haben ihr Fühlen ohnehin nie kultiviert, sie haben keine eigentlichen Gefühle, sondern nur Befindlichkeiten. Doch dass sie überhaupt nicht fühle, ist eine ganz und gar lächerliche Diffamierung – doppelt lächerlich Dem, der im Besitze der Wissenschaftslehre ist und weiß, dass ein Mensch, der nicht fühlte, auch nicht denken und wollen könnte.

Die vier nun angeführten Lügen mögen als Beispiele hinreichend sein. Wenn noch Andere Thunberg und die Schüler von Fridays for Future mit der Hitlerjugend vergleichen oder angesichts ihres Kampfes an den Kinderkreuzzug denken, so ist das wahrlich keiner Antwort wert. Aber warum gab ich den obigen geistigen Unrat überhaupt wieder? Wird er im Internet nicht schon genug verbreitet? Wäre es nicht das Beste, vom Verächtlichen zu schweigen und es – zu verachten? Nun, ich sprach von Thunbergs Feinden um des Kontrastes mit ihr selbst willen und um so auf einen ersten Umstand an ihr aufmerksam zu machen, der aufgeklärt ist: Ihre Redlichkeit. Thunberg plappert nicht einfach drauf los, sie gehört nicht zu denen, die gewissenlos Vorurteile und Halbwissen verbreiten. Sie erkundigt sich, bevor sie eine Rede hält, sie fragt bei Klimaforschern nach und bemüht sich, immer nur zu sagen, was auch richtig und belegt ist. Sie nimmt es genau mit den Fakten. „I want everything to be absolutely correct so that I don’t spread incorrect facts, or things that can be misunderstood.“¹¹

Das sollte nichts sein, was herausgestrichen werden muss, erst recht sollte man niemanden dafür loben, so wenig man jemanden dafür loben sollte, noch nie einen Menschen umgebracht zu haben. Aber es ist doch traurigerweise eine Seltenheit selbst bei Politikern und Journalisten, was also soll man dazu sagen bei einem gemeinen Bürger, noch dazu bei einem jungen Mädchen wie Thunberg? Die Meinungsfreiheit ist uns zur Selbstverständlichkeit geworden. Und die meisten Menschen nehmen heute den Umstand, dass sie meinen dürfen, als Einladung, auch tatsächlich zu meinen, ja sie fühlen sich entschuldigt und im Rechte, wenn sie auch nichts mehr tun, als bloß zu meinen.¹² Es sollte Sache des Gewissens sein, zumal wenn ich öffentlich spreche, jedes Mal innezuhalten und mich zu fragen: Woher weiß ich dieses? Habe ich es nur einmal aufgeschnappt, glaube ich nur, es zu wissen, ist es nur ein verbreitetes Vorurteil? Oder habe ich es aus einer verlässlichen Quelle? Wie viel grober Unsinn kursiert doch unter den Menschen! Er wird verbreitet nicht nur von Privatpersonen, auch der Unterricht unserer Lehrer, die Schulbücher, Sachsendungen sind voll von Fehlern und Irrtümern. Noch immer glauben zahllose Menschen, man hätte die Erde im Mittelalter für eine Scheibe gehalten oder im Mittelalter reihenweise Hexen verbrannt, aber wie kommt derlei, wenn nicht daher, dass immer wieder Leute nachsagen, was sie Falsches von Anderen gehört haben, ohne es einmal zu prüfen. Und auf diese Weise verbreiten sich nicht nur Irrtümer, auf diese Weise werden oft genug Unsicherheit, Angst und Hass geschürt. Sollte morgen irgendwo ein Auto in eine Menschenmenge fahren, es werden keine fünf Minuten vergehen, ehe drei Leute auf Twitter behaupten werden, es wäre dabei der Ruf „Allahu Akbar!“ erklungen, und diese Posts werden rasante Verbreitung finden, die Öffentlichkeit, auch viele Medien und Politiker werden gewiss nicht abwarten mit ihren Urteilen, bis die Lage auch nur halbwegs geklärt ist. Jüngst erst gab es große Aufregung wegen angeblicher Krawalle in einem Freibad, die von fünfzig bis sechzig nordafrikanischen Jugendlichen ausgegangen sein sollen, nun lese ich, dass bloß ein paar Jugendliche eine Wasserrutsche blockiert haben sollen und dass es offenbar nur zwei Ermittlungsverfahren gegen zwei, wohlgemerkt deutsche, junge Männer wegen Beleidigung und Bedrohung gibt – aber anstatt abzuwarten, anstatt erst einmal zu recherchieren, kurzum, anstatt gewissenhaft ihre Arbeit zu machen, haben verschiedene Medien gleich aufgeregte Schlagzeilen fabriziert, haben sich auch die Tagesthemen auf diese angeblichen Geschehnisse gestürzt, obwohl doch das öffentlich-rechtliche Fernsehen einen Bildungsauftrag hat, der immerhin durch unser aller Gebühren bezahlt wird. Zu viele Menschen haben heute kein Gewissen, wenn es darum geht, was sie als wahr behaupten, sie schwätzen gedankenlos daher (um von denen zu schweigen, die ganz bewusst und mit voller Absicht lügen), ja viele lenken selbst dann nicht ein und gestehen ihren Irrtum nicht, wenn erwiesen wird, dass sie falsch lagen.

Soll sich dies einmal ändern, müssen Andere aufstehen, die sich dem blinden Gemeine verweigern und die höhere Ansprüche an sich selbst stellen, wenn sie reden. So jemand ist Greta Thunberg. „We have to tell it like it is“¹³, sagt sie. Sie beschönigt nicht, sie lässt nicht absichtlich weg oder stellt verfälscht dar, sie gibt auch nicht unüberlegt Vorurteile wieder, sondern sie gibt ihr Bestes, wahr zu sprechen. Möglich, dass sie trotzdem mitunter irrt; ich habe anderes zu tun, als jede ihrer öffentlichen Äußerungen zu verfolgen und dann auch noch zu überprüfen (allerdings ist es auffällig, dass ihre Feinde, die sich doch gewiss auf jede erweisliche Falschaussage hämisch stürzen würden, Thunberg immer nur im Allgemeinen angreifen, ihr vorwerfen indoktriniert zu sein, den Klimawandel leugnen und dergleichen mehr; nirgends kam es mir bisher unter, dass irgendjemand drauf hingewiesen hätte, hier habe Thunberg eine falsche Zahl genannt, hier bei der Wiedergabe irgendeines wissenschaftlichen Datums geirrt). Aber wenn sie auch einmal irren sollte, so strebt sie doch redlich, die Wahrheit zu sprechen. Und das ist mehr, als man von den meisten öffentlich Sprechenden sagen kann. Wenn es nur gelänge, dieses Streben in den Menschen oder auch nur in den meisten, ja selbst nur in einer kleinen Schar zu begründen – und es ist zu hoffen, dass Thunbergs gutes Beispiel seinen Teil hierzu tun wird, so wie ich den meinen zu tun suche –, dann wäre schon unendlich viel gewonnen. Ihre Feinde, deren Angriffe ich oben wiederholte, haben kein solches Streben. Dass er Thunbergs Fühlen aus der Ferne wenig beurteilen kann, weiß jeder selbstehrliche Mensch sehr gut, auf welcher Grundlage also könnte er dazu kommen, ihr ein solches abzusprechen? Wenn er dann noch von ihren Depressionen hört – und das tut jeder, der sich nur oberflächlich mit ihr beschäftigt –, wird er nicht mehr behaupten können, sie fühlte nicht. Ebenso könnte niemand ihr Dummheit oder Unwissenheit vorwerfen, der vor dem Verfassen solch einer öffentlichen Beleidigung einmal kurz das Internet bemühte: Die Noten ihres letzten Zeugnisses findet man leicht, die oben zitierte Aussage des Kevin Anderson steht bereits in Thunbergs Wikipedia-Artikel. Gegner Thunbergs! Wenn ihr diese Zeilen lest, dann schäumt ihr wahrscheinlich längst. Anstatt nun auch mich zu schmähen, wie ihr sie schmäht, beweist einmal, dass ihr besser seid, als man von euch denkt! Wenn Thunberg tatsächlich falsch liegt, wenn es am Ende gar wahrhaftig keinen Klimawandel geben sollte, so zeigt uns dieses und beweist es uns! Und tut dies in besonnenen und wohlgewählten Worten, tut dies, nachdem ihr euch gründliche Kenntnisse der Materie verschafft habt! Dann wird man auch beginnen, euch ernst zu nehmen und mit euch in Diskurs treten! So ihr recht habt, sollte dies ja ein Leichtes sein! Und so ihr keine bösen und bis ins Mark verdorbenen Menschen seid – und das wollt ihr doch gewiss nicht sein? –, könnt auch ihr nicht wollen, dass Unsachlichkeit, Beleidigungen und offenbar falsche Anschuldigungen den Diskurs bestimmen, vielmehr sollte doch deren Verurteilung und Vermeidung das Eine sein, worauf alle Menschen sich einigen können, gleich welchem Lager sie angehören! Sollte, wenn sie nur redlich wären. Aber vielleicht ist ja Redlichkeit mit manchen Lagern und gewissen Meinungen schlechterdings nicht vereinbar…

 

II.

Ich sagte bereits, dass es Thunberg um die Sache geht. Sie ist geleitet von einer Idee. Und dies ist das zweite Aufgeklärte, das ich an ihr hervorheben möchte. Dabei möchte ich ganz davon abstrahieren, welches diese ihre Idee ist. Ich weiß, dass das vielen schwerfallen wird, da der Unaufgeklärte ja so gerne die Dinge vermauschelt und sich so schwer tut, sie sauber zu trennen. Aber ich ersuche dich, Leser, es einmal mit mir zu tun: Vergiss für die Dauer dieser Lektüre wenigstens, dass Thunberg für das Klima kämpft. Ihrem konkreten Anliegen möchte ich mich in einem eigenen Beitrag widmen. Hier in diesem Text soll sie nur persönlich in Betracht kommen. Was ich nun sagen werde, dem muss daher jeder beipflichten können, selbst dann, wenn er Thunberg für fehlgeleitet halten und etwa den Klimawandel leugnen sollte.

Der Philosoph kann die Menschen in zwei Klassen einteilen: Die Materialisten und die Idealisten. Erstere kennen und sehen nur die materielle Welt, die wir mit unseren natürlichen Sinnen umfassen. All ihr Tun und Denken ist daher auf das Gegebene und Stoffliche ausgerichtet. Der Idealist hingegen hat neben seinen körperlichen Sinnen gleichsam noch einen geistigen, was er schaut und worin er eigentlich lebt, das ist eine Idee. Die materielle Welt existiert für ihn nur als ein bloßer Rohstoff, der nach dieser Idee zu formen ist. Welches genau die Idee ist, die den Idealisten leitet, darin unterscheiden sich die verschiedenen Individuen: Dem Künstler schwebt vor die Idee eines bestimmten Werkes, er mag die Idee des Schönen schauen oder die Idee des Erhabenen, sein Stoff, das ist vielleicht ein Steinblock, vielleicht sind es Töne, vielleicht die Wörter einer Sprache, was immer es sei, er nimmt, was diese sinnliche Welt ihm darbietet, aber er nimmt es nur, um seine Idee darin zu versinnlichen, auf dass auch Andere sie schauen können. Hierin unterscheidet er sich vom Kunst treibenden Materialisten, der immer nur die Natur, mal besser, mal schlechter, wird kopieren können und der auch nur auf Natur ausgehen wird: der vielleicht unterhalten will, vielleicht seine Überzeugungen verbreiten oder dergleichen. Der Regent – nicht der Politiker, wie wir ihn heute haben, sondern der wahrhafte Regent – schaut die Idee des Rechts, der bürgerlichen Freiheit, der vollendeten Republik und er sucht, die Gesellschaft und die Verhältnisse der Menschen nach dieser Idee zu gestalten. Zum Unterschiede von all jenen Politikern, die nur, erfolgreicher oder weniger erfolgreich, die Natur des Menschen und die Gesellschaft, wie sie sie eben vorfinden, irgendwie ordnen können und die irdische Ziele verfolgen, es sei ihre persönliche Bereicherung, es sei das physische Wohl der Menschen. Der sittliche und heilige Mensch schaut die Idee des Guten und es ist diese, die er in der Menschenwelt verwirklichen will durch sein gutes, ja heiliges Tun. Er ist nicht zu verwechseln mit dem, der zum Guten nur durch die Natur, durch sein tierisches Mitleid etwa, getrieben wird und der unter dem Guten auch nur eine Korrektur der Natur, also etwa die sinnliche Beglückung seiner Mitmenschen versteht. Dem Religiösen ist aufgegangen die Idee Gottes, die Idee von der Einheit und Heiligkeit der ganzen Schöpfung. Der Materialist kann der Natur keine Religion entnehmen und daher von sich aus keine haben, ist aber ihr Bild durch einen Idealisten einmal an ihn gekommen, so wird er daraus höchstens eine pervertierte Fratze schaffen und ein falsches System der Natur zusammenphantasieren, wonach irgendein unsichtbarer Zauberer seine, meist indifferenten, Taten belohnt oder bestraft. Der wissenschaftliche Mensch lässt sich von der Idee der Wahrheit leiten und sucht eben diese zu finden, ob in diesem Felde oder in jenem. Er ist nicht gleich dem bloßen Gelehrten und historischen Kundler, der die materielle Welt gründlich durchkämmen und viele Daten sammeln mag, aber nie ein Gesetz formulieren wird und der auch nicht aus Wahrheitsliebe sucht, sondern vielleicht aus privater Eitelkeit, vielleicht um des Broterwerbs willen, vielleicht um den Menschen damit zu nutzen oder warum auch immer sonst. Von einem solchen Idealismus weiß die Mehrzahl nichts. „Und doch erwachen immer wieder Einige, die sich im Hinblick auf das vergangene Grosse und gestärkt durch seine Betrachtung so beseligt fühlen, als ob das Menschenleben eine herrliche Sache sei, und als ob es gar die schönste Frucht dieses bitteren Gewächses sei, zu wissen, dass früher einmal Einer stolz und stark durch dieses Dasein gegangen ist, ein Anderer mit Tiefsinn, ein Dritter mit Erbarmen und hülfreich — alle aber Eine Lehre hinterlassend, dass der am schönsten lebt, der das Dasein nicht achtet. Wenn der gemeine Mensch diese Spanne Zeit so trübsinnig ernst und begehrlich nimmt, wussten jene, auf ihrem Wege zur Unsterblichkeit und zur monumentalen Historie, es zu einem olympischen Lachen oder mindestens zu einem erhabenen Hohne zu bringen; oft stiegen sie mit Ironie in ihr Grab — denn was war an ihnen zu begraben! Doch nur das, was sie als Schlacke, Unrath, Eitelkeit, Thierheit immer bedrückt hatte und was jetzt der Vergessenheit anheim fällt, nachdem es längst ihrer Verachtung preisgegeben war. Aber Eines wird leben, das Monogramm ihres eigensten Wesens, ein Werk, eine That, eine seltene Erleuchtung, eine Schöpfung: es wird leben, weil keine Nachwelt es entbehren kann. In dieser verklärtesten Form ist der Ruhm doch etwas mehr als der köstlichste Bissen unserer Eigenliebe, wie ihn Schopenhauer genannt hat, es ist der Glaube an die Zusammengehörigkeit und Continuität des Grossen aller Zeiten, es ist ein Protest gegen den Wechsel der Geschlechter und die Vergänglichkeit.“¹⁴ Thunbergs Idee ist die Idee vom Schutze dieser Erde und des Lebens, doch wie ich schon sagte, soll es hier nicht um ihre Idee gehen, sondern um ihren Idealismus überhaupt, der Umstand also, dass sie ganz in ihrer Idee und für diese Idee lebt, wohingegen ihr kleines Ich und dessen Neigungen keine Rolle für sie spielen, wie deutlich wird, wenn sie etwa auf die Frage, ob sie all die Aufmerksamkeit genieße, antwortet: „Not really. I – I don’t really like being in the centre of attention. I find it hard sometimes with – with all the attention and people everywhere. But I – I can’t really complain because I’ve put myself in this situation, so… And it’s – it’s a small price to pay, knowing that you – you have an impact. And I – if that is something I – I have to do in order to continue doing this, then I don’t mind.“¹⁵ Des Idealisten, des Sittlichen „Charakter ist Selbstlosigkeit. Selbstverläunung ist viel zu wenig gesagt, indem es anzeigt einen Akt und ein Werden; welches aber durchaus nicht Statt findet, denn der Sittliche hat kein Selbst.
[…]
Daß es so sei, ist schon oben gezeigt, und geht daraus hervor als eine Folge. Das Ich ist ein substantes Ding an sich, das wieder hat seine Accidenzen, seine Folgen, Forderungen u. s. w. Ein Lebensprincip, das sich selbst erhalten will. Dies eigene Leben ist zufolge des sittlichen Willens aufgegangen in das des Begriffs, des Pflichtgebots: das in diesem abgebildete Leben lebt an der Stelle dieses erscheinenden Ich, das Ich ist nichts mehr, als das Eintreten jenes Bildes in die Sphäre der Wirklichkeit; wäre aber in diesem Ich kein Leben abgebildet, so ist eben an dieser Stelle kein Leben, keine Regung, sondern es ist todt, denn für sich und ohne ein im Begriffe vorgebildetes Leben kann es durchaus nicht anfangen einen wirklichen Zustand.
So fassen Sie es scharf: das Ich ist Princip seiner Wirklichkeit: entweder durch sich; (freilich auch nur in der Erscheinung:) dann ist das Ich unsittlich; oder schlechthin nicht durch sich, sondern durch das im Begriffe liegende Bild. In dieser letzten Weise ist darum durchaus kein Selbst und kein Gefühl desselben; noch eine Liebe, oder des Etwas, die ertödtet werden müßte.“¹⁶ Die Selbstlosigkeit des sittlichen Menschen, von der unsere vom Selbst besessene Zeit so wenig weiß, spricht deutlich aus allen Äußerungen Thunbergs. Als sie etwa gefragt wurde, ob jemand konservativ, rechts und zugleich ein Kämpfer für den Umweltschutz sein könne, da fing sie nicht an, rumzumeinen und private Gedünkel auszusprechen, wie es die meisten grünen Politiker oder Umweltaktivisten an ihrer Statt getan hätten, sondern ihre Antwort lautete: „That is not for me to say. I am only communicating the scientific facts. This question is probably not possible to answer without personal opinion and I leave that to others.“¹⁷ Wenn Greta Thunberg öffentlich spricht, dann spricht nicht Greta Thunberg, es spricht durch ihren Mund die Vernunft. Sie sagt nie ihre Meinung, sondern sie sagt, was wahr und geboten ist. Wer dies nicht sieht und begreift, der kann über Thunberg nicht sprechen, denn der sieht und begreift gar nichts an ihr. Aber es ist fast niemand, der dieses sieht und begreift, man nimmt sie als eine Weitere, die eben ihre Meinung hat und für ihre Meinung Radau macht, das findet man dann, je nach eigener Meinung, großartig und begrüßenswert oder fürchterlich und zum Ärgern. Dabei ist wohl Niemand sonst derzeit in der Öffentlichkeit, der sich derart redlich bemüht, alles Persönliche außen vor zu lassen und nur Sprachrohr der Wahrheit zu sein. Man sollte Thunberg entsprechend behandeln. Doch die Materialisten verstehen dies nicht, denn für sie gibt es nur das persönliche materielle Selbst, aus dem kein Mensch heraus kann, Übersinnliches und damit Wahrheit kennen sie nicht. Und das, was sie hieran zwar nicht verstehen, aber immerhin fühlen, das treibt viele, die die Bedrohung für ihren Materialismus und die ihre eigene Nichtswürdigkeit fühlen, nur zur Feindschaft.

Es ist klar, dass der Materialist immer unaufgeklärt, dass jeder Aufgeklärte ein Idealist ist. Nur wenn ich eine Idee habe und mein Leben dieser widme, leite ich mich ja selbst. Der Materialist mag sich frei wähnen, wenn er seine Bedürfnisse befriedigen, seinen Neigungen nachgehen kann, denn etwas Höheres als die materielle Welt und das physische Wohlsein oder Unwohlsein kennt er ja nicht. Aber in Wahrheit ist er, wenn er derart auf seinen Genuss und seinen Vorteil im niedersten denkbaren Sinne aus ist, doch nur abhängig von seinen Neigungen und Trieben, also gerade von jener Materie, an die allein er glaubt. „Frei, absolut schöpferisch ist nur der, dessen Handeln solche Begriffe zu Grunde liegen, die nicht stammen aus der Sphäre des gegebenen Seyns: – der da handelt aus Begriffen, die klar und durchschaut ihm vorschweben, und diese darstellt in der Welt der Gegebenheit. (Ausserdem ist es ja die Sinnennatur, die im Bilde nur wiederholt, sich auch im Seyn wiederholt.)“¹⁸ Spricht die Natur in mir: Friss! und ich fresse, so bin ich wohl kaum frei zu nennen. Und ich kann leicht zum Verbrecher werden, falls ich nämlich, um zu fressen, einem Anderen das Seine wegnehme. Verzichte ich aber darauf, ihn zu bestehlen, obwohl die Natur in Gestalt des Hungers mich dazu drängt, weil ich der Idee des Guten und des Rechts folge, so bin ich über die bloße Neigung erhaben und frei, mithin aufgeklärt.¹⁹

Genauso klar ist, dass alles Große, das je von Menschen getan wurde, nicht von Materialisten getan wurde, die Sklave ihrer sinnlichen Neigung waren, sondern von Idealisten. Eine Idee war es, die die Odyssee schuf. Eine Idee predigte Jesus den Menschen. Eine Idee ließ einen Newton seine Entdeckungen machen. Eine Idee lag den Verfassungen der USA und Frankreichs zugrunde, die zuerst das Menschenrecht proklamierten. Martin Luther King sprach es in seinen berühmten Worten aus, als er sagte: „I have a dream“²⁰, wobei Traum, Vision, Gesicht stets dasselbe besagt wie Idee: Ein der Vernunft entnommenes Bild, das einem vorschwebt und das man in die Wirklichkeit zu bringen sucht.

Zum klaren Beweise, in was für unaufgeklärten Zeiten wir leben, leben wir in Zeiten, denen aller Idealismus fremd ist. Fremd, sage ich, denn es ist nicht bloß so, dass die Menschen heute keine Idealisten sind – das waren immer nur die Wenigen, denen die anderen freilich Alles danken –, man kennt den Idealismus vielfach gar nicht, man kann sich nicht vorstellen, dass es so etwas überhaupt gibt. Kommt er einem doch unter oder wird auch nur davon geredet, dann sucht man gerne, ihn zu diskreditieren, nachzuweisen, dass der Idealist doch gar keiner ist, sondern nur auf komplizierte Weise seiner Neigung und seinem Egoismus folgt,²¹ oder man tut den Idealismus ab als Spinnerei, als weltfremd, als unrealistisch, denn man ist heute allem Idealismus feind. Gerade das letztere geschieht in der Tat auch jetzt im Umgang mit Thunberg. Es ist darauf zu antworten: Freilich ist der Idealismus weltfremd. Die Welt, das ist ja eben das Materielle, das, was dem Idealisten nur der Ton ist, aber wovon er sich nicht bestimmen lässt. Freilich ist der Idealismus unrealistisch. Er behauptet nicht, dass seine Idee real wäre. Nein, sie ist, so gewiss sie Idee ist, bloß ideell. Real ist das Materielle. Aber die Idee soll real sein, das Materielle soll nicht länger sein, wie es ist. Alles menschliche Handeln, selbst im Kleinen, setzt voraus, dass sich da jemand nicht in die Realität fügt, sondern dass er ein Ideal vor Augen hat und die Realität umformt, bis dieses real wird: Einst stand vielleicht einer vor einem Fluss und träume, auf die andere Seite zu gelangen. Seine Mitmenschen taten das vielleicht ab und sagten ihm, die Realität sehe nun einmal so aus, dass er hier stehe und nicht auf der anderen Seite. Aber es waren nicht diese Realisten, die am Ende die Brücke bauten, es war der Träumer. Die Realisten, wären sie nur konsequent, wären nicht auch sie ein kleines Stück weit Idealisten, wären nicht lebensfähig: Wenn ich Hunger habe, so ist schließlich das und nur das die Realität; ein voller Magen ist keine Realität, sondern etwas, das ich mir in jenem Moment erträume, aber dieser Traum erst lässt mich aufstehen und zum Kühlschrank gehen, um mir etwas zu essen zu beschaffen. Heute bilden sich viele etwas ein auf ihren Realismus oder Pragmatismus oder wie immer sie es jeweils nennen mögen. Nichts anderes will es ja besagen, wenn Ausgewachsene Thunberg und Anderen Mangel an Lebenserfahrung vorwerfen, wenn sie sagen, ja ja, als Jugendlicher rebelliere man noch, später sehe man die Welt anders. Anders, das heißt hier materialistisch. Denn was kann einen Erfahrung denn alleine lehren? Immer nur wie es ist, niemals aber, wie es sein soll, denn davon spricht nur die Vernunft, nicht die Erfahrung. Nun ist es nicht ohne Wert, das erste zu wissen. Der, der eine Brücke über den Fluss baute, musste den Fluss, den Boden, das Material kennen. Der, der sich Essen beschaffen will, muss wissen, ob noch welches im Kühlschrank und, ist dies nicht der Fall, wo der nächste Laden zu finden ist. Aber wer nur wüsste, was gerade ist, wer nicht das leiseste Streben hätte, etwas anders zu machen, der würde niemals tätig werden und, wie schon gesagt, verhungern. Die Abgeklärten mögen sich besonders klug dünken, wenn sie heute auf Thunberg schimpfen, wenn sie behaupten, so und so funktioniere die Welt nun einmal nicht. (Gewiss sind sie klug, gerade so klug, wie es die Leute waren, die nicht das Ideal vom Fliegen im Sinn hatten und die die Erfinder von Ballon und Flugzeug beschworen, der Mensch könne doch nicht fliegen, das sei nun einmal die Realität und das wisse man auch aus aller bisherigen Erfahrung.) In Wahrheit sind sie bloß, was alle Unaufgeklärten sind: Faul; arbeitsscheu verleugnen sie das Ideal, weil seine Verwirklichung ihnen zu anstrengend ist. Obendrein sind sie verlogen, denn sie stellen die momentane Realität als gottgegeben und notwendig hin, sie unterschlagen, dass jene Erfahrung davon, wie die Welt eben ist, auf die sie sich berufen, nur existiert, weil sie die Welt zu dem machen, was sie gerade ist, und dass die Welt eine andere wäre, wenn sie sie anders machen würden. Daher kann nichts „Schädlicheres und eines Philosophen Unwürdigeres gefunden werden, als die pöbelhafte Berufung auf vorgeblich widerstreitende Erfahrung, die doch gar nicht existiren würde, wenn jene Anstalten zu rechter Zeit nach den Ideen getroffen würden, und an deren Statt nicht rohe Begriffe, eben darum, weil sie aus Erfahrung geschöpft worden, alle gute Absicht vereitelt hätten.“²² Nun, hier ist eine Halbwüchsige, die noch ein Ideal hat, die noch nicht klug ist, die sich noch nicht in die Fakten gefügt und vergessen hat, dass Faktum ein Gemachtes ist und dass das, was gemacht ist, auch leicht anders gemacht werden kann. Die mangelnde Lebenserfahrung, die die Rassisten den Jungen so gerne vorhalten, ist hier nicht Schwäche, sondern Stärke, sie bedeutet, dass der Blick noch nicht verstellt wurde vom blöden So-ist-es-nun-einmal, sie bedeutet, dass das Herz noch nicht zum Verstummen gebracht wurde. Jeder Kluge und Erfahrene hätte Thunberg gesagt – und vielleicht hat es ihr tatsächlich jemand gesagt –, dass ein Kind nichts bewegen könne und dass es nichts erreichen werde, die Schule aus Protest zu schwänzen. Die Klugen waren hier so dumm wie jene anderen Klugen, die das Fliegen für unmöglich erklärten. Warum sollten sich die Klugen nicht fernerhin als dumm erweisen? Zu wünschen ist hier zweierlei: Dass Thunberg noch weiter die Schule schwänzt, denn deren Hauptzweck ist es bei uns, dem Kinde den Eigensinn auszutreiben, es zu brechen, anzupassen und gleichzuschalten, damit es nicht auf den Gedanken komme, eine bessere Welt zu schaffen, sondern die verderbte seiner Erzieher aufrechterhalte. Und es ist zu wünschen, dass Thunbergs Beispiel die Menschen erinnert, was Idealismus ist, dass es überhaupt so etwas gibt wie Idealismus. Es ist zu hoffen, dass es auch dank ihr künftig wieder mehr Idealisten auf der Welt geben wird, sie mögen nun dem Ideal des Umweltschutzes oder anderen Idealen anhängen, für die zu kämpfen es wert ist. Diese Idealisten wären die Sittlichen und die Einzig-Sittlichen. „Sittliches Gesetz demnach ist Bild eines Uebersinnlichen, rein Geistigen, also eines Solchen, das nicht ist, sondern nur durch den absoluten Anfänger des Seyns, den Willen, werden soll.
Wahrhaft frei, als Handelnder, ist nur der, welcher nach solchen reinen Begriffen handelt. Denn ein Naturgesetz, das ihn triebe, könnte sich nicht verstecken, da das Kriterium des sittlichen Begriffes dies ist: durchaus nicht irgend ein Seyendes, sondern ausdrücklich das Nichtseyende zu enthalten. Und nur so auch ist er seiner Freiheit sicher.“²³

Es dürfte lohnend sein, einige Merkmale des Idealisten an Thunberg zu beschreiben. Dies wird zugleich helfen, sie selbst besser zu verstehen, und dazu beitragen, den Idealismus zu begreifen.

1) Thunberg ist das Musterbeispiel eines Menschen, der für das Gute kämpft, schlechthin, weil er es als gut erkannt hat. Man kann freilich ihrem Urteil widersprechen, man kann den Kampf gegen den Klimawandel für falsch, diesen für einen Schwindel halten. Ich kann nur immer wieder erinnern, dass es hierum nicht geht: Meinethalben saß Thunberg einem Schwindel auf. Sie wenigstens, das wird auch ihr Gegner ihr nicht absprechen können, glaubt, für das Gute zu kämpfen. Und dies mit der schon oben erwähnten Redlichkeit.

Und tatsächlich habe ich bei aller Kritik, vielmehr bei allen Anfeindungen, denn eine vernünftige Kritik an Thunberg habe ich noch nicht gehört (und wie sollte diese auch aussehen?) – bei allen Anfeindungen, sage ich, habe ich tatsächlich nie erlebt, dass jemand Thunbergs Integrität in Frage gestellt hätte. Über irgendwelche Hintermänner wird gerne geredet. Ihre Eltern sollen sie manipuliert haben. Irgendwelche PR-Leute und professionelle Umweltschützer sollen sich an ihr eine goldene Nase verdienen. Hinter ihrer ganzen Kampagne sollen Lobbyverbände stehen. Ja, ich las sogar einmal, die Grünen hätten Thunbergs Protest als Wahlkampfhilfe für ihre Partei ersonnen – ganz recht, die deutsche Grünen, deren Einfluss doch recht überschaubar ist, sollen dieses schwedische Mädchen in den Kampf gegen den Klimawandel geschickt haben. All dies mag stimmen, meinetwegen. Dann ist Thunberg also fehlgeleitet, schadet vielleicht am Ende dem Menschengeschlecht. Aber ihre Absichten sind doch edel. Edler gewiss als die all derer, die sie beschimpfen. Deren Hauptabsicht, selbst wenn sie recht hätten und es keinen Klimawandel gäbe, ist ja offenkundig nicht die Durchsetzung der Wahrheit, deren Hauptabsicht ist, die eigene Bequemlichkeit und Verantwortungslosigkeit fortleben zu können: Sie wollen schlicht an ihrer Lebensweise nichts ändern müssen. Thunberg ist besser als alle Diese, ja besser als so gut wie jeder Mensch, der derzeit in der Öffentlichkeit steht. Ihre Feinde, die rechts stehen, sind durch die Bank verlogenes Gesocks, das ist hinlänglich bekannt, das wissen diese auch selbst. Von einem, der gegen Flüchtlinge wettert und behauptet, sein Land und seine Werte verteidigen zu wollen, wird niemand ernsthaft behaupten können, er erstrebe das Gute, er sei vielleicht fehlgeleitet, irre darüber, was gut ist, aber meine es jedenfalls gut. Der Pegidagründer, den ich nicht durch Nennung seines Namens in einem philosophischen Text ehren werde, ist für seine Straftaten, für die versäumten Unterhaltszahlungen für seinen Sohn und dafür bekannt, an Pegida gut verdient und sich mit seinem Geld nach Teneriffa abgesetzt zu haben. Die AfD ist voll von Leuten, denen es nicht in erster Linie um Deutschland geht, in welchem pervertierten Sinne auch immer, sondern um Ämter und Diäten; ich wüsste auch nicht, dass einer der vielen, die sich mit ihrer Partei überworfen haben, je den Anstand besessen hätte, hinterher von einem Parlamentssitz zurückzutreten, für den die Wähler ihn als Vertreter eben jener Partei bestimmt hatten, der er nun nicht mehr angehörte. Und ich brauche wohl kaum an die Ibiza-Affäre zu erinnern, die jüngst Österreich erschütterte, und daran, dass der Chef der dortigen Rechtsextremisten – auch ihn brauche ich nicht durch Nennung seines Namens als wichtiger erscheinen zu lassen, als er ist – nur allzu bereit war, seine Nation an russische Oligarchen zu verschachern, um sich ein Pöstchen zu sichern. Was immer die Rechten anderen an Unehrlichkeit und Volksverrat vorwerfen mögen, es gibt nicht Einen von ihnen, von dem man zu sagen vermöchte, dass man seine Ansichten ablehnt, aber ihn als Person bewundern muss – und ich fordere die Rechten, die angesichts dieser Zeilen mit empört geballten Fäusten und zusammengebissenen Zähnen vor dem Bildschirm sitzen, nicht zu schimpfen, sondern mir ein Gegenbeispiel vorzuhalten, um mich zu widerlegen. Übrigens möchte ich hiermit ausdrücklich nicht die politische Linke verteidigt haben. Man schaue sich einmal um in der Politik. Wo wäre da – von Hinterbänklern, von Leuten in irgendwelchen Ortsvereinen rede ich nicht, sondern von den bekannten Gesichtern, von Parteichefs, Ministern, Generalsekretären –, wo wäre da ein einziger, gleich in welcher Partei, gleich ob links oder rechts, von dem man ernstlich sagen könnte, er sei ein Idealist, er verfolge ehrlich eine Sache – dahingestellt, ob man selbst diese für eine gute oder eine schlechte Sache halten wollte, genug wenn er sie für gut hielte – und nicht in erster Linie seine eigene Karriere? Es gibt auf der politischen Bühne kaum einen Menschen, der integer ist und der aufrecht nicht für sein gutes Image, seinen Geldbeutel oder seine Macht, sondern für seine Überzeugung kämpft. Thunberg aber, das wenigstens kann ihr keiner absprechen, ist ein solcher Mensch. Das ist das Erfrischende an ihr. Das ist auch, was sie so erfolgreich macht, denn es gibt gewiss genug Andere, selbst unter den Politikern, die von Umwelt faseln, doch wie viele sind darunter, denen man das abnehmen wollte? Ihr nimmt man es ab und es scheint viele Menschen zu geben, die sich nach eben solcher Integrität gesehnt haben – und dass es diese gibt, dass also Thunberg nicht allein gegen die ganze Zeit steht und in dieser Zeit untergehen muss, sondern dass sie in dieser Zeit wirken kann, das stimmt mich hoffnungsvoll für die Sache der Vernunft und, so darf ich sagen, auch für mein eigenes Wirken.

Die Integrität, von der ich spreche, zeichnet stets den Idealisten aus. Dies ist ja notwendig: Er geht ganz in seiner Idee auf. Die materielle Welt existiert für ihn nicht mehr, außer als Stoff für die Verwirklichung dieser Idee, was also an ihr sollte ihn reizen können? Nur seine Idee lockt ihn, er selbst betrachtet sich, so wie der niedere Mensch sich selbst nur als Werkzeug zur Befriedigung seiner Lüste nimmt, als Werkzeug zur Erreichung der Idee. Nach Gütern der sinnlichen Welt mag er noch mitunter streben, aber nicht um sein selbst willen, sondern nur, weil sie ihm notwendige Mittel sind: So wird sich Thunberg vielleicht freuen, wenn sie einen hochdotierten Preis gewinnt, aber nur, weil sie nun noch mehr Geld für eine gute Sache spenden kann. Sie mag essen, aber sie würde nie der Völlerei verfallen, „Essen sehe ich als Notwendigkeit. Ich brauche Treibstoff“²⁴, das ist, was sie hierzu zu sagen hat. Wenn sie für ihr Tun Aufmerksamkeit erhält, wenn Alles über sie redet, so wird sie auch darüber froh sein, aber niemand wird ernstlich behaupten können, sie genieße die Aufmerksamkeit als solche, stehe gerne im Rampenlicht und tue gar am Ende all dies vornehmlich der Berühmtheit wegen. „Aufmerksamkeit für mich selbst ist nicht wichtig. Es geht um das Klima“²⁵, sagt sie. „I don’t care about being popular. I care about climate justice and the living planet.“²⁶ Die mit dem Asperger-Syndrom diagnostizierte Thunberg, die von sich sagt: „I am an introvert; privately I am very shy, and I don’t speak unless I have to. I think now I just decide to do things and once I decide to do that I do it, I don’t think twice. So when I speak in front of thousands, tens of thousands of people, I don’t really get nervous because I know what I want to say and I know what message I want to give. But privately, I don’t speak unless necessary.“²⁷ – Thunberg, die wenig Kontakt zu anderen Menschen pflegt, sondern lieber mit ihren Hunden spielt: sie könnte auf persönlicher Ebene wohl gut auf all den Rummel verzichten, der sie nun umgibt. Aber: „Ich muss es akzeptieren. Jeder Artikel über mich und jedes Fernsehinterview bedeutet öffentliche Aufmerksamkeit für die Klimakrise. Und dieses Thema braucht viel mehr Aufmerksamkeit. Es geht um Leben oder Tod.“²⁸ Anders gesprochen: Dies ist eine wichtige Situation, in das Sprechen „necessary“²⁹ ist.

Thunberg steht nur für sich selbst, sie ist mit keiner Partei, keiner politischen Strömung, keiner Ideologie oder Bewegung verbandelt. „I think we can safely say that all ideologies have failed“³⁰, urteilt sie und bekundet damit mehr Freiheit des Geistes und Klarheit des Blicks und nicht zuletzt mehr Reife als die meisten Ausgewachsenen (eingeschlossen nicht nur ihre Gegner, sondern auch viele bei Fridays for Future), die meinen, schon zu wissen, wie die Welt funktioniert und was richtig ist, was falsch. Es will mir selbst verfehlt erscheinen, sie einen Teil von Fridays for Future zu nennen, auch wenn sowohl diese Bewegung als auch sie selbst mir hierin vielleicht widersprechen würden. Fridays for Future entstand nach Thunbergs Beispiel, gewiss. Die dort streikenden Schüler haben es ihr nachgetan. Und sie wiederum hat oft genug mit ihnen gestreikt und auf ihren Demonstrationen gesprochen, nicht nur in ihrer eigenen Heimat. Und doch scheint sie mir ein wenig außerhalb oder besser vielleicht: oberhalb und jenseits des Ganzen zu stehen. (Wie es notwendig ist in diesen Dingen: Thunberg ist so wenig Teil von Fridays for Future, wie man Jesus einen Christianer nennen kann – um einmal einen Vergleich anzustellen, von dem ich weiß, dass er die aufregen wird, die ständig über die „Klimareligion“ und den „Greta-Kult“ schimpfen; übrigens werde ich in einem späteren Beitrag, in dem ich Thunberg und ihren Protest als Ereignis betrachten will, noch darauf zu sprechen kommen, was davon zu halten ist, wenn sie als Prophetin beschrieben wird.) Es ist nur die Oberflächlichkeit, die Greta Thunberg und Fridays for Future nicht getrennt voneinander betrachten und beurteilen kann. Thunberg ist keineswegs an die Entwicklung dieser Bewegung gebunden, noch ist andersherum diese Bewegung von ihr abhängig, und es wäre sehr wohl vorstellbar, dass Thunberg künftig einmal einen gewissen Abstand zu dieser Bewegung einnehmen wird, sollte diese sich in eine andere Richtung entwickeln und sich der in dieser Sache nötigen und Thunberg selbst zu großen Teilen eigenen Radikalität verweigern. Schwerlich vorstellen kann ich mir hingegen – wobei ich einzig einen geringen Einblick in die Vorgänge bei den berliner Fridays for Future-Demonstrationen habe und nichts über jene in Schweden sagen kann; doch schon die geringere Zahl an Teilnehmern bei den Protesten in Stockholm dürfte zur Folge haben, dass sich dort weniger feste Organisationsstrukturen herausbilden –, dass Thunberg, die von sich sagt, „I don’t like being social“³¹, viel Zeit in Organisationsteams und Gremien, mit internen Machtkämpfen und dem üblichen Hickhack verbringt, die zu derlei stets dazugehören. Dass sie derart unabhängig und überparteilich ist, spricht ebenfalls für ihre Aufgeklärtheit: Extremes Gegenstück der Aufklärung ist der Faschismus, hier geht der Mensch ganz in einer gleichgeschalteten Masse auf; je mehr sich dagegen jemand aufklärt, desto mehr wird er seine Individualität ausbilden und seine Persönlichkeit betonen. Aufgeklärte Menschen mögen verwandte Anliegen haben, sie mögen darob zusammenarbeiten, sie mögen miteinander befreundet sein – tatsächlich sind nur sie zu echter Freundschaft fähig –, aber sie sind doch alle in höchstem Grade Individuen und ein jeder von ihnen geht seinen eigenen Weg. Das eben bedeutet ihre Aufklärung: Dass sie zu sich selbst gefunden haben, dass sie, mit Nietzsche gesprochen, geworden sind, der sie sind. Es erscheint mir umso wichtiger, dies zu betonen, als ich damit einem Missverständnis begegne, das sich angesichts des oben Gesagten ergeben könnte: Ich sprach von Selbstlosigkeit, vom Aufgehen in der Idee. Und ich möchte dies nicht zurücknehmen oder relativieren. Aber jenes Selbst, das der sich aufklärende Mensch ablegt, das ist nur das, was an ihm selbst gerade nicht er selbst, was in ihm Natur, Erziehung und unwesentliches Beiwerk ist, sein höheres Selbst, von dem trennt er sich nicht, dem schafft er gerade Raum. Und um noch einmal von Thunbergs Unabhängigkeit und Überparteilichkeit zu sprechen: Es ist gut so, denn gewiss hätte sie nie den Erfolg gehabt, der ihr zuteilwurde, wenn sie, statt überhaupt das Handeln angesichts des Klimawandels zu fordern, für ganz bestimmte Maßnahmen und Gesetzesvorschläge eingetreten oder wenn sie für eine bestimmte politische Partei geworben hätte. Dann hätten ihre Gegner ihr erst recht vorgeworfen, indoktriniert und vereinnahmt zu sein, dann wäre sie auch wenig glaubwürdig gewesen, denn dann wäre es ihr ja nicht in erster Linie um die Sache gegangen, sondern sie hätte etwas Anderes noch über diese Sache gestellt, noch dazu etwas sehr Unvollkommenes, denn keine Partei tut dermalen ausreichend für die Umwelt. Aber ein wahrhafter Idealist – ich rede hier nicht von Ideologen, die einem Ideale vielleicht zu folgen meinen, aber in Wahrheit nur ihrem Dünkel folgen – wird nie Parteimann sein. Eine Partei, eine Ansammlung solch vieler Menschen, wird nie von einem Ideale, sondern von Kompromissen und sogenannter Realpolitik bestimmt. Selbst ihr Anführer – und Thunberg ist durchaus keine Anführerin von Fridays for Future – kann sie nicht bestimmen. Der Partei treu bleiben kann daher nur, wer seinem Ideale untreu wird – oder wer keines hat. Deshalb hat etwa das letzte Jahrhundert gezeigt, wie alle halbwegs klaren Köpfe, die in jungen Jahren dem Kommunismus zuneigten, ich denke hier an Reich, an Bataille, an Foucault, unweigerlich vom Kurs der kommunistischen Parteien abweichen mussten. Wer wie Thunberg treu gegen sein Wollen und wer aufrecht ist, der wird nie auf Linie sein, der wird stets nur sich selbst vertreten können. Zugehörigkeit zu einer Partei und Charakter sind unvereinbar.

Wir täten gut, ihre Aufrichtigkeit und Selbstlosigkeit zu ehren und als leuchtendes Beispiel hochzuhalten, was immer sonst wir von Thunberg halten mögen. Wie wenige dies tun, zeigt, wie verderbt diese Welt und wie wenig verbreitet der Wunsch nach einer solchen Aufrichtigkeit ist. – Freilich ist er es nicht: Man mag einmal schimpfen, wenn man selbst betrogen wird, aber den Betrug an sich verurteilen und die Ehrlichkeit an sich preisen, das wird man kaum können, wenn man die eigenen Verlogenheiten nicht aufgeben und nicht selbst einer der ehrlich Strebenden werden will. Wären die Feinde Thunbergs selbst gute Menschen, würden sie ernstlich glauben, dass sie eben getäuscht wurde, aber dabei klar erkennen, was doch klar am Tage liegt, dass ein guter Wille sie leitet: diese Menschen würden doch das Gespräch mit ihr suchen, würden sie doch von der Wahrheit zu überzeugen suchen, dass es keinen Klimawandel gibt, würden ihr edles Streben auf eine tatsächlich gute Sache zu lenken suchen. Stattdessen beschimpfen sie sie als dumme Göre, die wie Pippi Langstrumpf aussehe (mir dünkt das eher Kompliment als Beleidigung), – woran sich zeigt, dass es jenes edle Streben selbst ist, das diese Leute bekämpfen, und wen sollte das bei Menschen verwundern, die Gutmensch oder Weltverbesserer für eine Beleidigung halten?

2) „Die Idee, und allein die Idee füllet aus, befriedigt und beseligt das Gemüth“³² Der Materialist kann sich vorübergehende Genüsse verschaffen, doch keiner wird ihn dauerhaft befriedigen und er wird, da er stets Opfer und von der Natur, wie sie ist, abhängig bleibt, immer wieder Schmerz, Anspannung, Angst, Hilflosigkeit und Verwandtes erfahren. Es ist mir sehr wichtig, zu betonen, dass der Idealist Seligkeit finden kann und auch finden wird, wenn er sich tatsächlich ganz ins Ideale erhoben hat. Mir ist dies wichtig gerade nach dem, was ich im vorigen Abschnitt über Thunbergs Selbstlosigkeit sagte. Leser mit den bei uns vorherrschenden Moralvorstellungen im Kopfe könnten dies leicht missverstehen. Sie könnten meinen, ich würde hier Selbstverleugnung propagieren und Askese fordern: dass ich für sittlich gerade Jenen erklärte, der seine eigenen Bedürfnisse aufopfert und alle Unannehmlichkeiten und Schmerzen auf sich nimmt, um das Gute zu erreichen.

Es ist dies eine sehr alte und bei uns sehr verbreitete Vorstellung von Moralität, verwurzelt in unserem Denken nach zweitausend Jahren Christianismus, der diese Vorstellung zwar nicht erfand, aber sie doch verbreitete und verankerte wie Nichts sonst: Man schaut die Welt unter moralischen Gesichtspunkten gerne dualistisch an: hier das sündige Fleisch, dort der reine Geist. Man hat über Jahrhunderte, ja über Jahrtausende im Teufel den Verführer, im guten Menschen dagegen den Mönch und Märtyrer gesehen, den, der Armut, Demut und Enthaltsamkeit gelobt, der sich selbst kasteit und der am Ende gar für die Wahrheit in den Tod geht. Dies ist, was Nietzsche als die Moral des Sklaven entlarvte: Der Herr kann sich allen Genüssen hingeben und all seine Triebe befriedigen, dadurch wird er dem Sklaven zum Bösen, denn dieser ist es, der dabei zu leiden hat. Der Sklave wäre insgeheim selbst gerne Herr, er würde sich nur zu gerne gleicherweise dem Sinnengenuss hingeben, doch er kann nicht, er muss seine Triebe unterdrücken, da ihre Befriedigung schwere Züchtigung nach sich ziehen würde. Schließlich macht er aus der Not eine Tugend: Er erklärt aus seinem Ressentiment heraus die Ausschweifungen des Herrn für böse, seine eigene Enthaltsamkeit und seinen eigenen Triebverzicht (die doch nichts weniger als freiwillig und damit ein Verdienst sind) für gut. Dass diese verquere Vorstellung von Moral uns nach wie vor bestimmt, ist auch ein Grund, weshalb es jetzt so viele krakelende Feinde des Guten gibt, die durch Thunberg und jede Erinnerung, dass wir dem Klimawandel zu begegnen haben, derart aufgebracht werden: Moral heißt für diese Menschen vor allem Verzicht und sie fragen empört: Warum sollte ich denn auf mein eigenes Glück verzichten, warum sollte ich nicht an mich selbst denken? Es ist leicht und es geschieht im linken und grünen Milieu gerne einmal, sich moralisch überlegen zu wähnen und jene Menschen für ihre Frage zu verurteilen. Aber die Frage ist doch nicht ganz unberechtigt. Und auf sie nur mit Indignation zu reagieren, ist, abgesehen davon, dass es überheblich ist, der Sittlichkeit und, konkreter auf das besprochene Thema bezogen, der Umwelt mehr schädlich als förderlich, es treibt die Menschen ja nur noch weiter vom Guten weg und in die Verstockung hinein, die nicht einsehen wollen, warum sie für irgendeine abstrakte Pflicht, die man ihnen vorhält, leiden sollten.

Aber diese ganze Dichotomie – hier der selbstsüchtige Sinnengenuss, bei dem Andere unter die Räder kommen mögen, dort der selbstlose Verzicht für das, was eben „richtig“ ist, bei dem Ich selbst unter die Räder komme –, diese Dichotomie, die vielen so selbstverständlich, so notwendig erscheint, sie existiert nur für den Materialisten. Ganz recht, auch die in diesem niederen Sinne Moralischen – die Gesitteten und Anständigen – sind Materialisten. Auch für sie gibt es nur die materielle Welt und deren Genüsse, keine Ideen, auch sie treibt es in ihrem Innern zu diesen Genüssen hin und zu nichts sonst. Sie unterdrücken diesen Trieb, weil sie meinen, vielleicht zurecht meinen, dass sie Böses und Schädliches tun würden, wenn sie ihm nachgäben. Aber der Trieb ist doch immer noch da. Das Negative allein, das bloße Unterlassen kann unmöglich irgendein Glück bescheren. Die Anständigen müssen also verkrampft und verklemmt durch die Welt gehen, als magere Asketen und spitzlippige Gouvernante, die sich selbst im Leben nichts gönnen. Und was mehr ist: Sie sind gar nicht besser als ihre materialistischen Brüder, die dem Triebe nachgeben und von Anstand und Pflicht nichts wissen wollen, vielleicht sind sie noch ein Stückchen schlechter, da sie sich für besser halten (welch stilles Selbstlob auch die einzige Art von Genuss sein mag, die ihnen doch zuteil wird; das ist aber ein wenig erstrebenswerter Genuss). Jedenfalls haben sie ja kein höheres, kein besseres Wollen. Ihr Wollen ist genauso niedrig und böse wie das der Unanständigen, sie erfüllen sich bloß ihre bösen Wünsche nicht. Ich weiß wohl, dass die sklavische Meinung von Moral, die ich hier schildere, so verbreitet ist, dass mancher Leser mir hier widersprechen und gerade darin die Moralität dieser Leute setzen wird, dass sie eben ihren bösen Wünschen nicht nachgeben. Aber das ist eine sehr niedere Moralität. Wer in seinem Herzen böse Wünsche hegt, der kann nicht wahrhaft gut sein. Gut ist, der auch von Herzen das Gute will, gut ist, wer auf jedes „Du sollst!“, das an ihn ergeht, so wenig zerknirscht antwortet „Also gut, wenn ich denn soll, dann werde ich mal, obgleich ich nicht will…“ wie er antwortet „Ich will nicht und daher will ich auch nichts davon hören, was ich soll!“, sondern dessen lautere Antwort ist: „Du kommst zu spät – ich will bereits!“

Wer sich erst über jene Ebene erhoben hat, in der allein die Sinnlichkeit ihn beglücken kann, hinter dem bleibt auch die Frage als eine, die sich ihm nicht länger stellt, ob er diesem Glücke nachjagen oder zum Wohle anderer darauf verzichten soll. Die Idee selbst und die Arbeit für sie beseligt ihn. Für den guten Mensch ist das, was die Vernunft und was sein Trieb fordert, eins, er ist ohne inneren Widerspruch. Während viele Menschen nicht hinnehmen wollen, auf ihren Urlaubsflug oder ihr Schnitzel verzichten zu müssen, während andere, die sehr gerne in die Ferne flögen und Fleisch sehr appetitlich finden, sich in eben diesem Verzicht üben, gibt es doch auch Menschen – ich muss es wissen, ich bin einer von ihnen –, die nicht das mindeste Bedürfnis danach verspüren, an einen heißen Strand voll betrunkener Menschen zu fliegen oder ihre Zähne in einen Kadaver zu schlagen, die nicht verzichten und für die gute Sache leiden, sondern die umgekehrt vielleicht sehr leiden würden, wenn ihnen Anderes abverlangt würde. Es ist von Bedeutung, dass diese höhere Form von Moral, die derzeit nicht einmal als etwas Mögliches bekannt und die kein Gegenstand irgendeiner öffentlichen Debatte ist, Verbreitung finde. (In aller Klarheit formuliert hat sie unter allen Denkern vielleicht nur Fichte. Nietzsche hat sie mit seinem Freigeist gesucht und in seinem Übermenschen gefunden und es ist das fundamentalste Missverständnis, wenn man meint, er hätte Moral überhaupt, also auch in diesem höheren Sinne, abgelehnt, wo er doch tatsächlich, wenn er gegen die Moral wettert, die niedere Moral der Sklaven meint. Ahnungen einer solchen Moral des Muts und des fröhlichen Rechttuns finden sich noch bei manch Anderen, etwa beim späten Kant, bei Reich, bei Arendt, mal deutlicher, mal weniger deutlich, aber zu rechtem Bewusstsein gebracht und ausgesprochen wird sie kaum je.) Es ist dies gerade jetzt im Angesichte der Klimakrise von Bedeutung. Diese fordert uns ab, endlich die Selbstfesselung durch die Sklavenmoral abzulegen. Die ganze Menschenschaft umzuerziehen, alle zu Asketen zu machen, das wird nicht gelingen, dagegen werden sich immer Viele wehren und sie werden dies nicht ohne Berechtigung tun. Einen höheren Weg sollte man ihnen aufzeigen und ihnen Mut machen, diesen zu beschreiten: Nicht ihre Bedürfnisse und Neigungen aufzugeben, aber bessere Bedürfnisse und Neigungen in sich zu kultivieren. Die Idealistin Thunberg ist auch insofern ein Geschenk an die Menschheit, als an ihr vielleicht der Eine oder Andere entdecken kann, dass der, der einem Ideale folgt, dadurch nicht persönlich unglücklicher, sondern vielmehr glücklicher wird. Sie wurde durch ihren Kampf für das Klima immerhin von ihrer Depression geheilt: „Die Aktion hat mein ganzes Leben verändert. Vorher aß ich jeden Tag immer dasselbe: Brot, Reis, Bohnen, das Nötigste. Ich sprach nur mit meinen Eltern, meiner Schwester und meinem Lehrer; mit anderen hatte ich keinen sozialen Kontakt. Aber durch den Streik habe ich einen Sinn gefunden. Ich esse jetzt alles Mögliche, so lange es vegan ist. Und ich habe hier Freunde gefunden. Meine Eltern sehen, dass ich viel fröhlicher bin. Ich habe mich selbst geheilt.“³³

3) „Die Idee, wo sie zum Leben durchdringt, giebt eine unermessliche Kraft und Stärke, und nur aus der Idee quillt Kraft“³⁴

Thunberg ist ein kleines Mädchen, nicht bloß ihrem Alter nach, sondern ganz wörtlich: sie ist ein junges, zierliches Persönchen. Und doch strahlt sie mehr Stärke und Selbstgewissheit aus als die meisten gestandenen Männer. Es ist leicht, ein Held der Tastatur zu sein, es ist leicht, im Internet zu poltern, die habe doch keine Ahnung, die labere nur Unfug, überhaupt, wie die schon aussehe und Asperger habe sie auch! Ich möchte wissen, was all diese Leute eigentlich mit sechzehn getan haben? Haben sie selbstgeschriebene Reden in makellosem Englisch vor den Vereinten Nationen gehalten? Haben sie sich auf eine mehrwöchige Segelfahrt über den Atlantik begeben? Haben sie gekämpft für etwas, woran sie glaubten, und sich aufrecht um das bemüht, wovon wenigstens sie selbst überzeugt waren, dass es die Welt zu einem besseren Ort macht? Haben sie sich dem Hass und der Ignoranz von Millionen ausgesetzt, ohne sich beirren zu lassen? Oder haben sie vielleicht doch nur angeödet in der Schule gesessen, nicht recht verstanden, was der Lehrer da erklärte, sich mit Ach und Krach irgendwie durch die Prüfungen gemogelt und mit ihren Kumpels über Pimmelwitze gelacht?

Thunbergs Mut und Unbeirrbarkeit müssten selbst bei einem deutlich älteren Menschen beeindrucken. Sie sind notwendig bei einem Idealismus wie dem ihren. Ein solcher bringt Gleichmut und Gegenwärtigkeit. Gegenwärtigkeit, wie sie immer wieder aus Thunberg spricht, etwa, wenn sie von ihrer Segelreise in die USA erzählt: „Before I went on the sailboat I didn’t really have… I chose to not have any expectations, because I just thought that I… I just do it and… enjoy it on the way.“³⁵ Eine wunderbare Formulierung: Thunberg hatte nicht einfach keine Erwartungen, sie entschied, ohne Erwartungen an diese Reise heranzutreten. Und so entscheidet sie immer wieder. Der in der Idee aufgegangene Mensch arbeitet an ihrer Verwirklichung und lässt sich von dieser auch nicht abbringen; für Anderes, auch für Bangen, für Hoffnungslosigkeit, hat er keinen Raum. Wer klüger wäre als Thunberg, der würde, wenn ihm Umwelt und Klima auch Anliegen wären, vielleicht verzweifeln, der würde sich vielleicht sagen, dass es keinen Sinn mehr hätte, noch etwas zu unternehmen. Sie selbst mag einmal derart klug gewesen sein, und hat erfahren, wie genau solche Fixierung auf eine Zukunft, die man ja doch nicht kennt, nur depressiv macht und daran hindert, diese Zukunft, sofern sie vielleicht doch noch zu ändern ist, auch tatsächlich zu ändern, ehe das Befürchtete hereinbricht. Der Idealist aber tut frohgemut, wovon er weiß oder, in Thunbergs Falle vielleicht, auch nur spürt, dass er es tun soll. Die Zukunft kennt ohnehin kein Mensch und alles Weitere, aller Erfolg oder Misserfolg liegt in Gottes Hand. Immer wieder spricht diese aufgeklärte Gegenwärtigkeit aus Thunberg: „Ich werde hier vor dem Reichstag möglichst jeden Freitag sitzen: So lange, bis Schweden das Pariser Klimaabkommen erfüllt. Wann das so weit ist, weiß ich nicht. Vielleicht dauert es noch Jahre, vielleicht wird es nie geschehen. Aber ich werde mich immer wieder dafür einsetzen. Darauf kommt es an.“³⁶ „Of course – it’s very overwhelming to think about it sometimes, so I don’t think about how the future will turn out, because that will be too depressing and I wouldn’t do anything except worrying. So instead of worrying about how that future might turn out, I try to change it while I still can.“³⁷ „I don’t care if what I’m doing – what we’re doing – is hopeful. We need to do it anyway. Even if there’s no hope left and everything is hopeless, we must do what we can.”³⁸ – Klingt dies nicht wie ein Satz der Sittenlehre? Ist dies nicht gesprochen wie aus Kants eigenem Munde? „I See – I know what needs to be done and then I – I just do it. I don’t – I have no doubts and second thoughts. I – when I decide to do something and when it’s something I’m really passionate about, then I – I do it, there’s no second option.“³⁹ All die Klüglinge dieser Erde, die in Wahrheit nur Bequemlinge sind und ihre sittliche Pflicht nicht tun wollen, fragen, wann immer ihnen etwas geboten ist, nur: Ist es denn überhaupt möglich? So fragt der Materialist. So fragt der, der nur für diese sinnliche Welt einen Blick hat und der nun zu ergründen versucht, was in dieser machbar ist und was nicht. Und so fragt der, der, wenn er es auch nicht zugibt, selbst von der Sinnlichkeit bestimmt und dessen Grundkraft die aller Natur innewohnende Trägheit ist, der also eigentlich eine Ausrede sucht, nicht tätig werden zu müssen. Der Idealist stellt diese Frage nicht, denn diese sinnliche Welt der Möglichkeiten und Unmöglichkeiten ist ihm Nichts. „Was machbar ist oder nicht, das mag Gott wissen“, sagt er sich, „genug, ich weiß nur das Eine: Was geboten ist und was mein Gewissen befiehlt und dies will ich verrichten.“ Das ist es, was ihn stets in die Gegenwart versetzt: Immer fragt er Was habe ich jetzt zu tun? Mit Wahrscheinlichkeiten, mit möglichen Ausgängen, kurz mit allem Zukünftigen hält er sich nicht auf. „Actually I didn’t really expect anything“, bekennt Thunberg auf die Frage, ob sie eine solche Wirkung erwartet hat, wie sie sie erreichte. „I just thought that I – I’m going to do what I can do: Everything in my power to – to get attention and focus on the climate crisis. And if I do this, then maybe the media will write about it and people will start talking about it. So I didn’t really have any expectations, I didn’t – I didn’t do it to create a movement.“⁴⁰ Und sie erklärt: „I mean, I’m not going to be this much in – in the media attention, I’m not going to be this interesting for the media all the time, it’s going to end soon. But I know that my – I mean my goal is just to – to do everything I can. I mean, I don’t… Many people say that I – my mission will fail. I – I don’t really have a mission. My mission is to do everything in my power to – to make the world a better place and to try to – to make – to do everything in my power to – to make the world be in line with the Paris agreements.“⁴¹ Nichts wäre verkehrter, als wenn man diese Gegenwärtigkeit mit dem verwechseln wollte, was ich zuvor über den Unaufgeklärten sagte: dass er Gefangener des Moments sei. Denn ganz etwas Anderes ist es, über den Moment nicht hinausblicken zu können, immer von der Laune des Augenblicks und der Meinung des Tages, von momentanen Interessen und von der Unfähigkeit bestimmt zu sein sich Entwicklung vorzustellen und eine andere Welt auch nur zu denken – etwas Anderes ist es, nicht einer Vergangenheit nachzuhängen, die vorüber und nicht mehr zu ändern ist, und nicht eine Zukunft zu fürchten oder herbeizurechnen zu suchen, die noch ungewiss und frei bestimmbar ist, und über beides das Handeln und das sittliche Handeln in der Gegenwart sich unmöglich zu machen, sondern eben diese Gegenwart tätig zu ergreifen und zu gestalten, beweglich zu sein und fähig zu einer Antwort auf die jetzt vom Leben gestellten Aufgaben.⁴²

Was ebenfalls zu bewundern und Ausdruck jener Unbeirrbarkeit und jenes Gleichmuts ist, die dem Idealisten eignen, ist die Ruhe, mit der Thunberg den vielen Angriffen gegen ihre Person begegnet. Mit Schmutz muss sich freilich alles Gute bewerfen lassen. Aber man lese nur den ruhigen und klaren Facebookpost, mit dem Thunberg hierauf antwortete.⁴³ Oder man höre, mit wie viel Leichtigkeit und Humor sie die Angriffe gegen ihre Person zu nehmen vermag: „Honestly I think it’s funny. I – I don’t know how many laugh attacks I have had just watching these tweets. And sometimes I have like a competition with myself to find the most absurd conspiarcy theory.“⁴⁴ Ich will nicht den Fehler der Unaufgeklärten machen, meine Psyche auf andere zu projizieren. Ich weiß, wie es mir mit fünfzehn und sechzehn ging, wenn ich im Internet für die gute Sache eintrat, wenn man mich hierfür aber bloß anfeindete, nicht einmal mir mit einem Anscheine von Vernunft widersprach, sondern mich beschimpfte und verleumdete. Ich weiß, dass hiermit umzugehen nicht immer leicht war, dass ich damals noch nicht den Gleichmut des Aufgeklärten besaß (umso wichtiger waren diese Übungen, um mich auf das vorzubereiten, was mir nun bevorsteht, da ich an die Öffentlichkeit trete und Aufsätze wie den vorliegenden verfasse). Nicht weiß ich, wie es Thunberg innerlich bei alledem zumute ist. Blindes Mitleiden, wie es bei uns so gerne gepflegt wird, würde mich die Hände überm Kopf zusammenschlagen und ausrufen lassen: „Die Arme! Was mir einst in irgendeinem Internetforum widerfuhr, das widerfährt ihr, die in der Öffentlichkeit steht, ja tausendfach!“ Aber es wäre ein Fehlschluss, wollte ich annehmen, sie fühlte deshalb auch tausendfach, was ich damals fühlte. Sie wird damit auf ihre Weise umgehen, hat sie doch ihr eigenes Naturell, und gerade angesichts ihrer Asperger-Diagnose mag es sein, dass manches sie weniger aufwühlt, als dies bei anderen Menschen der Fall wäre. Dass alles, was man ihr entgegenschleudert, sie gänzlich kalt lässt, glaube ich indes kaum. Und umso bewundernswürdiger ist es, wie sie darauf reagiert und wie sie weitermacht, ihr individuelles Selbst gänzlich ihrem höheren Selbst und ihrer selbstauferlegten Aufgabe aufopfernd.

4) Thunberg hat Charakter. „Von einem Menschen schlechthin sagen zu können: ‚Er hat einen Charakter‘ heißt sehr viel von ihm nicht allein gesagt, sondern auch gerühmt; denn das ist eine Seltenheit, die Hochachtung gegen ihn und Bewunderung erregt.
Wenn man unter dieser Benennung überhaupt das versteht, wessen man sich zu ihm sicher zu versehen hat, es mag Gutes oder Schlimmes sein, so pflegt man dazu zu setzen: er hat diesen oder jenen Charakter, und dann bezeichnet der Ausdruck die Sinnesart. – Einen Charakter aber schlechthin zu haben, bedeutet diejenige Eigenschaft des Willens, nach welcher das Subject sich selbst an bestimmte praktische Principien bindet, die er sich durch seine eigene Vernunft unabänderlich vorgeschrieben hat. Ob nun zwar diese Grundsätze auch bisweilen falsch und fehlerhaft sein dürften, so hat doch das Formelle des Wollens überhaupt, nach festen Grundsätzen zu handeln (nicht wie in einem Mückenschwarm bald hiehin bald dahin abzuspringen), etwas Schätzbares und Bewundernswürdiges in sich; wie es denn auch etwas Seltenes ist.
Es kommt hiebei nicht auf das an, was die Natur aus dem Menschen, sondern was dieser aus sich selbst macht; denn das erstere gehört zum Temperament (wobei das Subject großentheils passiv ist), und nur das letztere giebt zu erkennen, daß er einen Charakter habe.“⁴⁵

„Der Charakter besteht in der Fertigkeit, nach Maximen zu handeln“⁴⁶, d. h. also „in dem festen Vorsatze, etwas thun zu wollen, und dann auch in der wirklichen Ausübung desselben. Vir propositi tenax⁴⁷, sagt Horaz, und das ist ein guter Charakter! z. E. wenn ich Jemanden etwas versprochen habe, so muß ich es auch halten, gesetzt gleich, daß es mir Schaden brächte. Denn ein Mann, der sich etwas vorsetzt, es aber nicht thut, kann sich selbst nicht mehr trauen, z. E. wenn Jemand es sich vornimmt, immer frühe aufzustehn, um zu studiren, oder dies oder jenes zu thun, oder um einen Spaziergang zu machen, und sich im Frühlinge nun damit entschuldigt, daß es noch des Morgens zu kalt sei, und es ihm schaden könne; im Sommer aber, daß es sich so gut schlafen lasse, und der Schlaf ihm angenehm sei, und so seinen Vorsatz immer von einem Tage zum andern verschiebt: so traut er sich am Ende selbst nicht mehr.“⁴⁸

Es gibt sehr wenige Menschen, denen man Charakter bescheinigen könnte, zumal in der Öffentlichkeit und in der Politik, wo heute das gestern Gesagte verleugnet und morgen das heute Versprochene gebrochen wird. Die Politiker sind zumeist Opportunisten. Aber der gemeine Mann, der so gerne auf die Politik schimpft, ohne zu merken, dass die da oben ja auch nicht im Labor gezüchtet werden, sondern gewöhnliche Menschen sind wie er selbst, dieser gemeine Mann ist nicht besser. Viele sind launenhaft, sind wie ein Blättchen, das der Wind mal hierhin und im nächsten Augenblicke dorthin weht. Dies ist notwendig, insofern sie als Materialisten durch die Natur bestimmt sind. So mag ein Mensch, der in den Nachrichten etwas über den Klimawandel hört oder der eine Reportage schaut über die Plastikverschmutzung der Meere in jenem Moment aufrichtig betroffen sein und gerne etwas tun wollen. Morgen aber hat er vielleicht Lust in den Urlaub zu fliegen oder er muss irgendwo hin gelangen und ist zu bequem, hierfür nicht das Auto zu nutzen. Seine Betroffenheit mag wirklich aufrichtig sein, sagte ich, man muss ihm dies nicht absprechen. Sie ist echt und sie bestimmt ihn in jenem Augenblicke. Aber diese Lust oder diese Bequemlichkeit sind ebenso echt und bestimmen ihn ebenso sehr im nächsten Augenblicke. Hiervon weiß auch Thunberg selbst zu erzählen: „I overthink. Some people can just let things go, but I can’t, especially if there’s something that worries me or makes me sad. I remember when I was younger, and in school, our teachers showed us films of plastic in the ocean, starving polar bears and so on. I cried through all the movies. My classmates were concerned when they watched the film, but when it stopped, they started thinking about other things. I couldn’t do that. Those pictures were stuck in my head.“⁴⁹ Der Mensch soll nicht das Opfer seiner Launen und Befindlichkeiten sein, seine Würde verlangt, dass er sich selbst bestimme. Dies tut, wer sich ein Ideal vorsetzt. Nur ein solcher Mensch kann mithin Charakter haben, er hat ihn aber auch notwendig. Wen mal diese Laune ankommt, dann jene, wer dann wieder seinen Ängsten und Bequemlichkeiten nachgibt, ein andermal irgendeinem Vorurteile folgt, der wird in stetem Widerspruch mit sich selbst sein. Der Idealist hat klare Prinzipien und verrät diese nicht, denn wenn er nur wahrhafter Idealist ist, so ist nichts in der materiellen Welt, das ihn von seinen Prinzipien abbringen könnte. Die Einheit mit sich selbst, auch alles, was hiermit einhergeht, als etwa die nunmehrige Unnötigkeit, sich für seine „Ausrutscher“ oder gebrochenen Vorsätze zu schelten oder sich ihretwegen selbst zu belügen und all sein widersprüchliches Tun durch irgendeine Hirnakrobatik vor seinem Gewissen zu rechtfertigen – dies ist Quell der Seligkeit, von der ich bereits als dem Idealisten eigen sprach.

Thunberg nun hat Prinzipien und sie ist diesen treu. Man kann diese konkreten Prinzipien verwerfen und angreifen, und ich will hier, was ich nur wieder und wieder wiederholen kann, nicht über ihren Inhalt sprechen. Aber dass sie überhaupt ein Mensch von Prinzipien ist und dass sie auch gerade hierdurch so hervorsticht, dem wird niemand widersprechen können. Tatsächlich geschieht eher das Gegenteil, alle, die sich gerade hierdurch angegriffen fühlen, weil es sie daran erinnert, wie sie durch ihre eigene Prinzipienlosigkeit auf ihre Würde Verzicht tun und ihre Pflicht vernachlässigen, alle diese greifen Thunberg an: Wie es immer geschieht, wenn Einer Grundsätze hat, zollen sie ihr nicht die schuldige Bewunderung und Hochachtung, sondern sie ätzen gegen Prinzipienreiterei und tun, als wären sie die Erwachseneren und Vernünftigeren gerade dadurch, dass sie die Vernunft, die lauter Einheit und Klarheit ist, verwerfen und sich der vernunftlosen blöden Materie hingeben, um deren willige und gequälte Sklaven zu sein. Da lese ich dann Klagen wie, wenn die Greta nicht so verbohrt auf ihren Prinzipien beharren würde, dann könnte sie in ein Flugzeug steigen, nach Indien oder China fliegen und denen da was von Klimaschutz predigen, die hätten es dringend nötig! Na, da werden die Inder und Chinesen gerade drauf gewartet haben. Gibt es nicht Andere als Thunberg, die eben das bereits tun? Haben die Menschen dort kein Internet, können sie Thunberg nicht hören, wenn sie nur wollen? Thunbergs Prinzipien sind gerade ihre Stärke und ein Grund ihres Erfolgs. Umweltlobbyisten und Grünenpolitiker, die unbeschwert durch die Gegend fliegen, das vielleicht als notwendiges Übel für eine gute Sache rechtfertigen, gibt es schon genug. Sie erhalten nicht dieselbe Aufmerksamkeit, die Thunberg erhält, warum hätte sie diese also bekommen sollen, wenn sie nur eine Weitere von Diesen geworden wäre? Dass das Tun Dieser den Planeten nicht schützt, das haben die letzten Jahre und Jahrzehnte ja gezeigt. Vielleicht ist es gerade an der Zeit, dass es zur Abwechslung mal Jemand versucht, dem es Ernst ist mit seinen Anliegen und Zielen und der diese nicht zu opfern und Kompromisse zu machen bereit ist für vermeintlichen Erfolg, den man am Ende gerade hierdurch aus den Augen verliert und wegwirft. Auch ich bin Idealist, was ich nicht sage, um von mir zu schwatzen, sondern um zum tieferen Verständnis ein weiteres Beispiel neben das Thunbergs zu stellen: und mein Ideal lässt mich Ernsthaftigkeit, Gründlichkeit und Wahrheitsliebe hochhalten und blindes Gemeine ablehnen. Ich kann mit Fichte sprechen: „Ich will nicht gerade auf der Stelle wissen, wie dieser oder jener über die in Anregung gebrachten Fragen denke, d. h. wie er bisher darüber gedacht, oder auch nicht gedacht habe. Er soll es bei sich selbst überlegen und durchdenken, so lange bis sein Urtheil fertig ist und vollkommen klar, und soll sich die nöthige Zeit dazu nehmen; und gehen ihm etwa die gehörigen Vorkenntnisse, und der ganze Grad der Bildung, der zu einem Urtheile in diesen Angelegenheiten erfordert wird, noch ab, so soll er sich auch dazu die Zeit nehmen, sich dieselben zu erwerben. Hat nur einer auf diese Weise sein Urtheil fertig und klar, so wird nicht gerade verlangt, dass er es auch öffentlich abgebe; sollte dasselbe mit dem hier Gesagten übereinstimmen, so ist dieses eben schon gesagt, und es bedarf nicht eines zweiten Sagens, nur wer etwas Anderes und Besseres sagen kann, ist aufgefordert zu reden; dagegen aber soll es jeder in jedem Falle nach seiner Weise und Lage wirklich leben und treiben.“⁵⁰ Dieses Ideal bestimmt mich, unter meinen Texten und Vorträgen nicht sogleich jedem Unqualifizierten eine Plattform zu bieten, um vor der Welt seine erste beste Meinung auszukotzen. Mehrfach wurde mir bereits geraten, eben das zu tun: „wenn da leute kommentieren, hast du ne größere Reichweite. Vorallem wenn da leute rumbeefen“, wie einer meiner Freunde und Schüler es ausdrückte. Das ist wohl wahr, der YouTube-Algorithmus mag Videos bevorzugen, unter denen viel kommentiert wurde. Aber es war für mich nie auch nur die Frage, ob ich meine Prinzipien solchem Kalkül aufopfern und für das höhere Gut einer großen Reichweite das Übel jenes Gemeines in den Kauf nehmen wollte, das ich doch ablehne. Und gesetzt ich täte es, so würde ich dadurch doch zurecht – denn ich hätte ja mein eigentliches Ziel, die Aufklärung, aufgegeben – meine Glaubwürdigkeit verlieren, und dies wiederum könnte sehr leicht zur Folge haben, dass, wenn auch YouTube zunächst meine Videos eher verbreiten und den Leuten vorschlagen würde, der Erfolg gerade ausbliebe, weil die meisten jener Leute an hohlem Gerede vielleicht kein Interesse hätten, wohingegen es doch sein kann, dass jetzt, bei abgeschalteter Kommentarfunktion, es etwas länger dauert, ehe die Sache recht in den Gang kommt, die Menschen, wenn sie dann aber endlich einmal meine Videos entdecken, gerne Jemandem zuhören werden, von dem sie sehen, dass es ihm Ernst ist mit dem, was er sagt. Es kann sein, sage ich, nicht es wird sein. Aber das gerade ist ja der Punkt: Wer klug zu berechnen sucht, der betrügt sich nur selbst. Ich folge mit unbeschwertem Gleichmut meinen Grundsätzen und überlasse es der Zeit, zu zeigen, was hieraus erwachsen mag.

Wer Grundsätze hat und diesen treu ist, der ist frei. Das zeigt eindrucksvoll Thunbergs Atlantiküberquerung. Die Presse hat auf Initiative der taz eine ekelhaft kleinkarierte Debatte, ja, wie irgendein Blatt titelte, einen „Shitstorm“ begonnen, weil Leute in die USA fliegen werden, um das Boot, auf dem Thunberg reist, zurückzusegeln. Hätte man den Blick eines Philosophen und hätte man Verantwortung, man würde stattdessen den Menschen deutlich machen, wie sie von Thunberg das Freisein lernen könnten. Zu oft spielen diese nämlich verschiedene Wünsche gegeneinander aus. Die meisten hätten es an Thunbergs Stelle nicht anders gemacht: „ich bin gegen das Fliegen und ich will nach Amerika reisen“, hätten sie sich gesagt, „auf eines davon muss ich verzichten“. Nun, hier zeigt sich wieder wunderbar, dass sittlich sein keineswegs Verzicht bedeutet, dass im Gegenteile gerade der sittliche Mensch sich all seine Wünsche gönnen kann und nicht zugunsten des einen den anderen aufzugeben braucht. Wer Materialist ist, wird sich immer wieder von den materiellen Gegebenheiten eingeschränkt fühlen. Charakterlose Menschen knicken ein, sobald sie einigem Widerstand begegnen. Wer vor einem Urwald steht und diesen durchqueren will, aber kein Ideal hat, der wird nur auf schon ausgetretenen Pfaden gehen. Wer diese Pfade aus irgendeinem Ideale heraus ablehnt und auf diesem beharrt, aber dennoch den Wald durchqueren will, der und nur der wird vielleicht ganz neue und den anderen bisher unbekannte Wege finden. Er kann damit den anderen Menschen aufzeigen, dass doch geht, wovon sie glaubten, es ginge nicht. Die Lektion, die ein Jeder, auch ihr Gegner, von Thunberg hier lernen könnte, ist nicht die von einer bereits erwähnten Feindin des Guten als „albern“ abgetane, dass fortan jeder, der den Atlantik überqueren möchte, sich ein Segelboot suchen sollte, es ist die, dass wir das, was uns wirklich wichtig ist, was immer es sei, niemals aufgeben sollten, weil wir es für unmöglich halten, sondern dass wir dann, wenn wir daran festhalten und wenn wir das uns Wichtige wichtiger nehmen als die Möglichkeiten und Unmöglichkeiten: dass wir dann, aber auch nur dann, neue Möglichkeiten und hiermit unsere Freiheit entdecken können. Zur Freiheit gehört auch, dass sie gerade nicht zu verallgemeinern, dass die Einzeltat nicht zur Regel zu erheben ist: Der Weg, den Thunberg wählte, war der ihre, und nein, dieser konkrete Weg soll nicht fortan von jedem gewählt werden, sondern jeder – darum gerade geht es bei der Aufklärung – soll den seinen finden, um seine Wünsche zu verwirklichen, anstatt sie gegeneinander auszuspielen, jeder soll anstatt des ihm vorschwebenden Oder sein Und finden. Das alles entspricht nicht der materialistischen Ideologie der Begrenztheit und des Mangels, die mindestens seit dem 19. Jahrhundert vorherrscht und aus der heraus wir uns so gerne einreden, das Leben bestehe aus Unfreiheiten, Einschränkungen und dem Konkurrenzkampf um all Das, wovon es zu wenig gibt. Es entspricht dem Gefühl für den eigenen Raum und die eigene Freiheit, es entspricht der Selbstachtung, die mich neue Nischen und Wege entdecken lässt.

5) Der Idealist ist schließlich ein scharfblickender Realist, ein viel größerer, als der Materialist es je sein könnte. So beschreibt sich auch Thunberg selbst: „I’m a realist, I see facts.“⁵¹ Und es ist deutlich an ihr zu beobachten, man höre nur, wie sie sich keinen Illusionen hingibt, was für einen klaren Realitätssinn sie hat: „Das wird geschehen“, sagt sie über die Aussicht, dass weniger über sie berichtet werden wird, wenn sie ein bisschen älter ist. „Ich weiß, dass ich nicht mehr lange interessant sein werde für viele Menschen. Aber Aufmerksamkeit für mich selbst ist nicht wichtig. Es geht um das Klima.“⁵² Als sie eine dieser dummen Fragen gestellt bekommt, ob sie denn gerne irgendeinen wichtigen Politiker treffen und dem etwas sagen würde, da antwortet sie nicht mit der Einfalt eines Kindes und vieler Ausgewachsener, sondern sie sagt: „No, because I can’t really say anything to them that hasn’t been said before. They are obviously not listening.“⁵³

Aber wie kann dies sein? Widerspricht dies nicht dem, was ich zuvor sagte? Widerspricht es nicht auch dem, was ein Idealist nun einmal ist, ein unrealistischer Träumer? Solche verwirrten Fragen kann nur eine Zeit stellen, die eigentlichen Idealismus nicht kennt und die ihn mit moralischer Schwärmerei verwechselt: Wer z. B. meinte, die Menschen wären im Grunde genommen doch alle gut, den würden viele als Idealisten und obendrein als Naivling abtun, der nicht weiß, wie es in der Welt zugeht. Das letztere mag er tatsächlich sein, das erstere ist er sicher nicht. Er ist ein versteckter Materialist, wenn wir unter einem Materialisten nämlich in erster Linie einen faulen Menschen verstehen, insofern Trägheit das ist, was Materie auszeichnet. Der Schwärmer spürt eine moralische Pflicht, er fühlt den Auftrag, den ihm sein Gewissen gibt, die Menschen besser zu machen: „Sie sind schon gut“, spricht er – und ist seiner Aufgabe ledig. Diesen Faulen für einen Idealisten auszugeben, ist eine üble Täuschung. Der wahre Idealist muss ein Realist sein⁵⁴: Er will ja mehr als alles andere sein Ideal, diesem ist er durchaus auch seine Ruhe und Bequemlichkeit zu opfern bereit. Er wird also stets genau hinschauen und deutlich erkennen, ob sein Ideal erfüllt ist oder ob die Wirklichkeit noch hinter diesem zurückbleibt und er weiter an ihr zu arbeiten hat. Mit derselben Notwendigkeit wird der Materialist, von dem ein Oberflächlicher glauben könnte, gerade er müsste Realist sein, da er doch nichts anderes als die Realität kennt, die Realität nie recht anschauen und wird sich über die wahre Natur sehr vieler Dinge täuschen und belügen. Was ihn anleitet, das ist ja nicht ein Ideal, von dem er sehr wohl weiß, dass es noch nicht real ist, das sind seine angenommenen Vorurteile, das sind seine Triebe und Neigungen, das sind seine Faulheit und Feigheit – jede Wahrheit, die anzuerkennen ihn in Konflikt mit diesen bringen würde, wird er daher zu leugnen trachten. Ich durfte dies selbst oft genug erleben: So sah und sehe ich deutlich, dass die Zustände an meiner alten Schule untragbar sind, wo Schul- und Grundgesetz gebrochen werden, wo Schüler, Lehrer und Eltern zusammengeschrien und beleidigt werden, wo Willkür und Schikane den Alltag bestimmen, Schüler und Andere Rassismus erleben, wo eine Aufklärungs-AG durch eine Verfinsterungs-AG ersetzt wird, sobald sich die Bürgermeisterin Giffey einmal bei der Schulleiterin meldet, und wo noch ganz Anderes geschieht. Aber viele Lehrer, nicht zuletzt der stellvertretende Schulleiter, der sich und anderen einzureden sucht, es wäre „alles etwas softer“, man bräuchte eben die guten Beziehungen zum Rathaus, nutzen all ihre Kräfte, um wegzusehen oder Ausreden für ihre Schulleiterin zu finden und ihr Tun herunterzuspielen. Freilich tun sie das: Würden sie die Realität sehen, wie sie ist, sie könnten ihre Untätigkeit ja nicht länger mit ihrem Gewissen vereinbaren und müssten handeln. Ich war nicht wie sie von Faulheit und Feigheit beherrscht, ich war beherrscht von meinem Ideale der Menschenachtung und des Friedens, deshalb sah ich klar, dass für beides an dieser Schule kein Platz mehr ist, und tat, was mir möglich war. Auch der Klimawandel, um hier des Beispiels wegen doch einmal auf den Inhalt von Thunbergs Streben zu sprechen zu kommen, zeigt uns deutlich, wer Realist ist und wer es nicht sein kann: Wer wie Thunberg das Leben auf dieser Erde zu seinem Ideale erhoben hat, der wird deutlich sehen und anerkennen, dass dieses bedroht ist, denn es ist ja das Leben und dessen Schutz, nicht der Schutz seiner eigenen Gewohnheiten, worauf es ihm ankommt. Wem es hingegen in erster Linie nicht um das Leben zu tun ist, sondern wessen oberstes Bestreben es ist, an seiner Lebensweise nichts ändern zu müssen, seine Bequemlichkeit nicht aufzugeben und keine Verantwortung zu übernehmen, der wird die Lage nicht anerkennen können, wie sie ist, sondern sich allerhand zu ihrer Relativierung einreden: Ob er nun so weit geht, den Klimawandel rundweg zu leugnen, oder ob er nur darauf beharrt, so schlimm wäre es schon nicht, da dürfte man nicht alarmistisch werden, sich sagt, bald schon würde es sicher neue Technologien geben, die mit der Krise fertigwürden, sich über Ursachen und Verantwortlichkeit täuscht und etwa darauf herumreitet, nicht seine Urlaubsflüge wären das Problem, sondern die Überbevölkerung und einzig und allein die Überbevölkerung – die Grundlage ist immer dieselbe und deshalb sollte man auch nicht den Fehler machen, das letztere Geschwafel anders zu beurteilen als die offenkundige Verschwörungstheorie, derzufolge es keinen Klimawandel gebe. „I think we should tell the truth and if that is alarmist or not, it’s realistic. We can’t just choose to tell some facts and not others because we don’t want to upset people. We have to tell it like it is. What should we do otherwise, should we spread false hope? We have to tell it like it is“⁵⁵, so spricht die Realistin Thunberg, während Andere die Krise entweder gänzlich leugnen oder sich genannter falscher Hoffnung hingeben und sich lieber einreden, die Menschenschaft hätte alles im Griff, als die Realität anzuerkennen und tätig zu werden.⁵⁶

 

III.

Es ist kaum möglich, über Thunberg zu sprechen, wenigstens nicht mit einer gewissen Vollständigkeit, ohne dabei auch auf ihre Depressionen zu sprechen zu kommen, nachdem sie und ihre Familie derart offen mit diesen umgegangen sind. Ich will es auch gar nicht unterlassen, mich diesem Gegenstand zu widmen, denn auch daraus, wie sie mit diesen umging, ist für die Aufklärung manches zu lernen. Bevor ich über diesen Umgang selbst rede, will ich jedoch zunächst die wichtige Frage beantworten, wie es überhaupt kam, dass Thunberg vorübergehend ihren Lebenswillen verlor und fast vollständig das Essen und auch das Sprechen einstellte. Ich werde nicht alles sagen, was hierzu vielleicht zu sagen wäre; gewiss ist nicht allein der Klimawandel für Thunbergs Depressionen verantwortlich, „it was of course caused by many reasons“⁵⁷, gewiss gibt es einen persönlichen Anteil und wäre, wollte ich dies umfassend besprechen, ein Blick auf ihre Persönlichkeit, auch auf die Rolle ihrer Eltern vonnöten. Dies soll aber keine psychologische Studie werden. Eine solche zu verfassen fehlt es mir an genaueren Einblicken in Thunbergs Leben. Auch sehe ich keinen Grund, dies zu tun, würde es vielmehr als übergriffig betrachten, die Seele eines fremden Menschen in der Öffentlichkeit sezieren zu wollen. Ich beschränke mich also auf Thunbergs Depression, insoweit sie durch den Klimawandel bzw. die Untätigkeit der Menschen im Angesicht desselben ausgelöst wurde.

Das Problem hinter Thunbergs Unglück war zunächst ein Problem des Blicks: „wenn du lange in einen Abgrund blickst“, so wusste schon Nietzsche, „blickt der Abgrund auch in dich hinein.“⁵⁸ Dies hängt unmittelbar zusammen mit dem, was ich zuvor über den Realismus des Idealisten sagte: Thunberg schaute hin, sie sah die Dinge, wie sie sind, sah das ganze Ausmaß der Krise – und zerbrach daran. Sie ist hiermit nicht allein, es gibt mittlerweile bereits Psychologen, die Klimadepressionen behandeln, welche immer mehr zunehmen. Dass dennoch eine Mehrheit nicht depressiv wird angesichts der momentanen Entwicklungen, hat weniger damit zu tun, dass so viele Menschen größere mentale Stärke besitzen als Thunberg, und sehr viel mehr damit, dass viele Menschen schlicht nicht so genau hinschauen wie sie. Was weiß der gemeine Mensch schon vom Klimawandel? Er hat gehört, dass es so etwas gibt, dass der irgendwie kommt in den nächsten Jahren und es dadurch etwas heißer wird, auch dass der Meeresspiegel ein wenig ansteigt und das vielleicht das Ende für die Malediven bedeutet. Wie gewaltig die Krise ist, in die sich das Menschengeschlecht gebracht hat, wie drängend die Not ist, was für massive und teils unabsehbare Folgen der Klimawandel haben wird und schon hat, auch für uns Menschen Mitteleuropas, das ist kaum Einem bewusst. Thunberg hat also recht, wenn sie sagt: „People keep doing what they do because the vast majority doesn’t have a clue about the actual consequences for their everyday life. And they don’t know that rapid change is required“⁵⁹ und fordert, dass die Medien mehr Kenntnisse über diese Krise verbreiten sollen. Recht hat sie auch, wenn sie angesichts all der persönlichen Angriffe sagt „I had expected that. If you don’t fully understand the ongoing climate breakdown, then what I and the other school strikers do must seem very strange… and since most people are not aware, this is unfortunately what I expected.“⁶⁰ Diese Menschen, die von überzogenem Alarmismus sprechen und meinen, die Schüler würden hier ihre Zukunft wegwerfen, haben den Ernst der Lage noch nicht erkannt, sie haben noch gar nicht begriffen, dass die Zukunft dieser streikenden Schüler längst weggeworfen wurde, jedoch nicht von diesen Schülern selbst, sondern von ihren Eltern und deren Altersgenossen. Thunberg unterschätzt jedoch vielleicht – vielleicht; vielleicht ist sie sich dessen auch wohlbewusst⁶¹ – das psychologische Moment: Es kommt nicht nur darauf an, Wissen über den Klimawandel zu verbreiten, denn viele Menschen werden dieses Wissen schlicht ablehnen, solange sie es nicht ertragen können. Sie wollen nicht in den Abgrund schauen, ja nicht einmal eingestehen, dass da ein Abgrund und wie tief dieser ist, denn sie fühlen instinktiv, wie tief der Abgrund auch in sie hineinstarren würde.⁶² „And this is the problem: Once you understand it you cannot un-understand it, you have to do something about it.“⁶³ „I want you to feel the fear I feel every day“⁶⁴, spricht Thunberg offen aus. Aber genau das wollen die meisten nicht, sie sind dieser Angst nicht gewachsen, darum wehren sie sich dagegen, irgendetwas anzuerkennen, was ihnen solche Angst bereiten könnte.⁶⁵ Gerade die Feinde Thunbergs rühmen sich bei anderen Gelegenheiten, gerne unbequeme Wahrheiten auszusprechen, aber das ist eine Lüge, alles was sie als wahr anerkennen, ist wenigstens ihnen sehr bequem, denn – man schaue nur einmal ihre Meinungen zum Klimawandel, aber auch zu Anderem, etwa zu Flüchtlingen, hieraufhin an und man wird meine Worte wahr finden – es läuft stets darauf hinaus, dass sie keine Verantwortung für gar nichts haben und an sich selbst nicht arbeiten müssen. Es wäre daher auch ein Fehler, diese ganze Debatte vor allem als eine intellektuelle aufzufassen, man sollte sie lieber psychologisch und moralisch nehmen. Die beispielsweise, die den Klimawandel oder wenigstens den menschlichen Einfluss darauf ganz wegleugnen, denen ist mit Argumenten nicht beizukommen. Die Beweise sind alle gegen sie. Aber es ist auch nicht so, dass sie bloß schlecht unterrichtet oder dass sie die Dümmsten unter allen Menschen und dass sie schlechterdings nicht in der Lage wären, die Sache intellektuell zu verstehen. Sie wollen sie nicht verstehen, deshalb verschließen sie vor ihr die Augen, ja kneifen sie zu, stecken die Finger in die Ohren und tun so, als wäre alles in bester Ordnung. Man braucht dies nicht einmal rundheraus verurteilen. Als ich Kind war, da sah ich mir in Filmen Passagen, die mich zu sehr aufgewühlt hätten, auch nicht an; als ich beispielsweise mit fünf oder sechs Jahren das erste Mal Star Wars schaute, da ließ ich mich von Papa vorwarnen: „böse, böse“ lautete die Warnung vor der Szene mit dem Rancor oder bevor Luke von den Blitzen des Imperators gefoltert wurde, dann ging ich nach nebenan und hörte meine Benjamin Blümchen-Kassette, bis die Entwarnung kam. Aus diesem Grunde gibt es eine Altersbeschränkung bei Filmen oder Videospielen: weil manches darin sein kann, das das Gemüt eines Kindes überfordern würde. Was aber auf die Fiktion zutrifft, das trifft auf die Realität noch viel mehr zu, und wir pflegen mit Kindern auch nicht über Mord, Vergewaltigung oder den Holocaust zu sprechen. Das Beispiel Thunbergs zeigt, dass der Schrecken des Klimawandels eine solche Überforderung für ein Kind sein kann. Aber offenbar gibt es weit ältere Menschen, die ebenfalls davon überfordert werden, derart überfordert sogar, dass sie, des Selbstschutzes wegen, seine Realität nicht einmal anerkennen können. Der Aufgeklärte beurteilt Menschen nicht nach der Oberfläche, sondern nach ihrem Innern. Entsprechend wird er auch, ob jemand Kind oder Erwachsener ist, nicht an seinem Alter, sondern an seiner Reife festmachen. Jene Menschen, die zugleich so gerne Thunberg und Anderen bei Fridays for Future vorwerfen, nur kleine Gören ohne Lebenserfahrung zu sein, die aber den Klimawandel entweder gänzlich leugnen oder jedenfalls verharmlosen, besitzen offensichtlich nicht die Reife, um sich, wie ein Erwachsener es tun würde, der Realität zu stellen und das zu tun, was getan werden muss. Wir müssen ihnen dies, ich sage es nochmals, nicht vorwerfen, aber wir sollten sie wie das behandeln, als was sie sich gebärden: Unmündige Kinder, auf die man nicht hört, sondern die man ins Bett schickt, während erwachsene und ernsthafte Menschen wie Thunberg sprechen. Diese sagt es ihnen ins Angesicht: „You are not mature enough to tell it like it is. Even that burden you leave to us, the children.“⁶⁶

Dass Thunberg fähig war, schon in sehr jungen Jahren, anzuschauen, was beinahe alle Menschen verdrängen, weil sie es nicht ertragen könnten, das zeichnet sie aus und weist sie als etwas Besonderes aus. Ich will dies für sich genommen damit jedoch nicht als eine Aufgeklärtheit gelobt haben. Zur Aufklärung gehört es auch, verträglich mit dem Leben umzugehen, und es gehört dazu, sich nicht zu überfordern. Wer mehr isst, als sein Magen verträgt, und dann brechen muss, der ist kein aufgeklärter Mensch. Durch ihr Hinschauen allein ist Thunberg nur in gewissem Sinne über jene Unreifen erhoben, von denen ich soeben sprach, aus einer anderen Perspektive stand sie unter Jenen, die immerhin den guten Sinn hatten, sich von dem fernzuhalten, wovon sie spürten, dass es zu viel für sie sein würde. (Aber nur der Unaufgeklärte in seiner Faulheit bleibt, wie er ist. Es soll nicht gefordert werden, dass ein jeder mehr auf seine Schultern lade, als er tragen kann, nur um darunter zusammenzubrechen. Aber das lässt sich fordern, dass niemand sich auf seiner Schwäche ausruhe, sondern dass er daran arbeite, stärker zu werden und dereinst mehr tragen zu können. Es lässt sich zumal von denen fordern, die das Recht beanspruchen, Erwachsene zu heißen und wie solche behandelt zu werden.)

Das Problem hinter Thunbergs Unglück war zum zweiten ein Problem des Wollens: Es gibt keine depressiven Steine. Was zunächst lachhaft klingen mag, darüber möge man einmal ernsthaft reflektieren. Es gibt keine depressiven Steine, weil Steine nichts wollen. Wer nicht will, der kann auch nicht unglücklich sein, weil er seinen Willen nicht bekommt. So gibt es Milliarden von Frauen auf der Erde, die nicht mit mir zusammen sein wollen, um von all den Männern zu schweigen, aber dies kann mir kaum Anlass zum Liebeskummer werden, denn auch ich will meinerseits nicht mit ihnen zusammen sein. Erst wenn da eine ist, deren Nähe ich mir wünsche, die aber nicht die meine will, habe ich Anlass (aber nicht Ursache, denn die Entscheidung, wie ich hiermit umgehe, liegt doch bei mir) zum Kummer. Insoweit ist jede Trauer, jedes Unglück, jede Depression noch ein gutes Zeichen: Sie zeigen an, dass ein Mensch noch will. Um den Indifferenten, der tatsächlich seinen Lebenswillen verloren hat, müsste man bangen. Nun ist also die Frage, was ein Mensch denn will, das er nicht bekommt. Es mag im Falle Thunbergs noch Anderes, Persönliches hinzugekommen sein, aber ein Anteil ihrer Depression war, dass sie das Leben wollte und es durch die Zerstörung der Erde angegriffen sah. Wer einen solchen Willen nicht hätte, der könnte einen noch so klaren Blick haben für die Zerstörung der Umwelt⁶⁷, es könnte ihn nie in Depressionen versetzen, denn was er sähe, wäre ihm ja gleichgültig. Thunberg war und ist es nicht gleichgültig. Das spricht für einen edlen Sinn, wie ihn wenige Menschen haben. Der unedle Mensch ist sich selbst Problem, dem edlen Menschen ist die Welt Problem. In einer Welt des Hungerns, der Kriege, der Völkermorde, der Umweltzerstörung ernstlich unglücklich zu sein, weil man sich für zu dick hält oder nicht genügend Geld verdient, ist das Zeichen eines weniger sittlichen Menschen, als der es ist, der eben dieses Hungers, dieser Kriege, dieser Völkermorde, dieser Umweltzerstörung wegen unglücklich ist. Der letztere ist edler, sagte ich, aber er ist nicht edel. Auch er ist im strengen Sinne nicht Mensch, er hat seine Menschheit weggeworfen. Denn bloß leidend zu sein, ist nicht vereinbar mit der Würde des Menschen. Dieser geziemt es, Täter zu sein. Und dies gerade ist es, wodurch Thunberg sich frei machte von ihrer Depression.

Der Anlass sei, welcher er wolle, woher eigentlich das Unglück? Der Mensch will etwas, er findet seinen Willen aber gehemmt, er hat das Gefühl, auf eine Wand zu stoßen. „Nothing really was happening in my life,“ beschreibt Thunberg. „I have always been that girl in the back who doesn’t say anything. I thought I couldn’t make a difference because I was too small.“⁶⁸ Hierauf sind verschiedene Reaktionen möglich. Ein eher cholerischer Gesell wird toben und wüten und auf die Wand eintreten. Solch ein Mensch schadet anderen, aber er schadet auch sich – ich brauche hier nur an einen alten Schulkameraden zu denken, der sich derart über einen verpassten Fahrstuhl aufregte, dass er mit solcher Wucht gegen die Fahrstuhltür trat, dass er sich in den folgenden Monaten mit einem schmerzenden Zeh rumplagen und seinem Nagel beim Blauwerden und Abfallen zuschauen durfte. Der Mensch von melancholischem Temperamente wird in derselben Situation im Angesicht der Wand, die sich vor ihm auftürmt, in sich zusammensacken und niedergeschlagen alle ferneren Versuche aufgeben und keine Energie mehr auf irgendein Tun verwenden, wo der erste seine Energie entlädt, aber ziellos und machtlos. Beide verweigern sich dem Leben. Denn beide erwarten vom Leben das reibungslose Funktionieren, beide würden das Leben lieber beherrschen, wie man sich vorstellt, dass Gott es tue⁶⁹, beide wollen all ihre Wünsche sogleich erfüllt haben, ohne für deren Verwirklichung arbeiten zu müssen: Die Faulheit aller Unaufgeklärten. Aufklärung ist Vertiefung des Jas zum Leben. Sich aufklären heißt, Täter werden, sich dem Leben zuwenden und anfangen es zu gestalten. Findet der Aufgeklärte ein Wollen, das er hat, nicht sogleich verwirklicht, so tritt er eben in Dialog mit dem Leben und wird tätig. Thunberg hat sich dem Leben eine Zeitlang verweigert, weil sie mit den Aufgaben, vor die es sie stellte, nicht umzugehen wusste und sich von diesen überfordert fühlte. Nicht essen heißt, nicht leben wollen. Nicht sprechen, sich nicht mitteilen wollen oder können, heißt, keine Nähe und Berührung, heißt keinen Weg suchen, seinen Willen zu verwirklichen. Doch Thunbergs große Tat ist, dass sie in dem finstren Loch, in das sie hineingeraten war, nicht blieb, sondern dass sie zu dem fand, was die beste Therapie für jeden Unglücklichen ist: „I thought, there is no point in anything. So then I became very depressed when I was 11. I got out of that depression by thinking to myself that I could do so much good with my life, and it was just a waste of time feeling this way instead of doing as I should – to try to make a difference.“⁷⁰ „When I was depressed, I didn’t really see any point in living, because we’re going to die anyway, and also because I have several diagnoses and that was hard for me. I was very different from everyone else. But I know that a lot of people feel that way, that they don’t matter and they can’t do anything about the climate crisis, and that they just feel worried and scared. The best medicine against that concern and sadness is to do something about it, to try to make a change.“⁷¹ Die Wände, auf die der Wille prallt, lassen den Menschen sich unfrei und ohnmächtig fühlen. In dem Augenblick, da Thunberg ganz zu ihrem Ideal fand und für dieses zu streiten beschloss, in dem Augenblick also, da sie aktiv einen Weg vorbei an jenen Wänden suchte, da fand sie einen solchen auch, da fand sie ihre Freiheit, von der ich schon im vorigen Abschnitt sprach. Und wer sich frei fühlt, der kann nicht niedergeschlagen sein.

Handeln soll der Mensch, nicht leiden! das sagte ich. Es ist wichtig, dass Thunberg tatsächlich aktiv geworden ist. Dadurch hat sie sich geheilt. Man verstehe daher meine Worte recht: Dies soll nicht das oberflächliche Gerede sein, wonach Glück und Unglück schlicht „Einstellungssache“ seien. Und Thunberg hat sich nicht deshalb von ihrer Depression befreit, weil sie ihre „Hoffnung“ wiedergefunden hat, was immer das heißen sollte. Sondern sie hat zu handeln begonnen. Wenn die Depression daher kommt, dass der Wille eines Menschen sich nicht verwirklichen kann, sondern auf eine Wand stößt, so ist die Antwort nicht, was viele unter Hoffnung verstehen: vor der Wand zu kauern und blind zu hoffen, dass sie vielleicht von alleine umfallen möge, die Antwort ist, einen Weg an der Wand vorbei zu suchen – was auch bedeuten kann, einen gewaltlosen Weg durch die Wand zu finden, wie dies 1989 geschah – und alle Kräfte darauf zu verwenden, und nun darf man hoffen, dass diese Kräfte ausreichen werden und dass man tatsächlich einen Weg finden wird. Hiermit ist klar angegeben der Unterschied von unaufgeklärter und aufgeklärter Hoffnung. Bei der ersteren ist der Mensch noch immer leidend, sie fesselt ihn noch stärker in sein Opfertum, denn anstatt sich zu ermannen und etwas zu tun, wird er nun darauf warten, dass irgendein Zufall oder eine fremde Macht ihm seine Bürde abnimmt; und zurecht beschreibt der Mythos diese Hoffnung als das letzte Übel, das die Götter in die Büchse der Pandora legten, auf dass die Menschen all die anderen Übel ertragen und sich in sie fügen würden. Bei der letzteren Form der Hoffnung wird der Mensch zum Täter, er nimmt seine Geschicke selbst in die Hand und seine Hoffnung ist bloß das Zutrauen in die eigenen Kräfte oder das Zutrauen, dass da, wo diese Kräfte an ihre Grenzen stoßen werden, aber auch da erst, ihm Hilfe kommen wird, und dies Zutrauen ist ihm erst rechter Ansporn, auch tatsächlich all seine Kräfte zu gebrauchen. Wo die Jammer-Hoffnung nur eine verschleierte Form der Selbstaufgabe ist, ist die wahre, die aufgeklärte Hoffnung das, was den Menschen als ein Endliches über dies Endliche hinausfühlen lässt und mit dem Unendlichen verbindet.

„Der schönste Glücksstern, der einem Helden in’s Leben leuchten kann, ist der Glaube, daß kein Unglück sei, und daß jede Gefahr durch feste Fassung, und durch den Muth, der nichts, und, wenn es gilt, auch das eigene Leben nicht schont, besiegt werde. Gehe ein solcher sogar unter in der Gefahr, so bleibt es nur den Zurückgebliebenen, sein Unglück zu beklagen, er selbst ist nicht mehr zugegen bei seinem Unglücke. So ist auch die würdigste Verehrung, welche der Mensch der über unsere Schicksale waltenden Gottheit zu bringen vermag, der Glaube, daß sie reich genug gewesen, uns also auszustatten, daß wir selbst unser Schicksal machen könnten, dagegen ist es Lästerung, anzunehmen, daß unter dem Regimente eines solchen Wesens dasjenige, was allein Werth hat an dem Menschen, Klarheit des Geistes und Festigkeit des Willens, keine Kräfte seien, sondern Alles durch ein blindes und vernunftloses Ungefähr entschieden werde. Denke, könnte man dem Menschen zurufen, daß du Nichts durch dich selbst seiest, und Alles durch Gott, damit du edel und stark werdest in diesem Gedanken; aber wirke, als wenn kein Gott sei, der dir helfen werde, sondern du Alles allein thun müssest, wie er dir denn auch in der That nicht anders helfen will, als wie er dir schon geholfen hat, dadurch, daß er dich dir selbst gab. Wo gleich beim Anfange einer Unternehmung kein rechtes eigenes Herz bei der Sache ist, sondern die Vorsehung hingestellt wird, wie es schient, um Etwas in Bereitschaft zu haben, dem man die Schuld des unglücklichen Erfolgs gebe, da ist eben deswegen zu befürchten, daß man ihrer zu diesem Behufe bedürfen werde.
Dieser Glaube, sage ich, und das Leben in diesem Glauben, ist selbst das rechte eigentliche Glück. Dagegen ist das eigentliche Unglück das Mißtrauen in die Möglichkeit eigener Einsicht und eigener Kraft, und die verzagte Ergebung in das blinde Geschick und in Alles, was dasselbe aus uns machen wolle; woraus Unentschlossenheit, Schwanken in den gefaßten Planen, und, um es mit Einem Zuge zu bezeichnen, derjenige Zustand entsteht, da man zugleich auch nicht will, was man will, und zugleich auch will, was man nicht will. Wer so ist, der ist unglücklich geboren, ihm geht das Unglück nach auf allen seinen Schritten, und wohin er tritt, bringt er es mit sich.“⁷²

Dies ist auch Thunbergs Ansicht von der Hoffnung: „And yes, we do need hope. Of course, we do. But the one thing we need more than hope is action. Once we start to act, hope is everywhere. So instead of looking for hope, look for action. Then and only then, hope will come today.“⁷³ Thunbergs Blick ist heute nicht mehr auf mögliche Wände und Hindernisse gerichtet, er ist auf ihre Freiheit und ihre Möglichkeiten und auf ihre Pflicht ausgerichtet: „We must focus on what we can do. Not what we can’t do“⁷⁴, spricht sie ganz fichtisch und überlässt alles, was über ihre Kräfte geht, der göttlichen Fügung. „Ob aber jemals es uns wieder wohlgehen soll, dies hängt ganz allein von uns ab; und es wird sicherlich nie wieder irgend ein Wohlseyn an uns kommen, wenn wir nicht selbst es uns verschaffen: und insbesondre, wenn nicht jeder Einzelne unter uns in seiner Weise thut und wirket, als ob er allein sey, und als ob lediglich auf ihm das Heil der künftigen Geschlechter beruhe.“⁷⁵ Das ist das Gebot der Vernunft, dem jeder sittliche Mensch und dem Thunberg folgt: Er soll handeln, „gleich als ob er allein da sey, und alles allein thun müsse. Wenn recht viele einzelne so denken, so wird bald ein grosses Ganzes dastehen, das in eine einige engverbundene Kraft zusammenfliesse. Wenn dagegen jedweder, sich selbst ausschliessend, auf die übrigen hofft, und den andern die Sache überlässt; so giebt es gar keine anderen, und alle zusammen bleiben, so wie sie vorher waren.“⁷⁶

Könnten die Menschen Thunbergs Sache und wie sie selbst zu dieser stehen mögen für einen Augenblick vergessen: Sie müssten zunächst froh sein, dass da ein Mensch sich aus seiner Depression gearbeitet und seinen Lebenswillen gefunden hat – müssten froh darüber sein, wenn sie das Schicksal anderer Menschen nur überhaupt kümmerte. Aber was mehr ist, sie könnten von Thunberg lernen, wie sie sich selbst fühlen und mit ihrem eigenen Leben umgehen könnten. Thunberg ist ein Täter. Sie verzweifelt heute nicht, sie klagt nicht über ihr Schicksal. Das spricht sich auch darin aus, wie sie mit ihrer Asperger-Diagnose umgeht, dass sie diese nicht wegwünscht und wie alle anderen sein will, auch sich nicht dahinter versteckt und damit entschuldigt, sondern spricht: „Asperger is not a disease, it’s a gift.“⁷⁷ Die Menschen könnten von ihr lernen, sich nicht zu verleugnen und von sich selbst zu entfremden, sondern die Einheit und den Frieden mit sich selbst zu suchen, ihre Eigenschaften nicht als Schwächen und Hindernisse zu nehmen, sondern als ihnen mitgegebene Gaben, die genau für das gut sind, was sie auf dieser Erde tun wollen. Die Menschen könnten lernen, zu werden, der sie sind, und das, was immer jeder Einzelne nun einmal sein mag, fruchtbar zu nutzen. Die Menschen könnten also lernen, wozu die Aufklärung sie schon vor zwei Jahrhunderten aufforderte und worum sie sich seither gedrückt haben. In einer Welt, in der ein kleines fünfzehnjähriges Mädchen mit Asperger-Syndrom seinem Herzensanliegen Gehör verschaffen, vor den Vereinten Nationen sprechen und hunderttausende Menschen bewegen kann, hat niemand mehr ein Recht, sich klein und hilflos zu fühlen und nicht an sich selbst zu glauben.

 

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Ich wollte mit diesem Text nicht die Behauptung aufstellen, Thunberg sei in jeder Hinsicht aufgeklärt – dies ist ohnehin niemand. Gewiss hat sie noch ihre Unaufgeklärtheiten.

Sie ist zunächst, was heute auf nahezu jeden Menschen von einiger Aufklärung zutrifft, nicht über ihre eigene Aufklärung aufgeklärt. Darauf kommt es aber auch nicht an, sondern auf das Tun. „Der aufgestellte Begriff ist einer der wissenschaftlichen Klarheit. Es ist gut und nützlich, daß die Menschen vollkommen klar werden, weil sie dann auch ihre Zwecke bei andern leichter befördern können; aber es gehört dies nicht schlechthin zur Form des sittlichen Willens. Es kann darum jemand sittlich sein, und in diesem Geiste handeln, ohne diesen Geist selbst zu kennen“⁷⁸. Es genügt, dass sie weiß, was richtig ist, und diesem Richtigen wacker nachstrebt, sie muss in ihrer Situation nicht das Wissen des Philosophen besitzen, warum dies Richtige richtig und warum sie dadurch bestimmt ist.

Mit diesem fehlenden tieferen Bewusstsein für die Aufklärung hängt zusammen, dass Thunberg mitunter noch sehr fixiert auf die Wissenschaft ist, deren Sprachrohr sie sein will: „Unite behind the science“⁷⁹, das ist der Wahlspruch, unter dem sie nach Amerika segelte. Immer wieder ist ihre Botschaft: Die Wissenschaft sagt uns, was für eine Katastrophe uns bevorsteht, die Wissenschaft allein hat auch die Lösungen, die Katastrophe abzuwenden, drum hört auf die Wissenschaft! Ich zitierte bereits, dass sie das Problem bei vielen Menschen in einem Mangel an Kenntnis um den Klimawandel zu sehen scheint. Was wenig anklingt in ihren Reden, ist, dass eine Kenntnis zwar beim Handeln helfen kann, dass Kenntnis allein aber nie eine Handlung gebiert: So wenig wie der Mensch, der genau darum wüsste, was eine gesunde Ernährung für ihn wäre, sich deshalb auch zwangsläufig gesund ernähren würde, weil es hierzu zusätzlich noch des Willens bedürfte, gesund zu leben, so wenig kann das, was für Thunberg und alle Welt Wissenschaft ist, uns irgendwelche Handlungsanweisungen geben. Nein, diese Wissenschaft sagt uns nicht, dass wir den Klimawandel stoppen sollen, und in diesem Sinne bringt uns das bloße Hören auf die Wissenschaft nichts. Diese sagt nur kalt und nüchtern, dass der Klimawandel eben stattfindet, was seine Ursachen sind und was wir tun könnten, wenn wir beschlössen, gegen ihn etwas zu unternehmen. Aber dass wir etwas unternehmen, das ist keine Frage dieser Wissenschaft, es ist eine Frage der Moral. Doch ist das in der jetzigen Lage unwesentlich. Wenn Thunberg mitunter die Forschung mit der Vernunft verwechselt (denn letztere meint sie oftmals eigentlich, wenn sie fordert, auf die Wissenschaft zu hören), so ist das bei einem Menschen ohne philosophische Bildung verzeihlich. Und wenn sie noch etwas zu großen Glauben in Argumente und die Vermittlung von Kenntnissen hat – nun, den hatte auch ich in ihrem Alter noch. Es ist sehr gut möglich, dass ihr mit der Zeit noch klarer wird, was sie ansatzweise schon jetzt weiß, dass die Menschen sich bestimmten Kenntnissen auch verweigern können. Und ein Jeder, der dies einmal erkannt hat, muss sich der Aufklärung zuwenden, muss erkennen, dass, bevor Wissenschaft und Wahrheit an die Menschen gebracht werden können, sie erst einmal so weit gebracht werden müssen, für diese offen zu sein.

Es mag sodann sein, dass Thunberg das Herz zwar am rechten Fleck, aber noch nicht alles derart tief mit dem Verstande durchdrungen hat, dass sie immer durchschaut, was schöne Hülle, was sittlicher Kern ist. So ist, wenn sie spricht „Today is #WomensDay. Today we honour sisterhood.
Nowhere in the world today women and men are equal
The more I read about the climate crisis the more I realise how crucial feminism is.
We can’t live in a sustainable world unless all genders and people are treated equally #8march“⁸⁰ – dem Buchstaben nach falsch, was sie über den Feminismus äußert. Es steht auch in direktem Widerspruch zu ihrer Erkenntnis, „I think we can safely say that all ideologies have failed.“⁸¹ Aber es wäre vorschnell und unbillig, ihre Worte deshalb abzulehnen, man sollte stattdessen Blick haben für den Geist, der sich darin ausdrückt: Ihr Bestreben nach Gleichheit und Achtung aller Menschen ist zu unterstützen, ihre Ahnung, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen der Missachtung verschiedener Menschengruppen und der Zerstörung der Umwelt, ist richtig, wenn sie auch noch nicht zu einer klaren Erkenntnis um diesen Zusammenhang in der Tiefe entwickelt sein mag. Man braucht sich angesichts dieses Twitter-Posts nicht am Worte Feminismus aufhängen, das hier, wie so oft, nur leerer Begriff ist. Das Eigentliche dieses Posts ist offensichtlich sein letzter Satz, und dieser ist ohne Einschränkung wahr. Wenn Thunberg für den Augenblick nicht erkennt, dass der Feminismus nicht für die Achtung vor dem Leben eintritt – nun, das haben Ältere und Unterrichtetere vor ihr bereits nicht erkannt. Und bei Thunberg zumindest darf man hoffen, dass sie ihr Streben noch vertiefen und dass ihr Blick stets klarer werden wird, welche Hoffnung man im Falle vieler Anderer getrost aufgeben kann.

Schließlich weiß ich nicht, inwieweit Thunberg ihre Depression tatsächlich hinter sich gelassen hat oder ob nicht die Gefahr besteht, dass sie wieder in diese zurückfallen könnte, falls das öffentliche Interesse an ihr abebbt und das Engagement Anderer bei Fridays for Future schwindet, ohne dass ein echtes Umlenken im Umgang mit der Natur stattgefunden hätte – oder falls sie Erfolg haben und eine weitere Zerstörung des Lebens abgewendet werden sollte, in welchem Falle vielleicht die weit schwierigere Aufgabe auf sie zukäme, nun nicht mehr gleichermaßen für die höhere Sache leben und sich ganz dieser hingeben zu können, sondern ihr eigenes persönliches Leben fortführen zu müssen. Wie der Kampf für das Klima auch ausgehen wird, Thunberg als Person wird früher oder später vor der Aufgabe stehen, Kraft und Lebensmut nicht allein aus ihrem Kampf und dessen Erfolg zu ziehen, sondern in sich selbst zu finden. Eine Aufgabe, die sie längst gelöst haben oder aber die sie vorerst auf die Zukunft verschoben haben könnte. Ich will hier nicht mutmaßen. Ich kenne Thunberg zu wenig, um über die persönliche Entwicklung, die ihr noch bevorstehen mag, viel sagen zu können. Selbst wenn ich sie kennte, bliebe der Umstand, dass sie, wie jeder Mensch, frei ist und dass es im Wesen von Freiheit liegt, nicht vorhersehbar zu sein. Ich habe auch kein Interesse, einen Menschen, den ich ohnehin persönlich nicht kenne, so weit psychologisch zu analysieren und seinen weiteren Werdegang und seine künftige Aufklärung zu orakeln. Thunberg als Person kann ich für ihre Zukunft nur das Beste wünschen – was ich jedem Menschen wünsche, in diesem Falle aber mit mehr Wärme und auch mehr Hoffnung sagen kann, als ich es im Falle vieler Anderer täte.

Hier war es mir nur darum zu tun, das, was sie an Aufgeklärtem an sich hat und was klar am Tage liegt, vor einer Welt, die es aus Mangel des Wissens um die Aufklärung und auch aus Oberflächlichkeit des Blicks nicht erkennt, einmal als solches zu beschreiben – und dieser Welt zur Nachahmung zu empfehlen. Ich sage es ein letztes Mal: Man mag von Thunbergs konkretem Anliegen halten, was man will, man mag an den Klimawandel glauben oder nicht. Aber einmal abstrahiere man doch hiervon und betrachte sie nur als Person und nicht durch persönliche Ideologie voreingenommen: Man wird sich nicht verhindern können, sie zu achten, und wenn Einige sie so verbissen anfeinden, dann vielleicht nur, weil sie wohl spüren, dass sie sich selbst im Vergleich mit ihr verachten müssen, und weil sie nicht willens und fähig sind, den Ingrimm, den dies entzündet, gegen sich selbst zu lenken und zu nutzen, um sich zur eigenen Besserung zu treiben, sondern ihn eben lieber gegen Die wenden, die sie derart an ihre eigene Nichtswürdigkeit erinnert.

Wohl, man muss schon seine private Ideologie fallenlassen, man muss auf seine Klugheit und Erfahrung verzichten, auf all das, was man schon zu wissen meint, auf all sein Fertigsein und all seine Besitztümer, wenn man Thunberg anschaut, sonst kann man an ihr nichts entdecken. Das gilt mitnichten nur für den Mob aus rechtem Gesindel und Klimawandelleugnern. Es gilt für alle Arten von Ideologen gleichermaßen. Hier muss ich nur an eine Fridays for Future-Demonstration denken, da ein Kerl von der MLPD mich ansprach – es sind immer mal wieder einige Mitglieder dieser Sekte anwesend und versuchen auf ziemlich klägliche Weise, die Schülerproteste zu unterwandern: Er war ein typischer Vulgärmarxist (was amüsant ist, da er es war, der ständig mit der Anschuldigung um sich warf, diese oder jene Position sei vulgärmaterialistisch oder dergleichen, was ihm als Argument genügte, um sie abzuschmettern, und ihn offenbar alles weiteren Begründens enthob), einer von der Sorte, die zu verschwörungstheoretischen Denk- und Redemustern neigen, ständig von irgendwelchen bösen und gierigen Reichen faseln, die alles lenken und manipulieren, und denen offenbar keiner je gesagt hat: dass Marxens Hauptwerk Das Kapitel hieß und nicht Die Kapitalisten. Einer der Hauptsätze dieses MLPDlers, den er mir mehrmals wiederholte, war, ein Einzelner könne heute nichts erreichen, wenn er keine Macht habe, „die da oben“ hätten nämlich alle Macht, würden die Massenmedien kontrollieren usw. – dies trug er mir ohne allen Anflug von Ironie vor: auf einer Fridays for Future-Demonstration. Ich musste an mich halten, nicht laut loszulachen. Es gehört schon ein gehöriges Maß an ideologischer Verblendung, die stumpf und blind gegen die Wirklichkeit macht, dazu, um auf einer Demonstration, die Teil einer globalen Bewegung von Hunderttausenden ist, welche von einem kleinen fünfzehnjährigen Schulmädchen mit Asperger-Syndrom und ohne jegliche Macht angestoßen wurde, davon zu faseln, dass die Mächtigen alles in der Hand hätten und der Einzelne ganz ohnmächtig wäre (aber weshalb sollte jemand Kommunist und damit Materialist sein, wenn nicht, weil er von tiefem Opferdenken geleitet ist?). Wohl ungefähr derselbe Grad ideologischer Verblendung, der es Pegidioten ermöglicht, über mehrere Jahre Montag für Montag protestieren zu gehen, öffentlich die Regierung anzugreifen, ja selbst symbolische Galgen für führende Politiker herumzutragen und dabei beharrlich zu klagen, es gebe in diesem Staate keine Meinungsfreiheit, man verbiete ihnen den Mund, während ihre Demonstrationen doch nicht aufgelöst und sie doch nicht weggesperrt werden. Wer bereit ist, einmal unvoreingenommen hinzuschauen, der kann in unseren Tagen an Thunberg viel lernen und manch lang gehegtes Vorurteil ablegen, sei es nun der Glaube, es bräuchte Macht, um etwas zu bewirken, sei es der vielen so liebe Glaube an die eigene Unfreiheit und die alles beherrschende Notwendigkeit.

Thunbergs Redlichkeit und Integrität und ihr Verzicht, sich und ihre eigene Meinung in den Vordergrund zu spielen, anstatt eine Stimme der Wahrheit, der Wissenschaft und der Vernunft zu sein, ihr Idealismus und ihre große Selbstlosigkeit, Thunbergs Geradlinigkeit, ihr Mut und ihre Entschlossenheit, ihr großes Verantwortungsgefühl und Pflichtbewusstsein, während sie sich zugleich aller Klügeleien enthält, ihre Bereitschaft, die Realität anzuschauen und sich ihr zu stellen, wie sie ist, nicht zuletzt auch, dass sie Täter und kein ohnmächtiges Opfer ist – all das macht sie einzigartig unter Denen, die derzeit in der Öffentlichkeit stehen, all das ist ganz unzeitgemäß. Dass ein Mensch wie Thunberg heute sein kann, ist ein Wunder. Dass sie nicht zugrunde gehen muss, sondern andere begeistern und bewegen kann, ist ein zweites Wunder. Sie gleicht mir darin, dass sie ohne alle Vorzeichen war, dass nichts auf ihr Erscheinen hindeutete, dass sie eines Tages einfach da war. Noch am Tag, bevor ihr Streik begann, hätte niemand vorhersehen können, dass binnen eines Jahres ein kleines Mädchen die Welt bewegt haben, dass sie vor der UN sprechen, dass in zahllosen Ländern auf ihr Beispiel hin Schüler auf die Straße gehen würden, und hätte es doch einer vorhergesagt, er wäre ausgelacht worden. Hierdurch erweist sie sich als Ereignis, während alles andere bloßes Tagesprodukt ist. Thunberg ist keine bloße Folge irgendeiner Ursache, die man nach den Gesetzen der Kausalität hätte ableiten und vorhersehen können. Sie wurde nicht gemacht, sie hat sich selbst gemacht, ganz wie es der Aufgeklärte nun einmal tut, der eben daher immer unzeitgemäß, immer in seiner Zeit, aber nicht von seiner Zeit ist. Ich hatte lange angenommen, dass ich, wenn ich dereinst an die Öffentlichkeit treten würde, allein und die einzige Stimme der Vernunft sein würde. Nicht auf ewig, ich rechnete wohl damit, dass diese neue Zeit, die heute anbricht, noch andere Aufklärer sehen würde. Aber im Anfange würde ich allein sein müssen, wähnte ich. Dass ich hierin irrte, dass schon ein Jahr vor mir Thunberg an die Öffentlichkeit trat und dass sie es mit solch einer Wirkung tat, das stimmt hoffnungsvoll.

„Dies die Ueberzeugung und Weltansicht der Wissenschaftslehre. Die Worte sind, denk‘ ich, klar, und nicht miszuverstehen. Es ist nur schwer zu glauben, dass es Ernst sey, und dass nichts weiter denn das, so ganz einfach, behauptet werde. Auch dringt diese Denkart natürlicherweise Achtung ab: sie lässt sich wohl bezweifeln, verleumden, aber im Ernste verachten kaum. – Man kann so nicht seyn, der Mensch ist schwach, die Sinnlichkeit dringt sich uns immer wieder auf! Gut, ihr seyd also verächtliches, nichtswürdiges Volk, ihr, die ihr so sagt, und bekennet es laut: und seyd jämmerliche Thoren dazu; denn wer hat diese Beichte euerer Verächtlichkeit von euch begehrt? – Man passt bei einer solchen Denkart schlecht in die Welt, macht sich allenthalben Verdruss! Ihr Verächtlichen! Warum sorgt ihr denn mehr dafür, dass ihr euch den Anderen anpasst, als diese euch, und sie für euch zurechtlegt? Wer recht ist, muss sich nicht fügen dem Unrechten, sondern umgekehrt, die Unrechten müssen sich fügen dem Rechten; dieser aber will nicht den Beifall der Schlechten, da müsste er selbst ja ein Schlechter werden: sondern er will die Schlechten so bilden und zurechtsetzen, dass sie seinen Beifall haben können. Freilich muss das Rechte auch bei sich führen Tüchtigkeit und Muth; aber ohne diese kommt man gar nicht zum Rechten. – Nun möchte Jemand zugeben, dass dem so sey, aber fragen: wie dazu zu gelangen? – Nur durch Bildung des eigenen inneren Auges. Von aussen, durch den blossen Glauben, kommt es nicht: er muss in sich selber es haben!“⁸² Das Wort Held ist ein sehr gemissbrauchtes, es ist ein schal und abgeschmackt gewordenes in Tagen, da die Werbung uns schon Menschen als Helden verkaufen will, die gegen ausbeuterischen Lohn Briefe oder schlechtes Essen durch die Stadt radeln; aber das Wort noch einmal ernstgenommen: Wer wäre heute ein Held zu nennen, wenn nicht dieses heldenmütige Mädchen? Statt sie wie einen solchen zu ehren, erzählen einige die infamsten Lügen über sie, überschütten sie mit den gröbsten Beleidigungen, ja hofften zuletzt, als sie den Atlantik überquerte, gar, sie möge kentern – wünschten also einem Kinde den Tod, noch dazu einem, von dem sie selbst doch immer wieder betonen, es sei unreif, ohne alle Lebenserfahrung und wisse nicht, was es tue, wünschen den Tod also einem Kinde, das sie für unschuldig erklärt haben. „I mean… It’s… it’s just ridiculous really that people think so little of each other that they try to put others down and that some… No one can do something just for a good cause. There always has to be a hidden agenda behind it. And I think that‘s very sad.“⁸³ Wo ist der Fortschritt, auf den sich unser Zeitalter der Aufklärung so viel einbildet? Wo sind wir heute weiter als jene früheren Zeiten, auf die wir als barbarische so herabblicken? Es gab einmal Zeiten, da wusste man noch einen Feind zu ehren, da konnte man einem solchen noch als einem Gleichen begegnen, da mochte man seine Überzeugungen für falsch erklären, mochte ihn selbst bis in den Tod bekämpfen, aber konnte seinen Edelmut bewundern und ihm wiederum mit Edelmut begegnen. Man denke nur an den Respekt, den man in Europa für einen Saladin hegte, denke, wie er und Richard Löwenherz einander Geschenke gemacht haben sollen, wie Saladin dem erkrankten englischen König seinen Leibarzt geschickt haben soll. Damals zu Zeiten der Kreuzzüge wusste man die Ritterlichkeit eines Heiden zu preisen, den man solchen Lobpreis‘ für würdig hielt. Dante versetzte Saladin in seiner Göttlichen Komödie, zusammen mit seinen Glaubensbrüdern Avicenna und Averroes, in den Limbus, jenen Ort der Hölle, wohin, frei von peinigenden Strafen, jene Seelen versetzt werden, denen zwar der Himmel verschlossen bleibt, da sie den wahren Glauben nicht annahmen und ungetauft blieben, die aber ansonsten keine Schuld auf sich geladen und sich nicht versündigt haben. „Muss denn Etwas, gegen das man zu kämpfen, das man in Schranken zu halten oder sich unter Umständen ganz aus dem Sinne zu schlagen hat, immer böse heissen! Ist es nicht gemeiner Seelen Art, sich einen Feind immer böse zu denken!“⁸⁴ In was für barbarischen Zeiten leben wir, da niemand mehr sprechen kann: „Ich widerspreche entschieden deinen Überzeugungen und ich bekämpfe mit aller Kraft deine Sache, aber ich muss bekennen, dass ich dich verehre und achte!“, da vielmehr die Menschen ihrem Gegner nur mit der grässlichsten Menschenverachtung begegnen können? Aber ach! „nur Gute glauben überhaupt an Gute, und erkennen sich unter einander an“⁸⁵ Thunberg ist wie ein lebendiger Lackmustest für die Moralität ihrer Zeitgenossen. Und ich bin überzeugt, dass man die Sittlichkeit eines Menschen heute ganz alleine daran vollständig ablesen kann, wie er zu ihr steht. Ihre Feinde, die diese ekelhafte Rufmordkampagne betreiben, selbst wenn sie mit der Verleugnung der menschengemachten Klimakrise recht hätten: sie sind sicher keine Guten. Alle Sittlichen, deren Herzen ihr ohne Ausnahme zugeneigt sind, die werden Greta Thunberg als eine Gute erkennen – und denen rate ich, zu streben, ihr gleich zu werden.

1 „Greta, als deine Direktorin an der Schule zweifle ich nicht daran, dass du deine eigenen Reden schreibst.“ (Kommentar auf Facebook vom 12.2.2019 zu Thunbergs Klarstellung vom 11.2.2019 ebd.)

2 „[D]azu kann ich nur sagen; glaubt ihr nicht, dass eine 16-jährige für sich selbst sprechen kann?“ (Greta Tintin Eleonora Ernman Thunberg: Klarstellung auf Facebook vom 11.2.2019.)

3 Greta Tintin Eleonora Ernman Thunberg: Im Interview mit dem Spiegel vom 2.2.2019 „Es ist ein gutes Zeichen, dass sie mich hassen.“

4 Etwa bei der UN-Klimakonferenz in Katowice 2018.

5 So im Interview mit Amy Goodman für Democracy Now! “We Are Striking to Disrupt the System”: An Hour with 16-Year-Old Climate Activist Greta Thunberg.

6 Greta Tintin Eleonora Ernman Thunberg: Im Interview mit dem Spiegel vom 2.2.2019 „Es ist ein gutes Zeichen, dass sie mich hassen.“

7 „Dieser Gedanke ist völlig absurd.“ (Greta Tintin Eleonora Ernman Thunberg: Klarstellung auf Facebook vom 11.2.2019.)

8 Kevin Anderson: Im Interview mit dem Spiegel vom 28.3.2019 Schreiben Sie Greta Thunbergss Reden, Mr. Anderson?

9 Ebd.

10 Ebd.

11 „Ich will, dass alles absolut korrekt ist, sodass ich nicht inkorrekte Fakten verbreite oder Dinge, die missverstanden werden können.“ (Greta Tintin Eleonora Ernman Thunberg: Klarstellung auf Facebook vom 11.2.2019.)

12 Thunberg hingegen gehört nicht zu denen, die zu allem den Mund aufmachen und eine Meinung haben müssen, sie kann zugeben, wenn sie einmal keine Antwort hat: „Ask scientists“, empfiehlt sie auf die Frage, ob ein Verzicht auf Energieerzeugung durch fossile Brennstoffe ohne den Ersatz durch Atomkraft möglich ist. „That is – that is something I can’t speak out on because I don’t have that scientific education. And that is such a big decision that we need to have scientific evidence and scientific based recommendations on what we should do, so – I can’t say what we should do.“ („Fragen Sie Wissenschaftler. Das ist – das ist etwas, worüber ich mich nicht äußern kann, denn ich habe nicht die wissenschaftliche Ausbildung. Und das ist solch eine große Entscheidung, dass wir wissenschaftliche Beweise und auf Wissenschaft basierende Empfehlungen brauchen, was wir tun sollten, insofern – kann ich nicht sagen, was wir tun sollten.“ Greta Tintin Eleonora Ernman Thunberg: Im Interview mit Anne Will vom 31.3.2019.)

13 „Wir müssen es sagen, wie es ist.“ (Greta Tintin Eleonora Ernman Thunberg: Im Interview mit Dazed vom 13.5.2019 Greta Thunberg: ‘The best medicine is to do something about it‘.)

14 Friedrich Wilhelm Nietzsche: Unzeitgemässe Betrachtungen. Zweites Stück: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben. 2.

15 „Nicht wirklich. Ich – ich mag es nicht wirklich, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen. Ich finde es manchmal anstrengend mit – mit all der Aufmerksamkeit und Leuten überall. Aber ich – ich kann mich nicht wirklich beschweren, denn ich habe mich selbst in diese Situation gebracht, daher… Und es – es ist ein kleiner Preis, wenn man – wenn man weiß, dass man etwas bewirkt. Und ich – wenn das etwas ist, das ich – ich tun muss, um fortzufahren, das hier zu tun, dann macht es mir nichts.“ (Greta Tintin Eleonora Ernman Thunberg: Im Interview mit Anne Will vom 31.3.2019.)

16 Johann Gottlieb Fichte: System der Sittenlehre. Gehalten von Ostern bis Michaelis 1812.

17 „Das zu sagen, ist nicht an mir. Ich teile nur die wissenschaftlichen Fakten mit. Diese Frage zu beantworten ist wahrscheinlich nicht möglich, ohne eine persönliche Meinung zu äußern, und das überlasse ich anderen. (Greta Tintin Eleonora Ernman Thunberg: Auf Fragen von Prominenten und Lesern im Guardian vom 21.7.2019 Greta Thunberg: ‘They see us as a threat because we’re having an impact’.) Thunberg irrt hier zwar: Die Frage lässt sich durchaus wissenschaftlich und ohne alles Meinen beantworten (aber sie äußerte ja auch nur, dass dies „wahrscheinlich“, nicht dass es gewiss nicht möglich sei, insofern ist dies kaum auch nur ein Irrtum zu nennen), aber sie selbst wenigstens ist mit der Wissenschaft, die dies könnte, nicht einmal bekannt, geschweige denn im Besitz derselben, wenn sie die Frage beantwortet hätte, so hätte ihre Antwort also bloße Meinung sein müssen, und so tat sie gut daran, auf eine Antwort zu verzichten, und handelte vorbildlich.

18 Johann Gottlieb Fichte: Die Staatslehre, oder über das Verhältniss des Urstaates zum Vernunftreiche. Erster Abschnitt.

19 Aufklärung bedeutet Selbstbewusstsein gewinnen. Der Unaufgeklärte ist unbewusst und vom dunklen Triebe geleitet. Nun mag es sein, dass Thunberg, die ich zwar nicht näher kenne, bei der ich aber kein Wissen um die Wissenschaftslehre voraussetze, kein solch klares Bewusstsein von ihrem Idealismus hat, wie ich es habe und wie es der Leser hier entwickeln kann. Dies halte man mir aber nicht vor, um meine Behauptung zu widerlegen. Denn es gibt nicht nur die bewusste Vernunft und den unvernünftigen Trieb, es gibt dazwischen auch einen Vernunftinstinkt, es gibt Menschen, die das Rechte tun, ohne dass sie wiederum auf ihr Tun selbst reflektieren müssten: „Die erste, zu allererst der Zeit nach sich entwickelnde Grundart des Bewusstseyns ist die des dunklen Gefühls. Mit diesem Gefühle wird am gewöhnlichsten und in der Regel der Grundtrieb erfasst als Liebe des Einzelnen zu sich selbst, und zwar giebt das dunkle Gefühl dieses Selbst zunächst nur als ein solches, das da leben will und wohl seyn. Hieraus entsteht die sinnliche Selbstsucht als wirklicher Grundtrieb und entwickelnde Kraft eines solchen, in dieser Uebersetzung seines ursprünglichen Grundtriebes befangenen Lebens. So lange der Mensch fortfährt also sich zu verstehen, so lange muss er selbstsüchtig handeln, und kann nicht anders; und diese Selbstsucht ist das einige Beharrende, sich Gleichbleibende und sicher zu Erwartende in dem unaufhörlichen Wandel seines Lebens. Als aussergewöhnliche Ausnahme von der Regel kann dieses dunkle Gefühl auch das persönliche Selbst überspringen und den Grundtrieb erfassen, als ein Verlangen nach einer dunkel gefühlten anderen Ordnung der Dinge. Hieraus entspringt das, an anderen Orten von uns sattsam beschriebene Leben, das da, erhaben über die Selbstsucht, durch Ideen, die zwar dunkel sind, aber dennoch Ideen, getrieben wird, und in welchem die Vernunft als Instinct waltet.“ (Johann Gottlieb Fichte: Reden an die deutsche Nation. Dritte Rede.)

20 „Ich habe einen Traum.“ (Martin Luther King: Rede am 28.8.1963 am Lincoln Memorial in Washington.)

21 „Wie so ganz der gewöhnliche Mensch nichts versteht von dem Höheren, und ihm völlig widerstreitend gesinnt ist, beweist unter andern die bei Gottes- und Sittenlehrern so häufig vorkommende Versicheurng, sich selbst zu vergessen und aufzugeben sei schlechthin nicht möglich, wider die Natur, und könne gar nicht geboten sein; dies ist absolutes Nichtsehen, Verschlossenheit und Mangel des Gesichts aus Gier. Wenn man sie fragte: was liegt denn nun aber daran, ob Ihr seid oder nicht? so werden sie dafür nie eine verständige Antwort haben. Sie werden Nichts vorbringen können, als: aber ich will eben, daß ich sei, und ich kann dieses Wollen nicht aufgeben. Sie können Recht haben, indem sie ihren faktischen Zustand als den absoluten voraussetzen. Aber, nach einer Bemerkung, die ich schon bei einer anderen Gelegenheit gemacht habe, und die man in dieser Materie immer zu wiederholen hat, – wie kommen sie denn dazu, ihr Individuum zum Ideale und zum Grundbilde des Menschengeschlechts zu machen, und anzunehmen: Keiner sei besser und mehr, denn sie? Wir dagegen behaupten ihnen gegenüber, es ist das Allernatürlichste, Leichteste und Einfachste, gar kein Selbst zu haben. Es ist mir weit leichter, zu begreifen das Nichtselbst, als das Selbst, das Letztere ist schon ein sehr verändertes und zusammengesetztes Denken.“ Johann Gottlieb Fichte: System der Sittenlehre. Gehalten von Ostern bis Michaelis 1812.

22 Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. Zweite, hin und wieder verbesserte Auflage. I. Zweiter Teil. Zweite Abteilung. Erstes Buch. 1. Abschnitt.

23 Johann Gottlieb Fichte: Die Staatslehre, oder über das Verhältniss des Urstaates zum Vernunftreiche. Erster Abschnitt.

24 Greta Tintin Eleonora Ernman Thunberg: Im Interview mit dem Spiegel vom 2.2.2019 „Es ist ein gutes Zeichen, dass sie mich hassen.“

25 Ebd.

26 „[E]s kümmert mich nicht, beliebt zu sein. Klimagerechtigkeit und der lebendige Planet kümmern mich.“ (Greta Tintin Eleonora Ernman Thunberg: Rede bei der UN-Klimakonferenz in Katowice 2018.)

27 „Ich bin introvertiert; privat bin ich sehr schüchtern, und ich spreche nicht, außer wenn ich muss. I glaube, jetzt entscheide ich einfach, Dinge zu tun, und sobald ich entschieden habe, etwas zu tun, denke ich nicht mehr darüber nach. Das heißt, wenn ich vor tausenden, zehntausenden von Menschen spreche, werde ich nicht wirklich nervös, denn ich weiß, was ich sagen möchte, und ich weiß, welche Botschaft ich überbringen möchte. Aber privat spreche ich nicht, außer wenn es notwendig ist.“ (Greta Tintin Eleonora Ernman Thunberg: Im Interview mit Dazed vom 13.5.2019 Greta Thunberg: ‘The best medicine is to do something about it‘.)

28 Greta Tintin Eleonora Ernman Thunberg: Im Interview mit dem Spiegel vom 2.2.2019 „Es ist ein gutes Zeichen, dass sie mich hassen.“

29 „notwendig“

30 „[I]ch denke, wir können sicher sagen, dass alle Ideologien versagt haben.“ (Greta Tintin Eleonora Ernman Thunberg: Auf Fragen von Prominenten und Lesern im Guardian vom 21.7.2019 Greta Thunberg: ‘They see us as a threat because we’re having an impact’.)

31 „Ich mag es nicht, in Gesellschaft zu sein.“ (Greta Tintin Eleonora Ernman Thunberg: Videobotschaft zur Verleihung des Prix Liberté 2019.)

32 Johann Gottlieb Fichte: Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters. Fünfte Vorlesung.

33 Greta Tintin Eleonora Ernman Thunberg: Im Interview mit dem Spiegel vom 2.2.2019 „Es ist ein gutes Zeichen, dass sie mich hassen.“

34 Johann Gottlieb Fichte: Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters. Fünfte Vorlesung.

35 „Bevor ich auf das Segelboot gestiegen bin, hatte ich nicht wirklich… Ich entschied mich, keine Erwartungen zu haben, denn ich dachte mir schlicht, dass ich… ich tue es einfach und… genieße es auf dem Weg.“ (Greta Tintin Eleonora Ernman Thunberg: Im Interview mit Amy Goodman für Democracy Now! “We Are Striking to Disrupt the System”: An Hour with 16-Year-Old Climate Activist Greta Thunberg.)

36 Greta Tintin Eleonora Ernman Thunberg: Im Interview mit dem Spiegel vom 2.2.2019 „Es ist ein gutes Zeichen, dass sie mich hassen.“

37 „Klar – es ist manchmal sehr überwältigend, darüber nachzudenken, deswegen denke ich nicht darüber nach, wie die Zukunft aussehen wird, denn das wäre zu deprimierend und ich würde nichts tun, außer mich zu ängstigen. Also, statt mich zu fürchten, wie die Zukunft aussehen wird, versuche ich sie zu ändern, solange ich es noch kann.“ (Greta Tintin Eleonora Ernman Thunberg: Im Interview mit Dazed vom 13.5.2019 Greta Thunberg: ‘The best medicine is to do something about it‘.)

38 „Mich kümmert nicht, ob das, was ich tue – was wir tun – hoffnungsvoll ist. Wir müssen es trotzdem tun. Selbst wenn keine Hoffnung mehr ist und alles hoffnungslos ist, müssen wir tun, was wir können.“ (Greta Tintin Eleonora Ernman Thunberg: Im Interview mit dem Guardian vom 11.3.2019 Greta Thunberg, schoolgirl climate change warrior: ‘Some people can let things go. I can’t’.)

39 „Ich sehe – ich weiß, was getan werden muss und dann – dann tue ich es einfach. I habe keine – ich habe keine Zweifel oder überlege es mir anders. Ich – wenn ich beschließe, etwas zu tun, und wenn es etwas ist, dass mir wirklich wichtig ist, dann – dann tue ich es, es gibt keine zweite Option.“ (Greta Tintin Eleonora Ernman Thunberg: Im Interview mit Anne Will vom 31.3.2019.)

40 „Tatsächlich habe ich nicht wirklich irgendetwas erwartet. Ich dachte bloß, dass ich – Ich werde tun, was ich tun kann: Alles in meiner Macht stehende, um – um Aufmerksamkeit für und Konzentration auf die Klimakrise zu erreichen. Und wenn ich das hier tue, dann werden vielleicht die Medien darüber schreiben und Leute werden anfangen, darüber zu reden. Also ich hatte nicht wirklich irgendwelche Erwartungen, ich habe es nicht – ich habe es nicht getan, um eine Bewegung zu begründen.“ (Ebd.) (Wenn man mich eines Tages fragen wird, ob ich erwartet hatte, dass der Erfolg so schnell kommen, oder ob ich damit gerechnet hatte, dass es so lange dauern würde – ich werde dasselbe antworten müssen: Dass ich überhaupt nichts erwartet, sondern schlicht das Meine getan habe.)

41 „Ich meine, ich werde nicht so sehr im – im Fokus der Medien stehen, ich werde nicht immer so interessant für die Medien sein, das wird bald enden. Aber ich weiß, dass ein – ich meine, mein Ziel ist einfach, zu – alles zu tun, was ich kann. Ich meine, ich tue nicht… Viele Leute sagen, dass ich – meine Mission wird scheitern. Ich – ich habe nicht wirklich eine Mission. Meine Mission ist, alles in meiner Macht Stehende zu tun, um die Welt zu einem besseren Ort zu machen, und zu versuchen – dafür zu sorgen – alles in meiner Macht Stehende zu tun – damit die Welt sich an das Übereinkommen von Paris hält.“ (Ebd.)

42 „Aus der Vergangenheit heraus Zukunft gestalten“, so definiert Henrik Löwer die Gegenwärtigkeit, ihm zufolge geht es also darum, die Herkunft nicht zu verleugnen, sondern auf ihr aufzubauen; während der im Moment gefangene Materialist weder Vergangenheit noch Zukunft hat. Bestenfalls behaupte dieser manchmal, von einer Vergangenheit bestimmt zu sein, welches aber nur „seine Jetzt-Variante der Vergangenheit, die er in die Zukunft zu schieben versucht“, sei.

43 An anderer Stelle kommentiert Thunberg all die Angriffe auf ihre Person im Internet: „Manchmal lese ich solche Beiträge, um die Argumente dieser Menschen kennenzulernen. Die meisten haben gar keine Argumente; sie attackieren mich wegen meines Erscheinungsbildes oder der Diagnose. Aber es ist ein gutes Zeichen, dass sie über mich schreiben und mich hassen. Denn das zeigt, dass sie mich als Bedrohung ansehen.“ Und auf die Frage ihres Interviewers, ob sie „solche Angriffe nicht traurig [machen]?“, erwidert sie: „Mir tun diese Menschen leid. Sie kapieren nicht, wie ernst unsere Lage ist. Natürlich kommt es ihnen dann verrückt vor, dass Zehntausende für das Klima einen Schulstreik starten. Wenn man so wie ich in die Öffentlichkeit geht, muss man auch zulassen, kritisiert zu werden. Deswegen beschwere ich mich nicht darüber. Auch wenn ich noch ein Kind bin und es falsch ist, Gemeinheiten über ein Kind zu verbreiten.“ (Greta Tintin Eleonora Ernman Thunberg: Im Interview mit dem Spiegel vom 2.2.2019 „Es ist ein gutes Zeichen, dass sie mich hassen.“.) Gewiss zeigt sie hier mehr Reife und, nebenbei bemerkt, auch Feinsinnigkeit als ihre Angreifer, von denen die Rede ist.

44 „Ehrlich gesagt, ich finde, es ist lustig. Ich – ich weiß nicht, wie viele Lachanfälle ich hatte, einfach beim Anschauen dieser Tweets. Und manchmal habe ich so etwas wie einen Wettstreit mit mir selber, die absurdeste Verschwörungstheorie zu finden.“ (Greta Tintin Eleonora Ernman Thunberg: Im Interview mit Naomi Klein für The Intercept Greta Thunberg on the Climate Fight: “If We Can Save the Banks, Then We Can Save the World”.)

45 Immanuel Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. Zweiter Teil. A. III.

46 Immanuel Kant: Immanuel Kant über Pädagogik. Abhandlung. Von der physischen Erziehung.

47 Ein Mann von festen Vorsätzen.

48 Ebd.

49 „Ich mache mir viele Gedanken. Manche Leute können Sachen einfach fallenlassen, aber ich kann das nicht, besonders, wenn da etwas ist, das mir Sorgen oder das mich traurig macht. Ich erinnere mich, als ich jünger war und in der Schule, da haben unsere Lehrer uns Filme gezeigt von Plastik im Ozean, hungernden Eisbären und so weiter. Ich habe durch all die Filme hindurch geweint. Meine Klassenkameraden waren betroffen, während sie den Film sahen, aber wenn es vorüber war, fingen sie an, an andere Dinge zu denken. Ich konnte das nicht. Diese Bilder waren in meinen Kopf gebrannt.“ (Greta Tintin Eleonora Ernman Thunberg: Im Interview mit dem Guardian vom 11.3.2019 Greta Thunberg, schoolgirl climate change warrior: ‘Some people can let things go. I can’t’.)

50 Johann Gottlieb Fichte: Reden an die deutsche Nation. Zwölfte Rede.

51 „Ich bin ein Realist. Ich sehe Fakten.“ (Greta Tintin Eleonora Ernman Thunberg: Im Interview mit Anne Will vom 31.3.2019.)

52 Greta Tintin Eleonora Ernman Thunberg: Im Interview mit dem Spiegel vom 2.2.2019 „Es ist ein gutes Zeichen, dass sie mich hassen.“.

53 „Nein, denn ich kann ihnen nicht wirklich irgendetwas sagen, das nicht zuvor schon gesagt wurde. Sie hören offensichtlich nicht zu.“ (Greta Tintin Eleonora Ernman Thunberg: Im Interview mit Dazed vom 13.5.2019 Greta Thunberg: ‘The best medicine is to do something about it‘.)

54 Immer wieder wird den Idealisten ihr mangelnder Realitätssinn vorgeworfen und immer wieder kann dies nur aus Ignoranz geschehen. Eine meiner Schülerinnen fragte, nachdem ich über Fichte gesprochen hatte, einmal ihre Philosophielehrerin, ob sie den denn auch mal behandeln würden: Nein, der sei nicht so wichtig, der habe nichts Realistisches gesagt, log diese ehrlose Frau (denn sie hatte ja nie eine Zeile Fichte gelesen und musste somit wissen, dass sie sich über diesen nicht äußern durfte). Der Vorwurf ist nicht neu. Ich möchte einmal einen Einzigen ihn aussprechen hören, nachdem er Fichtes Machiavelli-Schrift und seine Ratschläge an die deutschen Fürsten im Angesichte Napoleons gelesen hat. Wer noch hätte um 1800 in Deutschland einen solch klaren Realitätssinn, ein solch deutliches Verständnis für Realpolitik gehabt wie der große Idealist?

55 „[I]ch denke, wir sollten die Wahrheit verbreiten, und ob das alarmistisch ist oder nicht, es ist realistisch. Wir können nicht einfach entscheiden, einige Fakten zu verbreiten und andere nicht, weil wir die Leute nicht beunruhigen wollen. Wir müssen es sagen, wie es ist. Was sollten wir sonst tun, sollten wir falsche Hoffnung verbreiten? Wir müssen es sagen, wie es ist.“ (Greta Tintin Eleonora Ernman Thunberg: Im Interview mit Dazed vom 13.5.2019 Greta Thunberg: ‘The best medicine is to do something about it‘.)

56 Im Vorbeigehen eine Bemerkung, die zwar weder in diese Rubrik, zum Aufgeklärten, gehört, noch etwas mit Thunberg zu tun hat, die ich mir aber erlaube, weil es auch zu meinen Anliegen gehört, dem Publikum deutlich zu machen, was Philosophie ist – und was nicht.
Wenn jemand historisch die Person Greta Thunberg auffasste, feststellte, dass sie diese und jene Eigenschaften zeigt, und hieran irgendwelche weiterführenden Gedanken knüpfte, so könnte dieses noch so scharfsinnig und geistreich sein, es wäre jedenfalls keine Philosophie, denn Philosophie, ja im strengen Sinne überhaupt Wissenschaft arbeitet nicht historisch, sondern genetisch: Sie formuliert Gesetze und lässt ihren Gegenstand a priori aus dem Gesetz entstehen. Mit anderen Worten ist der „Charakter der Philosophie: sie ist Erkenntniss, die sich selbst werden sieht, genetische Erkenntniss.“ (Johann Gottlieb Fichte: Die Staatslehre, oder über das Verhältniss des Urstaates zum Vernunftreiche. Erster Abschnitt.) Es könnte jemand dreieckige Formen, die in der Natur vorkommen, untersuchen. Er könnte ein guter Beobachter sein und vieles an ihnen entdecken, z. B. feststellen, dass sie immer eine Innenwinkelsumme von 180° zu haben scheinen. Dieses wäre aber bloße Formenkunde, es wäre keine Wissenschaft von den Formen, keine Geometrie. Der Mathematiker kann, ohne reale Dreiecke zu betrachten und an ihnen herumzumessen, aus den Gesetzen der Vernunft in seinem Verstande ein Dreieck konstruieren. Ihm wird die Innenwinkelsumme von 180° nicht nur Faktum, sondern Notwendigkeit sein. Und dies zeichnet die Philosophie aus: Sie beschreibt nicht, was ist, sondern was gemäß einem Gesetz sein muss. Ein Text, in dem festgestellt würde, dass Thunberg sich durch einen großen Realismus auszeichnet oder dass sie über Charakter und Prinzipientreue verfügt, wäre also nicht philosophisch. Philosophisch ist der vorliegende Text dadurch, dass er diese Eigenschaften als notwendige Eigenschaften des Idealisten beschreibt, dass er dem Leser zeigt: Der Idealist muss die Realität anschauen, wie sie ist, weil ihm ja sein Ideal das Wichtigste ist und er sie also darauf hin prüft, inwieweit sie diesem entspricht; der Idealist muss einen festen Charakter haben und immer seinem Grundsatze folgen, da ja die materielle Welt ihn nicht bewegen kann – er sucht vielmehr sie zu bewegen – und somit ihn nichts von seinem einmal gefassten Entschlusse abbringen kann.
An diese Bemerkung schließt an eine zweite: Das Wesen eines Gesetzes ist Allgemeinheit. Die Mannigfaltigkeit ist gesetzlos. Es ist notwendig, dass jedes euklidische Dreieck eine Innenwinkelsumme von 180° habe. Nicht notwendig ist, dass das Lineal, das zu Schulzeiten in meiner Federtasche steckte, ein Geodreieck und damit ein Dreieck und nicht ein gewöhnliches Lineal und damit ein Rechteck war. Ebenso ist notwendig, dass ein Idealist aufrecht, selig, mutig, ein Mensch von Charakter und ein Realist sei, dazu noch manches mehr, worüber ich hier nicht sprach. Nicht notwendig aber ist, dass gerade Greta Thunberg ein Idealist ist und dass all dies somit gerade auf sie zutrifft, und dass so viele andere keine Idealisten sind, ja es ist nicht einmal notwendig, dass es überhaupt irgendwo auf der Erde einen Idealisten gibt. Dies ist Sache der Freiheit. Die Philosophie im strengen Sinne einer Vernunftwissenschaft hat es jedoch nur mit dem Gesetze zu tun. Die Anwendung auf die gegebene Mannigfaltigkeit obliegt jedem Einzelnen, der das Gesetz begriffen hat. Sie kann richtig oder falsch sein, der Wissenschaft und dem von ihr erkannten Gesetze verschlägt dies nichts. So könnte ein Mathematiker eine quadratische Form für dreieckig halten und einem Publikum erklären, weshalb sie als solches notwendig eine Innenwinkelsumme von 180° aufweisen müsse. Er irrte darin, in der ihm vorliegenden Form ein Dreieck zu sehen, und würde folglich das falsche Gesetz anwenden, doch was er über dieses Gesetz sagte, wäre wahr, und wahr wäre auch, dass die fragliche Form diese und jene Eigenschaften haben müsste, wenn sie nur ein Dreieck wäre. In der Philosophie verhält es sich nicht anders. Man denke an Fichtes Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters: Er fasst darin nicht auf und beschreibt nicht, was er in seiner Gegenwart so an Phänomenen vorfindet, bei Gefahr viele andere gegenwärtigen Phänomene zu übersehen und eine unvollständige und verzerrte Beschreibung des Zeitalters zu liefern. Stattdessen leitet er aus der Vernunft ab, dass es, die einzige echte Entwicklung genommen, die stattfindet: die geistige, nur fünf Zeitalter für den Menschen geben kann: Die Zeit, da die Vernunft ihn durch Instinkt beherrscht, die Zeit, da dieser Instinkt geschwunden ist, das von ihm Befohlene aber als Autorität weiterwirkt, die Zeit, da der Mensch sich auch dieser Autorität entledigt, nun aber, in Folge dieser rein negativen Aufklärung, ohne alle Richtung und ohne allen Halt ist, die Zeit der Vernunftwissenschaft, da der Mensch selbst denkt und sein Sein und Treiben mit klarer Erkenntnis durchdringt, und schließlich das Zeitalter der Vernunftkunst, in dem das wissenschaftlich Erkannte auch auf das Leben und seine Gestaltung angewandt wird. Wenn Fichte oder sonst Jemand diese fünf Zeitalter als die notwendigen und einzig möglichen beschreibt, auch wenn er beschreibt, wie jedes dieser fünf Zeitalter notwendig beschaffen sein muss, dann bewegt er sich im Felde genetischer Wissenschaft. Es ist aber nicht notwendig, dass das Jahr 1805, wie Fichte meinte, gerade in das dritte Zeitalter und nicht in eines der anderen vier fiel, so wie es nicht notwendig ist, dass auch das Jahr 2019, wie ich meine, noch dieser Zeit der Ausklärung zugehört, ja es ist nicht einmal notwendig, dass die Menschheit je alle fünf dieser ihr möglichen Epochen durchlaufe, und hierüber ließ Fichte seinen Zuhörern das Urteil. Diese Erklärung ist wichtig für alle Kritik: Ein möglicher Kritiker könnte mir in zweierlei Hinsicht widersprechen. Er könnte zum einen wie der, der den Mathematiker darauf hinwiese, dass das, was er für ein Dreieck hält, ein Quadrat ist, mir sagen, ich hätte mich in Thunberg geirrt, sie sei gar kein Idealist, folglich komme ihr auch diese oder jene Eigenschaft desselben, die ich an ihr gerühmt habe, in Wahrheit gar nicht zu. Ein solcher Irrtum wäre möglich, wenn auch wenig bedeutsam – ich will hier ja letzten Endes nicht Thunberg beschreiben, mit der ich persönlich nichts zu schaffen habe und auch die meisten meiner Leser nichts zu schaffen haben dürften und von der, als partikulares Ich genommen, ja gleichgültig ist, ob gerade sie Idealist ist oder ein Anderer; sondern ich will meinen Lesern, indem ich ihnen einen in mehrerlei Hinsicht aufgeklärten Menschen beschreibe, zu einem bessern Verständnis der Aufklärung und vor allem zu ihrer eigenen Aufklärung helfen. Ein möglicher Kritiker könnte zum Zweiten dem widersprechen, was ich über Idealismus überhaupt sagte; dies wäre eine unendlich schwerer wiegende Kritik, aber ich rechne mit einer solchen nicht, wenigstens nicht mit einer, die Substanz hat, denn eine solche Kritik dürfte nicht empirisch sein, sie müsste selbst a priori geführt werden, sie müsste nicht nur meine paar hier geäußerten Worte, sondern die ganze Wissenschaftslehre widerlegen.

57 „sie wurde, versteht sich, durch viele Gründe ausgelöst“ (Greta Tintin Eleonora Ernman Thunberg: Interview mit Amy Goodman für Democracy Now! “We Are Striking to Disrupt the System”: An Hour with 16-Year-Old Climate Activist Greta Thunberg.)

58 Friedrich Wilhelm Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse. Viertes Hauptstück. 146.

59 „Die Leute fahren fort, zu tun, was sie tun, weil die überwiegende Mehrheit keine Ahnung hat von den Folgen für ihr alltägliches Leben. Und sie wissen nicht, dass rasche Änderungen notwendig sind.“ (Greta Tintin Eleonora Ernman Thunberg: TEDx talk vom 24.11.2018.)

60 „Ich hatte das erwartet. Wenn jemand den anhaltenden Klimazusammenbruch nicht voll versteht, dann muss das, was ich und andere Schulstreiker tun, sehr seltsam erscheinen… und da die meisten Leute keine Ahnung haben, ist das leider, was ich erwartet hatte.“ (Greta Tintin Eleonora Ernman Thunberg: Auf Fragen von Prominenten und Lesern im Guardian vom 21.7.2019 Greta Thunberg: ‘They see us as a threat because we’re having an impact’.)

61 Einerseits äußert sie: „I don’t believe we are continuing to ruin the biosphere because we are evil. I am convinced we are doing it because we are not fully informed of the consequences of our actions. And this is very hopeful to me, because I believe that once we know we will change. This has a huge impact on my activism, because people are adaptable and the changes necessary are not impossible.“ („Ich glaube nicht, dass wir fortfahren, die Biosphere zu zerstören, weil wir böse sind. Ich bin überzeugt, wir tun es, weil wir nicht vollständig über die Konsequenzen unseres Tuns in Kenntnis sind. Und das gibt mir große Hoffnung, denn Ich glaube, dass wir uns ändern werden, sobald wir Bescheid wissen. Das hat einen großen Einfluss auf meinen Aktivismus, denn Menschen sind anpassungsfähig und die notwendigen Veränderungen sind nicht unmöglich.“ Greta Tintin Eleonora Ernman Thunberg: Auf Fragen von Prominenten und Lesern im Guardian vom 21.7.2019 Greta Thunberg: ‘They see us as a threat because we’re having an impact’.) Andererseits erkennt sie klar: „I don’t think I can do much about it [die Angriffe gegen ihre Person]. Even if I would constantly prove them wrong with facts and arguments, they would make up new things to attack the climate movement or me. But I think that as long as they go after me personally with insults and conspiracy theories then that is good. It proves that they don’t have any arguments. And that they see us as a threat because we are having an impact.“ („[I]ch glaube nicht, dass ich viel deswegen [den Angriffen auf ihre Person] tun kann. Selbst wenn ich sie andauernd mit Fakten und Argumenten widerlegen würde, würden sie neue Dinge erfinden, um die Klimabewegung oder mich zu attackieren. Aber ich glaube, dass es gut ist, solange sie es auf mich persönlich abgesehen haben mit Beleidigungen und Verschwörungstheorien. Es beweist, dass sie keine Argumente haben. Und dass sie uns als eine Bedrohung sehen, weil wir eine Wirkung haben.“ Ebd.)

62 Darin liegt eine Banalität des Bösen, dass es nicht in den Abgrund schauen will, den es selbst geschaffen hat. Das Böse ist Ignoranz gegen das eigene Tun und die eigene Verantwortung.

63 „Und das ist das Problem: Sobald du es verstanden hast, kannst du es nicht ent-verstehen, du musst etwas dagegen tun.“ (Greta Tintin Eleonora Ernman Thunberg: Bei Verleihung des Prix Liberté 2019.)

64 „Ich will, dass ihr dieselbe Angst fühlt, die ich jeden Tag fühle.“ (Greta Tintin Eleonora Ernman Thunberg: Rede beim Weltwirtschaftsforum in Davos 2019.)

65 Man mache doch einmal die Probe mit sich selbst! Auch die, die Thunberg nicht gänzlich ablehnen und den Klimawandel nicht leugnen, auch die, die tatsächlich meinen, man sollte mal etwas unternehmen wegen der Umwelt, wissen selten um den ganzen Ernst der Lage. Man lese nur einen entsprechenden Artikel und man beobachte sich einmal selbst aufmerksam bei der Lektüre. Was sind die Reflexe? Denkt man bei sich, ach, das ist nun Panikmache, der Kerl übertreibt, so schlimm ist es schon nicht, das kriegen wir alles in den Griff, oder eine ähnliche Relativiererei? Unter denen, die nicht so verfahren, die wirklich aufnehmen, was ihnen da gesagt wird, dürfte es nur wenige geben, denen nicht mulmig und bange wird – was die ersteren verdächtig macht, nur diesem Gefühl ausweichen zu wollen, weil es sie überfordern würde.

66 „Ihr seid nicht reif genug, auszusprechen, was ist. Sogar diese Bürde überlasst ihr uns, den Kindern.“ (Greta Tintin Eleonora Ernman Thunberg: Rede bei der UN-Klimakonferenz in Katowice 2018.)

67 Dies ist nur wahr als Abstraktion, wie ich sie hier vornehme. Eigentlich ist es nicht wahr. Eigentlich nämlich, hat der Mensch nicht einfach einen Blick und sieht gewisse Dinge und andere nicht, sondern sein Blick hängt selbst auch von seinem Wollen ab: Jeder sieht nur, was er will, oftmals schaut er weg. Ich sprach hierüber schon oben, als ich sagte, der Idealist, der ja sein Ideal verwirklicht sehen will, schaut die Realität in all ihrer Unvollkommenheit an, ein Anderer, der vielleicht vor allem nicht arbeiten will, wird an allem vorbeischauen, das zu ändern wäre. Wem die Umwelt und das Leben gleichgültig sind, der wird daher auch kaum einen Blick dafür haben, wie sehr sie bedroht sind. „Meine ganze Denkweise und die Bildung, welche mein Verstand erhält, sowohl, als die Gegenstände, auf welche ich ihn richte, hängen ganz von mir ab. Richtige Einsicht ist Verdienst; Verbildung meines Erkenntnissvermögens, Gedankenlosigkeit; Verfinsterung, Irrthum und Unglaube ist Verschuldung.“ (Johann Gottlieb Fichte: Die Bestimmung des Menschen. Drittes Buch.) Wer die Krise, in die wir uns gebracht haben, nicht sehen will – ich wähle bewusst diese Formulierung – und wer nicht sehen will, wie groß und ernst sie ist, der ist nicht einfach ein Mensch mit anderer, mit falscher Meinung, sondern der ist ein unsittlicher Mensch und wie ein solcher zu behandeln.

68 „Nichts passierte wirklich in meinem Leben. Ich war immer das Mädchen im Hintergrund, das nichts sagt. Ich dachte, ich könnte nichts bewirken, weil ich zu klein wäre.“ (Greta Tintin Eleonora Ernman Thunberg: Im Interview mit dem Guardian vom 11.3.2019 Greta Thunberg, schoolgirl climate change warrior: ‘Some people can let things go. I can’t’.)

69 Viele Lebensverweigerer stellen fest, dass Gott das Leben nicht derart beherrscht, wie sie es gerne täten, wenn sie nur die Macht dazu besäßen, woraus sie nicht schließen, dass Gott ein wenig weiser sein könnte als sie – niemand ist weiser als sie, setzen sie stillschweigend voraus –, sondern dass es ihn nicht geben könne.

70 „Ich dachte, nichts hat einen Sinn. Und so wurde ich sehr deprimiert, als ich 11 war. Ich kam aus dieser Depression heraus, indem ich daran dachte, dass ich so viel Gutes mit meinem Leben tun könnte und dass es bloß Zeitverschwendung sei, sich so zu fühlen, anstatt das zu tun, was ich tun sollte – zu versuchen, etwas zu bewirken.“ (Greta Tintin Eleonora Ernman Thunberg: Im Interview mit Dazed vom 13.5.2019 Greta Thunberg: ‘The best medicine is to do something about it‘.)

71 „Als ich deprimiert war, habe ich nicht wirklich irgendeinen Sinn darin gesehen, zu leben, denn wir werden sowieso sterben, und auch, weil ich mehrere Diagnosen habe, und das war hart für mich. Ich war sehr anders als alle anderen. Aber ich weiß, dass sehr viele Menschen so fühlen, dass sie bedeutungslos sind und dass sie nichts gegen die Klimakrise tun können, und dass sie einfach traurig sind und Angst haben. Die beste Medizin gegen diese Sorge und Traurigkeit ist, etwas zu unternehmen, versuch, einen Wandel herbeizuführen.“ (Ebd.)

72 Johann Gottlieb Fichte: Ueber Machiavelli, als Schriftsteller, und Stellen aus seinen Schriften. II. Kap. 25 d. B. Zusatz.

73 „Und ja, wir brauchen Hoffnung. Selbstredend brauchen wir die. Aber das Eine, was wir mehr brauchen als Hoffnung, ist Tat. Sobald wir beginnen, zu handeln, ist überall Hoffnung. Also statt nach Hoffnung zu suchen, suche das Tun. Dann und nur dann, wird heute die Hoffnung kommen.“ (Greta Tintin Eleonora Ernman Thunberg: TEDx talk vom 24.11.2018.)

74 „Wir müssen uns auf das konzentrieren, was wir tun können, nicht das, was wir nicht tun können.“ (Greta Tintin Eleonora Ernman Thunberg: Auf Fragen von Prominenten und Lesern im Guardian vom 21.7.2019 Greta Thunberg: ‘They see us as a threat because we’re having an impact’.)

75 Johann Gottlieb Fichte: Reden an die deutsche Nation. Vierzehnte Rede.

76 Ebd.

77 „Asperger ist keine Krankheit. Es ist ein Geschenk.“ (Greta Tintin Eleonora Ernman Thunberg: Klarstellung auf Facebook vom 11.2.2019.)

78 Johann Gottlieb Fichte: Das System der Sittenlehre. Vorgetragen von Ostern bis Michaelis 1812.

79 „Vereinigt euch hinter der Wissenschaft“

80 „Heute ist #Frauentag. Heute ehren wir Schwesternschaft.
Nirgends auf der Welt sind Frauen und Männer heute gleich.
Je mehr ich über die Klimakrise lese, desto mehr erkenne ich, wie entscheidend Feminismus ist.
Wir können nicht in einer nachhaltigen Welt leben, solange nicht alle Geschlechter und Menschen gleich behandelt werden #8März.“ (Greta Tintin Eleonora Ernman Thunberg: Twitter-Post vom 7.3.2019.)

81 „[I]ch denke, wir können sicher sagen, dass alle Ideologien versagt haben.“ (Greta Tintin Eleonora Ernman Thunberg: Auf Fragen von Prominenten und Lesern im Guardian vom 21.7.2019 Greta Thunberg: ‘They see us as a threat because we’re having an impact’.)

82 Johann Gottlieb Fichte: Die Staatslehre, oder über das Verhältniss des Urstaates zum Vernunftreiche. Erster Abschnitt.

83 „Ich meine… Es… Es ist wirklich lächerlich, dass die Leute so schlecht voneinander denken, dass sie versuchen, andere fertig zu machen, und dass manche… Niemand kann etwas einfach für eine gute Sache tun. Es muss immer eine versteckte Agenda dahinter geben. Und ich finde, das ist sehr traurig.“ (Greta Tintin Eleonora Ernman Thunberg: Im Interview mit Anne Will vom 31.3.2019.)

84 Friedrich Wilhelm Nietzsche: Morgenröthe. Erstes Buch. 76.

85 Johann Gottlieb Fichte: Das System der Rechtslehre. Vorgetragen von Ostern bis Michaelis 1812. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Absolute Begründung des Rechts in der Wirklichkeit.