Eine Grundfrage der Moralphilosophie ist, auf welchem Prinzip eine Moral zu gründen ist: Woher wissen wir und woraus ergibt sich, was wir tun und was wir lassen sollen? Heute wird dem, der die Philosophie studieren möchte, meist ein Aggregat willkürlich zusammengewürfelter vermeintlicher Moraltypen präsentiert, wobei teils mehrere Spielarten derselben Moral behandelt werden, als wären sie grundsätzlich verschieden, andererseits mögliche und schon vertretene Moralsysteme teils unter den Tisch fallen. Kant geht hier, wie es nach ihm in der Wissenschaft stets geschehen muss, architektonisch vor und macht daher zwei mögliche Quellen der Moral aus: die Erfahrung oder das Denken. Und wie stets ist er im Streit zwischen Empirismus und Rationalismus zwar letztlich auf Seiten des letzteren – bloße Erfahrung kann uns kein Sollen darreichen, dieses muss aus der Vernunft geschöpft werden -, aber er vertritt keinen dogmatisch-objektiven, sondern einen kritisch-subjektiven Rationalismus: Unsere Vernunft findet nicht eine unabhängig von ihr vorhandene Moral bloß auf, sondern durch unsere Vernunft geben wir uns selbst ein moralisches Gesetz.
Mit den möglichen Prinzipien einer Moral setzt sich Kant vor allem im Hauptstück über die Grundsätze der reinen praktischen Vernunft in der Kritik der praktischen Vernunft auseinander.