Ein jeder Rassismus, der nicht nur Haltung ist – dann ist er bloße Ablehnung und Nicht-berührt-werden-wollen –, sondern der in ein, auch noch so unvollständiges, System gebracht wird, formuliert die Minderwertigkeit derer, die er ablehnt (was nicht ausschließen muss, dass er sie zugleich gewissermaßen für wertvoller und schützenswerter erklärt, wie es der Rassismus gegen die Frauen oder der gegen die Kinder tut). Hierin gleichen sich alle Rassismen. Darin aber finden sich Unterschiede, worin genau das Gewicht bei dieser Minderwertigkeit gelegt und was für eine Art von Minderwertigkeit angenommen wird. So mag man den Neger vielleicht zum groben Halbaffen erklären, weniger klug und mehr instinktgeleitet als der weiße Herrenmensch, das Weib hingegen zu einem schwächlichen, wankelmütig-launenhaften und irrationalen Gefühlswallungen unterworfenen Geschöpfe. Es ist durchaus üblich, dass nicht nur eine körperliche, sondern auch und gerade eine irgendwie geartete geistige Unterlegenheit behauptet wird. Allerdings ist hier oftmals mehr an einen Mangel an Klugheit oder logischem Vermögen gedacht als an eigentliche Unaufgeklärtheit.

Der Rassismus gegen die Kinder scheint mir unter den anderen Rassismen herauszustechen, weil er, obzwar es doch gerade hier mehr als irgendwo sonst (ausgenommen den Fall der Behinderten) Anlass gäbe, die körperliche Unterlegenheit hervorzuheben, in ganz besonderem Maße mit einer angeblichen Unterlegenheit des Charakters und des Geistes begründet wird und weil es hier wiederum nicht vornehmlich um die vermeintliche Dummheit, sondern um die vermeintliche Unmündigkeit der Kinder geht. D. h. wie kein anderer Rassismus spricht der gegen Kinder: Sie sind schlechter als wir – denn sie sind abhängig und unmündiger. Dies näher ergründen will ich hier nicht; es wäre vielleicht manches darüber zu sagen, wie in der Abgrenzung zu den ach so unmündigen Kindern sich die Ausgewachsenen ihre eigene Mündigkeit einreden können, was sie bitter nötig haben, ermangeln sie einer solchen doch oft fast gänzlich, oder es ließe sich mehr darüber sprechen, dass der Rassismus gegen Kinder als einziger nicht Menschen trifft, die, wie Frauen, Schwarze, Juden, Homosexuelle, wohl immer der verachteten Gruppe angehören werden, sondern solche, die mit Verstreichen von etwas Zeit aus diesem Stand der Minderwertigkeit hinaustreten werden. Mir aber ist es, unabhängig von jeder möglichen weiteren Erklärung, hier nur um das bloße Faktum zu tun: Wir meinen, Kinder könnten keine eigenen Urteile fällen, sondern wären in ihren Urteilen ganz und gar von den Ausgewachsenen bestimmt.

Das ist immerhin die Begründung für ihre politische Unterdrückung, also dafür, dass wir ihnen das Wahlrecht verwehren: Sie würden ja alle nur ankreuzen, was ihre Eltern ihnen vorsagen!, hört man da oft. Nicht dass sie eine verkehrte Wahlentscheidung treffen würden, ist also das eigentliche Übel – das würden die meisten von ihnen wohl, aber das tun ja auch die meisten Ausgewachsenen, und wir wollen ja gar kein System, in dem stets das Rechte und Vernünftige regiert, halten vielmehr jede Ratiokratie für totalitär und unsrer Freiheit (lies: Willkür) gefährlich. Sondern wir meinen gerne, die Dummheit, die sie wählen würden, wäre nicht ihre eigene Dummheit, sondern die ihrer Eltern.

Daher fürchtet man beständig die Manipulation der Kinder: Was Manipulation eigentlich sei und wie man einen Menschen manipuliere, das wird hierbei ja nie auch nur gefragt (es dürfte eine etwas kompliziertere Sache sein, als man gemeinhin tut), das Wort wird vielmehr ganz oberflächlich gebraucht, um den einfachsten Vorgang auszudrücken: Irgendjemand könnte einem Kind irgendetwas vorsagen und dieses könnte schlicht auf ihn hören; in der Strenge genommen fürchtet man also gewöhnlich gerade nicht die Manipulation der Kinder, sondern vielmehr den Umstand, dass eine solche bei ihnen gar nicht erst nötig, dass ein Kind ein ganz wehrloses Opfer sei. Wann immer einem Menschen irgendeine Entwicklung an seinem Kinde, irgendeine Meinung oder ein Verhalten desselben nicht passt – wann immer es also böse, d. i. wahr, gesprochen seiner eigenen Manipulation, die ja immer für erlaubt gilt, widerstanden hat –, da werden „schlechte Einflüsse“, die „Peergroup“¹, Freunde, „die Medien“ (vielleicht am besten die sozialen) verantwortlich gemacht, andere Male böse Lehrer, die nicht dem Abgotte Neutralität gehuldigt haben, oder irgendwelche Verwandten.

Ich habe selbst früh mit solchen Unterstellungen zu tun gehabt. Meine eigene Mutter meinte oftmals, „mein Vater“ (einen anderen Namen schien er nicht zu haben, wenn sie von ihm sprach) hätte mich manipuliert – immer dann, wenn ich nicht funktionierte, sondern es wagte, eine eigene Persönlichkeit an den Tag zu legen, verbunden mit der Forderung an sie, sich auf diese einzulassen. Es war freilich einfacher, mich und all meine Anliegen und Worte rasch damit abzufertigen, mein Vater hätte mich manipuliert, um mich z. B. von meiner Familie fernzuhalten, als sich mit der Möglichkeit auseinanderzusetzen, dass ich von mir selbst aus nichts mit Menschen zu tun haben wollte, die mich nicht achten und ernst nehmen wollten, sie, d. i. meine Mutter, eingeschlossen – es war einfacher, sage ich, aber freilich war es auch eine Missachtung; und dass sie mich nicht ernst und meine Urteile nicht als meine eigenen nahm, hat wohl mehr dazu beigetragen, dass ich mit ihr nichts zu tun haben mochte, als irgendeine Manipulation meines Vaters vermocht hätte: Auf jedes „Du willst mich nicht sehen, weil dein Vater dich manipuliert“, war somit zu antworten: „Nein, ich will dich nicht sehen, weil du meinen Wunsch, dich nicht zu sehen, nicht einmal als meinen eigenen annehmen und achten kannst“.

Andere Male war ich selbst der Manipulator: Da fürchtete dann ein Vater, sein Sohn, der bei mir die Aufklärungs-AG besucht hatte, könnte manipuliert worden sein. Besagter Sohn hatte ein paar Mal, halb im Scherz, gefragt, warum sie nicht im Bioladen einkauften, und auch mal, als eine neue Hose besorgt werden sollte, gemeint, er habe doch genug, das wäre doch Ressourcenverschwendung. Nun fürchtete der Vater, sein Sohn könnte zum Öko werden. (Dabei ist er bis heute derjenige im Kreise meiner Philosophieschüler, der vielleicht am wenigsten „öko“ ist, und der Leser wäre oberflächlich, täte er das als beschmunzelnswerten Zufall ab und verstünde er nicht den Sinn darin, dass gerade der Vater dieses Burschen, der es am wenigsten zu fürchten brauchte, solche Befürchtungen hatte.) Auch hätte er selbst im Alter seines damals sechszehnjährigen Sohnes sich nur für zwei Dinge interessiert, seine Ausbildung und Mädchen, und von seinem Sohnemann noch nichts über Mädchen gehört! Zwei andere Jungen, die auch Teil meines Philosophiekreises waren und die der Vater kannte, hätten auch noch keine Freundinnen, und da müsse er, der Vater, sich doch denken: die drei hätten ja eigentlich nichts gemeinsam außer der Schule und eben meiner Gruppe! (Alle drei waren seit der Grundschule und lange, ehe sie mich kannten, befreundet, die beiden anderen Jungen zudem Brüder.) Der Vater der beiden letztgenannten Jungen machte ebenfalls mich verantwortlich, als der ältere der beiden keinen Führerschein machen wollte, denn normal wäre das ja nicht und der Junge hätte, wie sein Vater sich äußerte, als ich zu Gast war, und dabei wenig subtil auf mich schielte, vielleicht zu sehr auf gewisse Leute gehört, die ja gar nicht die Erfahrung hätten und gar nicht wissen könnten, wie Autofahren sich so anfühle. (Ich habe es damals unterlassen, zu fragen, ob er denn schon einmal an einer schwulen Orgie teilgenommen hatte, ihm fehle ja ansonsten die Erfahrung, das beurteilen zu können, denn ich bin zwar Aufklärer, aber auch gerne am Leben.) Und die ältere Schwester einer anderen Schülerin von mir, die mir deutlich wohlwollender gegenüberstand als jene beiden Väter, meinte gleichwohl einmal zu dieser, die Vegetariern ist und mitunter ihrer Schwester Mitweltbewusstsein zu entwickeln sucht: Ihr denkt alle gleich!, und: Du merkst das gar nicht, wie du so’n bisschen manipuliert wirst!, wohl ohne zu reflektieren, dass ihre Verwandten und Freunde in diesem Sinne ebenfalls „alle gleich“ denken und dass, wurde meine Schülerin zum Fleischverzicht manipuliert, sie, ihre Schwester, von Kindheit an zum Fleischessen manipuliert wurde – aber das Normale und Hergebrachte ist selbstverständlich und richtig und zum Selbstverständlichen und Richtigen kann man nicht manipuliert, sondern nur erzogen werden, versteht sich.

Aber genug von mir, böse Manipulatoren gibt es freilich noch viele mehr. Man braucht nur zu schauen, worüber das Publikum, wenn es um die Kinder geht, so redet und sich bangt: Werbung, Filme, Spielsachen und andres mehr sollen unsere Kinder manipulieren. Mal fürchten da Feministen, welch verheerende Rollenbilder denen doch eingetrichtert würden. (Es fragt sich, mit was für Medien sie zehn oder zwanzig oder mehr Jahre zuvor aufgewachsen sind? – Entweder mit mir unbekannten ganz feministischen, oder aber solchen, die sie doch nicht nachhaltig manipulieren konnten.) Mal wird besprochen, was für ungesunde Körperbilder Kindern und Jugendlichen und gerade Mädchen vermittelt würden, die durch derlei magersüchtig würden. (Welche Medien haben nur all die vielen Mädchen konsumiert, die nicht magersüchtig werden? Aber es kann ohnehin nur, wer noch nie ein einziges Wort mit einer Magersüchtigen gewechselt hat, für eine Sekunde annehmen, Anorexie hätte irgendetwas damit zu tun, schön sein zu wollen.) Dann wieder versteckt man z. B. seinen Rassismus hinter Kinderschutz und meint etwa, wenn ein Mädchen mit einer Kopftuch tragenden Frau auch nur für eine Sekunde zusammentreffe, werde es sogleich manipuliert, selbst ein Kopftuch überzuziehen oder keusch zu leben. Warum man so viel Wert darauf legt, unsere Kinder lieber dahin zu manipulieren, kein Kopftuch zu tragen (denn was immer man auch hierüber lügt: es gibt hier ja keine mögliche neutrale Position, und wenn beispielsweise eine Lehrerin mit Kopftuch dessen Notwendigkeit schon durch ihr bloßes Auftreten vermittelt, so vermittelt eine ohne schon durch ihr bloßes Auftreten dessen Unnötigkeit), warum einem zudem so wichtig ist, dass sie Sex haben, das sei beiseitegestellt. Jedenfalls werden die Menschen künftiger Zeitalter nur angewidert, ungläubig oder belustigt reagieren, wenn sie hören, dass man wegen angeblicher Manipulationsgefahr Lehrerinnen untersagte, sich ein Stofftuch ums Haupt zu wickeln, oder – ein mir zugetragener Fall –, dass Eltern sich bei einer Kinderarztpraxis beschwerten, ihre Tochter solle nicht mit einer Sprechstundenhilfe mit Kopftuch zu tun haben, denn sie könnte von dieser zum Kopftuchtragen manipuliert werden.

Lustig an all solchen Bangen ist, dass man die Kinder einerseits für so grenzenlos fremdbestimmt hält, dass schon eine Sprechstundenhilfe, die ihnen vielleicht fünf Minuten eine Spritze verpasst oder dergleichen, sie so nachhaltig und tiefgreifend manipulieren könnte, dass man aber ausgerechnet den Einfluss der Menschen, die tagtäglich mit ihnen zu tun haben und über sie bestimmen, d. i. der Eltern, für so gering hält, dass diese hilflos zusehen müssten, wie Lehrer, AG-Leiter, Arzthelferinnen und andere Finsterlinge ihre Kinder an sich reißen.

Nicht weniger bemerkenswert dabei ist, dass Menschen mit solchen Befürchtungen offenbar keinerlei Erinnerung an ihr eigenes Leben und ihre eigene Kindheit haben. Ich wenigstens wüsste nicht, wann je ausgerechnet ein Lehrer nennenswerten Einfluss auf meine Kleidungsgewohnheiten oder meinen Glauben gehabt hätte; die meisten Lehrer sind den meisten Kindern und Jugendlichen wohl eher recht uncoole Menschen, die sie sich gerade nicht zu Vorbildern nehmen mögen; aber freilich darf ich nicht ausschließen, dass ich schlicht so gründlich manipuliert wurde, dass ich mir dessen nicht einmal bewusst bin!

Ich will hier mit dem Vorurteil, Kinder wären so leicht manipulierbar und glaubten schlechthin und ohne jeden Widerspruch alles, was die Ausgewachsenen ihnen einreden, aufräumen.

So schenken die Kinder den Fabeln und Lügenmärchen, die wir ihnen auftischen, oft viel weniger Glauben oder kündigen diesen jedenfalls viel früher auf, als wir glauben. Ich habe noch sehr lebhafte Erinnerung daran, wie mich ein einziges Mal – es war vor der Einschulung, aber nach Trennung meiner Eltern, ich schlussfolgere also, dass es kurz vor meinem fünften Geburtstag gewesen sein dürfte – der Weihnachtsmann persönlich besuchen kam: Die Züge meines Patenonkels Ivo erkannte ich durchaus auch hinter einem falschen weißen Bart, um ganz davon zu schweigen, dass dieser Weihnachtsmann berlinerte und ich, aufgewachsen in Westberlin, unter Ausländern und zugezogenen Westdeutschen, nur einen kannte, der solches tat. Nun mag ich ein aufgeklärteres Kind gewesen sein als andere, aber ich muss es nicht bei dieser persönlichen Anekdote belassen, sondern kann ebenso darauf verweisen, dass Freud vor über hundert Jahren, als diese Lüge noch allgemein verbreitet war, feststellte, wie wenig die Kinder den Ausgewachsenen doch die Erzählung abnahmen, sie würden vom Storch gebracht: Wohl mochten sie sich zum Scheine damit zufrieden geben, weil sie spürten, dass weiteres Nachfragen hier verboten war, aber sie bemerkten doch die Lüge, die oft gerade die erste Erschütterung ihres Vertrauens in ihre Eltern herbeiführte, stellten eigene Nachforschungen an und entwickelten eigene Vorstellungen von der Herkunft des Nachwuchses (die so abenteuerlich gewesen sein mögen wie: die Frau scheide das Kind aus dem After aus wie den Kot, aber, wenn auch falsch, doch jedenfalls nicht den ihnen von den Eltern eingeredeten Erklärungen entsprachen).

Aber auch über solchen Glauben oder Unglauben an Kinderfabeln hinaus können die Kleinen zu eigenen Meinungen gelangen, ob in Fragen der Weltanschauung oder des Handelns, auch solchen Meinungen, die den Eltern nicht lieb sind und über die sie mit ihnen in Konflikt geraten. So weiß ich von einem Mädchen, das mit etwa acht Jahren bereits bekennende Atheistin war – sehr zum Leidwesen der Mutter, einer gläubigen Christianerin.² Eine andere Achtjährige, die ich selbst kenne, ist sehr tierlieb und hat sich bereits für den Vegetarismus entschieden, den sie so konsequent lebt, dass sie beispielsweise auch auf Gelatine in den Süßigkeiten achtet. Die Eltern essen noch Fleisch und haben ihre liebe Not mit den Wünschen ihrer Tochter, die Hund oder Katze, reiten und eben nicht zuletzt die Unversehrtheit aller Tiere will. Auch Ohrringe will sie sich stechen lassen und fragte mich, da die Eltern ihr dies einstweilen untersagen, was Kinderrechte seien und welche sie habe; sehr aufmerksam hörte sie mir zu, als ich über Rechte überhaupt sprach und ihr am Beispiel der Menschen überhaupt, der Schwarzen, der Frauen und auch der Tiere auseinandersetzte, dass immer neue Rechte und neuer Schutz gegen Unterdrückung auch erstritten werden könnten.

Selbst wo Kinder äußerlich die Meinungen ihrer Eltern oder anderer übernehmen, halten sie es doch oft nicht anders als die Ausgewachsenen: Sie leben nicht konsequent, was ihnen im Grunde doch gleichgültig ist, sondern es gelingt ihnen durch geschicktes Wegschauen und ein wenig Selbstbetrug, sich hieran vorbei zu mogeln. Jüngst erst wurde ich Zeuge, wie unter Drittklässlern einer Gummibärchen verteilte. Ein Mohammedaner war darunter, der fragte, ob diese Gelatine enthielten, denn dann dürfte er sie nicht essen. Das stehe nicht drauf, erklärte ich ihm nach Begutachten der Packung, er müsse also selbst entscheiden und müsste auf die Gummibärchen verzichten, wollte er auf Nummer sicher gehen. Der innere Konflikt, der Wunsch nach den Gummibärchen stand dem Jungen so deutlich ins Gesicht geschrieben, wie das bei Kindern, die im Verstellen und Verstecken noch nicht so geübt sind, der Fall zu sein pflegt. Schließlich klügelte er: Er habe mal Gummibärchen ohne Gelatine bekommen, die seien etwas kleiner als die normalen gewesen, ganz so wie diese hier – die also auch ohne Gelatine sein müssten. Im Übrigen röchen diese Gummibärchen auch nicht nach Schwein! Das genügte ihm, um sodann wie die anderen Kinder zuzuschlagen. Diesen Fall möchte ich nicht als einen von großer Aufklärung hochhalten. – Vielmehr verdeutlicht er gut, dass echtes Selbstdenken von Wahrheitsliebe geleitet sein, also gerade auf Selbstlosigkeit gründen muss; denn wer nicht aufrichtig nach der Wahrheit fragt, sie möge ihm so unangenehm sein, als sie wolle, den werden am Ende immer seine Neigungen leiten, wie hier die Neigung des Jungen zu den Gummibärchen, und der wird seinen Verstand sodann nur noch dazu gebrauchen, sich selbst das Gewünschte als wahr einzureden, statt dafür, das Wahre zu finden (wobei die Argumente, mit denen er es sich einredet, besser sein werden bei ausgebildeterem und verkünstelterem Intellekt, während hingegen der wenig unterrichtete Mensch oder das Kind oft weniger kluger Argumente bedürfen wird, um sich selbst zu täuschen; dies ist aber auch der einzige Unterschied: Zur Selbsttäuschung überhaupt ist auch der Ausgewachsene, ist auch der Ausgebildete und der Kluge im selben Grade fähig, sofern er kein Aufgeklärter ist). – Aber doch zeigt der Fall, dass man sich, selbst bei den weniger aufgeklärten Kindern, nicht mehr um ihre Eigenständigkeit bangen muss als bei den unmündigen Ausgewachsenen: Roboter, die irgendein Vormund einfach programmieren könnte, sind sie doch alle nicht, und auch wo ihnen etwas eingeredet wird, das sie dann nachplappern, finden sie doch Wege, es nicht wahrhaft leben zu müssen. (Ganz so wie es beispielsweise freilich wirklich Mädchen gibt, die ein Kopftuch tragen, weil ihre Familie sie hierzu erzogen hat – wie aber diese sich in aller Regel gleichwohl schminken, irgendwelche YouTuber anhimmeln oder bei McDonald’s essen, ganz so wie ihre kopftuchlosen Freundinnen.)

Das letzte Beispiel hat hoffentlich deutlich gemacht, dass ich hier die Kinder und ihre Mündigkeit nicht überhöhen will. Selbst da, wo sie ihren Eltern einmal keinen Glauben schenken und auf einer eigenen Meinung beharren, muss diese eigene Meinung ja nicht richtig, muss das von den Eltern Gelehrte ja nicht falsch sein: Mir fällt da sogleich die Erzählung einer alten Grundschullehrerin meiner ein, die, noch zu Zeiten der DDR, einmal ein Kind in ihrer Klasse gehabt hat, das sich standhaft weigerte, seinem Vater oder seiner Mutter abzukaufen, dass es „zwei Deutschlands“ gebe – zu absurd, zu offensichtlich erschwindelt klang das dem Kinde, um nicht zu glauben, der Vater oder die Mutter wolle es veräppeln. Wie die im Irrtum sind, die Kinder für schlechterdings unaufgeklärt und minderwertig halten, ist auch das mitunter stattfindende Verklären der Kinder, als wären sie alle kleine Philosophen und Heilige, als wären sie immer eigenständig, immer vorurteilsfrei, immer gut und selbstlos, fehl am Platze. Vielmehr sind Kinder eben Menschen, ganz so wie Ausgewachsene auch, im Guten wie im Schlechten. So sind sie auch fähig, sich zu irren. Sich ihrer Sache vermeintlich sicher zu sein, wo sie falsch liegen. Vielleicht auch einmal gerade die Wahrheit zu verkennen, bloß weil sie nicht in ihre Vorstellungen passt. Aber, und dies zeigt doch auch dies letzte Beispiel noch einmal: Ob sie sich irren oder nicht, sie sind jedenfalls nicht notwendig die kritiklosen und gutgläubigen Nachbeter all Dessen, was sie von ihren Eltern zu hören bekommen.

Und sich dies zu gewärtigen, ist wichtig! Wie verbreitet der Rassismus gegen die Kinder und gerade dieser Kern desselben ist, durften wir in den letzten Jahren am Umgang mit Fridays for Future sehen: Wenn den streikenden Schülern nicht unterstellt wurde, ja nur schwänzen zu wollen, dann hieß es wieder und wieder, irgendwelche linksgrünversifften Lehrer hätten die doch manipuliert und geradezu auf die Straßen gezwungen (ach, wenn es doch in Deutschland nur zuginge, wie rechtes Gesocks es sich ausmalt!). Und ich brauche kaum auszuführen, wie man den aufgeklärtesten Menschen des derzeitigen öffentlichen Lebens, wie man Greta Thunberg verleugnet, die von ihren Eltern gehirngewaschen sein und nicht einmal ihre Reden selbst schreiben soll!³ Das Gegenteil ist freilich wahr: Sie selbst hat erkannt, was ihre Eltern und Lehrer und alle übrigen Ausgewachsenen gerade nicht wahrhaben wollten: dass wir uns in einer ökologischen Krise befinden und unsere eigene Zivilisation und Zukunft zerstören, sie selbst hat zu handeln begonnen, während ihre Eltern sich noch einredeten, es würde schon alles irgendwie früher oder später durch neue Technologien gerichtet, sie hat sich zum Veganismus, zum Nichtfliegen und zum Shopstopp entschieden und nach und nach auch ihre Familie hierhin erzogen und sie hat ganz selbstständig ihren Schulstreik erdacht, geplant und durchgeführt, hat ihren Vater von diesem verbannt, statt zuzulassen, dass dieser für sie sprach, und hat auf ihrem Klimaaktivismus beharrt, obwohl ihre Eltern ihr die Sache auszureden suchten, bangten, sie könnte sich übernehmen, Ärger einhandeln, in Gefahr begeben. Aber all dieser leicht recherchierbaren und wider jeden möglichen Zweifel hinreichend belegten Tatsachen ungeachtet greifen Thunbergs und des Lebens Feinde sie eben gerade damit an, dass sie eine Marionette ihrer Eltern oder wahlweise globalistischer Eliten wäre. Gewiss würden sie sie auch attackieren, wenn sie eine alte Frau oder ein Mann in besten Jahren oder ein sprechendes Eichhörnchen wäre; jeder wäre naiv, der glaubte, die Klimawandelleugner würden ihr eher zuhören, wäre sie nur älter (sie hören ja auch den Klimaforschern nicht zu). Nur sind eben die konkreten Angriffe und Verleumdungen, zu denen man greift, je nach Person andere. Und irgendwelche Feministen und politisch Korrekten mögen zwar darauf herumreiten, Thunberg werde dafür angegriffen, dass sie weiblich ist oder das Asperger-Syndrom hat, sie beweisen aber durch diese Blindheit nur, dass sie nicht unvoreingenommen, sondern immer nur durch ihre ideologische Brille schauen und dass es dieser Ideologie eben doch nicht schlechterdings um Menschenachtung oder um die Verteidigung aller Unterdrückten Gruppen geht, sondern dass diese einige als ewige Opfer anerkannte Grüppchen kennt, andere, vielleicht noch viel größerem Rassismus ausgesetzte und viel unterdrücktere aber gänzlich ignoriert: Denn jedes unvoreingenommene Hinschauen ergibt, dass die Angriffe auf Thunberg in ihrer Mehrzahl und Hauptsache nicht auf ihr Geschlecht oder ihre Diagnose, sondern auf ihr Alter zielen, dass man sie immer wieder eine dumme Göre nennt, die noch keine Lebenserfahrung und nichts gelernt habe und von der man sich nichts sagen lassen müsse – und die eben, wie man das bei einem Kinde für selbstverständlich zu halten scheint, gar keine eigenen Meinungen oder gar Überzeugungen habe, sondern nur wie ein Papagei nachplappere, was man ihr eingetrichtert habe.

Nun, dies letztere eben tun Kinder so wenig wie Ausgewachsene. Sie plappern Eigenes, das manchmal sehr gescheit oder gar weise, oft grober Unfug, aber jedenfalls nicht nur irgendeines Ausgewachsenen Meinung ist.

Man sieht es zuletzt an den Ausgewachsenen selbst, wie wenig sie sich as Kinder einreden ließen. Meine Großmutter wurde 1929 geboren und wuchs wie so viele andere in einer Zeit auf, da man ihr an der Schule die Minderwertigkeit der jüdischen Rasse eintrichterte, und doch sind sie und die Mehrzahl ihrer Altersgenossen keine Nazis. Gleichsam leben heute Millionen Ostdeutsche unter uns, die im Realsozialismus aufwuchsen, vielfach der FDJ angehörten und die mit einem Schulunterricht, mit Kindersendungen und -büchern groß wurden, welche ganz offen zum Ziel hatten, sie zu strammen Sozialisten zu erziehen. Aber wie viele ehemalige DDR-Bürger haben einst für den Erhalt des SED-Regimes gekämpft oder sind auch heute noch überzeugte Sozialisten? Wenn aber eine ganze Diktatur es nicht vermag, ihre Jugend nachhaltig gehirnzuwaschen, weshalb trauen wir solches einer einzelnen Lehrerin mit Kopftuch zu? Unser heutiges System halten wir gerne für ganz neutral, aber auch heute will man ganz ausdrücklich den Kindern gewisse Werte und Normen vermitteln, kann aber offensichtlich nicht verhüten, dass allerwenigstens einer von zehn die Demokratie ablehnt, eindeutigste Ergebnisse der Naturforschung verleugnet und rassistisch ist – aber haben denn Pegidioten, Klimawandelleugner, AfDler und ähnliches Geschmeiß in der Schule nichts über Nationalsozialismus und Holocaust beigebracht bekommen so wie wir alle? Vergessen wir auch nicht, mit welchen Medien unsere Kinder aufwachsen, was für Geschichten und Lehren sie aus Büchern, Serien und anderem mehr mitbekommen: Ist nicht in tausend Highschoolfilmen die oberflächliche Cheerleaderin die Antagonistin und lernt nicht jedes Mal die Hauptfigur, dass es verkehrt war, diese, statt der unscheinbaren besten Freundin zu begehren? Ist nicht auch in ausnahmslos jeder Kinderserie der Mobber immer der Böse, ohne dass das Kinder vom Mobben abhielte oder ihnen hierbei ein schlechtes Gewissen machte? Ich wüsste auch keine Kinderserie, worin der Antagonist kaltblütig umgebracht wird; das Äußerste ist, dass er durch einen Unfall und eigenes Verschulden zu Tode kommt, oft genug wird sein Leben verschont, wird er nur unschädlich gemacht oder gar einer der Guten; und es müsste doch, wären die Kinder so leicht zu beeinflussen, ein jeder ohne Ausnahme Krieg, Rache, Todesstrafe und ähnliches mehr ablehnen.

Es soll hier nicht dem einen Extrem das andre entgegengesetzt und behauptet werden, das Aufwachsen, die Sozialisation, die Erziehung, all das wäre ohne Einfluss auf die Kinder. Freilich hat es einen, auch einen großen. Aber auch Ausgewachsene stehen beständig unter dem Einfluss ihres Umfelds. Dieser Einfluss ist zumeist etwas komplexer, als dass einer, er sei ein Kind oder nicht, bloß nachbetet und kritiklos hinnimmt, was ein anderer ihm eingibt. Vor allem ist der Mensch nie und ist auch das Kind nicht Opfer, vielmehr frei in seinem Umgang mit seinem Umfeld und dem, was es ihm eingeben mag.

1 Gruppe der Gleichaltrigen aus dem eigenen Umfeld

2 Ich kenne diesen Fall, weil die Mutter ihr Leid ihrer Babysitterin klagte und diese um Rat fragte; diese, eine Schülerin und enge Freundin von mir und Kopftuch tragende Muslima mit gutem Verhältnis zu dem Kind, schien ihr als ebenfalls gläubiger Mensch wohl die rechte Ansprechpartnerin zu sein. Die gängigen Vorurteile, wonach Christianer harmlos, Mohammedaner oder Moslems, zumal solche mit einem Hidschab, aber missionseifrige Kindesmanipulatoren sind, kann ich hier nicht bedienen: Die Mutter hätte ihr Kind vielleicht gerne irgendwie bekehrt, meine Freundin riet ihr zu mehr Gelassenheit und Gleichmut und Achtung vor den eigenen Ansichten ihrer Tochter: diese könnten sich ja noch wandeln im Laufe ihres Lebens, sollte sie bei ihrem Unglauben bleiben, so wäre das ja aber auch nicht schlimm: Die Mutter, so ergab sich im Gespräch schnell, fürchtete eigentlich, ihre Tochter könnte sich im Leben ohne Gott allein und überfordert fühlen, so konnte meine Freundin umgekehrt raten, nicht auf die äußere Oberfläche, irgendein Bekenntnis, sondern eben darauf zu schauen, mit welchem Gefühl die Tochter durchs Leben geht und ob, wenn nötig, ihr geholfen werden kann, sich getragen zu fühlen, sie mag das sie Tragende am Ende Gott heißen oder nicht.

3 Es wäre wohl von ihren Eltern klüger, sie letzteres tun zu lassen: Einmal sollte sie sich, nachdem sie zum Glauben an den Klimawandel manipuliert wurde, ja von sich aus eifrig ans Redenschreiben machen und wären doch Reden aus ihrer eigenen Feder unverdächtiger und würden den ganzen Schwindel nicht so leicht auffliegen lassen; zum anderen zwingen die Eltern sie ja, indem sie ihr die Reden schreiben, die sie für eigene ausgibt, zum bewussten Lügen, was leichter dazu führen könnte, dass sie den ganzen Klimaschwindel einmal doch hinterfragt, als wenn man sie im Glauben ließe, ganz eigenständig und lauter zu agieren. – Aber nun ja, es ist ja hinlänglich bekannt, dass Weltverschwörer nicht gerade klug sind und ohne alle Not beständig die eigene Verschwörung gefährden, sei es, dass die Illuminaten für den Anschlag aufs World Trade Center einen Tag wählten, dessen Quersumme ihrer geheimen Zahl entspricht, sei es, dass die Geschäftsführer der BRD GmbH sich dadurch verrieten, dass sie statt einer Verfassung ein Grundgesetz und dass sie vor allem einen Personalausweis einführten. Solche Schlampigkeiten sind am Ende unbedeutend, reichen sie doch offensichtlich nicht hin, uns dumme Schlafschafe endlich einmal aufzuwecken.