Die Menschheit, das ist dem gemeinen Deutschen heute nicht mehr als die Summe aller Menschen. Die Endung -heit scheint jedoch ihrer germanischen Wurzel nach eher so etwas wie die Art oder das Wesen zu bezeichnen. Sie drückt eine Qualität aus, statt eine Gruppe zu umfassen. Schließlich ist die Schönheit nicht die Menge alles Schönen in der Welt, sondern die Schönheit beispielsweise einer Rose ist eben gerade das Schöne an dieser. Ebenso verhält es sich mit der Wahrheit: Nicht alles Wahre überhaupt ist hiermit gemeint, sondern wenn in einem Satze Wahrheit liegt, so ist er eben wahr. Auch die Weisheit, die Bosheit, die Trunkenheit sind Eigenschaften, die einem einzelnen Menschen zukommen können und eben das sind, was ihn weise, boshaft oder trunken macht. Am deutlichsten erkennen, was Menschheit bedeutet, kann vielleicht, wer an das parallele Wort Tierheit denkt. Niemandem käme wohl in den Sinn, anzunehmen, es sollte hiermit die Gesamtheit aller Tiere umfasst werden, vielmehr ist unmittelbar klar, dass Tierheit eine Qualität bezeichnet, eben das Tierische, sodass man von Einem, der alles Denken auf- und sich ganz dem blinden Sinnengenuss hingegeben hätte, urteilen könnte: „Er ist zur Tierheit herabgesunken – weil er nämlich auf seine Menschheit Verzicht getan hat.“ (Die entsprechende Endung im Lateinischen ist -tas, woraus im Deutschen -tät wie in Qualität (von qualitas) geworden ist, sodass Tierheit und Menschheit bildungssprachlich mit Bestialität und Humanität wiedergegeben werden könnten, wenn nicht im Wort Bestie heute stets etwas von besonderer Wildheit und Grausamkeit mitschwingen und wenn nicht Humanität allzu leicht an eine mildtätige Menschenfreundlichkeit denken lassen würde (anstelle des ersteren dieser beiden Worte mag die weniger verfängliche Animalität treten).)

Meine Menschheit ist also das eigentlich Menschliche an mir, das, was mich, darüber hinaus, dass ich Hände oder Augen habe, dass ich Lust oder Schmerz fühle, dass ich gehen und Geräusche von mir geben kann – was ich doch alles mit dem Tiere teile – zum Menschen macht. Es handelt sich um einen höchst erhabenen Begriff, auf dem alle Moral gegründet ist und den man, wenn man ihn bei Kant oder Fichte liest, nur mit tiefer Ehrfurcht hören kann: Meine Menschheit verleiht mir die Vernunft. Die Wenigsten erheben sich je zur Menschheit, indem sie den Mut ausbilden, wirklich vernünftig zu sein, anstatt Sklaven einer launenhaften Natur. Die Würde der Menschheit (nicht etwa des Menschen, der als solcher, als rein biologisches Wesen, das frisst, fickt und stirbt, nicht mehr Würde hat als irgendeine Laus) habe ich zu achten, sowohl in meiner Person als auch in der jedes anderen: Alle Unsittlichkeit, ob nun der Betrug, ob die Vergewaltigung, ob der Mord, besteht darin, dass ich jemandes Menschheit missachte und ihn als bloßes Ding handhabe. Viele mögen sich selbst missachten und dieserart als Ding behandeln, und insofern sie dies tun, handeln sie ebenfalls unmoralisch und sind übrigens ohne alle Würde. Aber auch Jener Menschheit habe ich zu achten; es wird hier deutlich, warum manche sich so schwertun, den Verbrecher zu achten, warum sie nach Hinrichtung oder Folter, nach aller Art von Rache schreien und ihm das Menschsein ganz absprechen können und warum es den Vertretern einer weichlichen Menschlichkeit so schwerfällt, sie hiervon abzubringen: Jene gegen den Verbrecher Wetternden haben von ihrer Seite her ganz recht, er ist wahrlich kein Mensch und er ist, als der, der er ist, als Verbrecher, wirklich keiner Achtung wert, und keine Vernunft könnte angeben, was daran gelegen sein soll, dass er, wie er ist, weiterlebe – aber nicht ihn soll ich achten, sondern die Menschheit in ihm, und wenn ich sein Leben schonen, wenn ich ihn nicht demütigen oder foltern soll, so nicht um dessen willen, was er ist – dieses ist in der Tat ohne allen Wert und verdiente das Leben nicht –, sondern um dessentwillen, was er sein kann und wozu selbst der Verworfenste sich vielleicht noch zu erheben vermag, weshalb wir verpflichtet bleiben, ihm mit Achtung zu begegnen und an seiner Besserung zu arbeiten.

Es ist nun deutlich, weshalb der Begriff der Menschheit gänzlich ausgestorben und heute die Sache selbst nicht einmal bekannt ist, während man mit dem Wort etwas ganz anderes und höchst Banales bezeichnet: Derlei geschieht nie zufällig, denn die Worte spiegeln das Denken einer Nation, und in diesem Falle offenbart sich hier das Zeitalter der Ausklärung in all seiner Plattheit: Es kennt eben nichts Geistiges und Erhabenes, nichts jenseits der empirischen Oberfläche Liegendes, es kennt keine Menschheit und deshalb auch keine höhere Moral. Es ist bezeichnend, dass es statt von der Menschheit gerne von der Menschlichkeit redet, ein weit schlafferer und breiig-unbestimmter Begriff: Die Menschlichkeit ist ebenfalls, was mich zum Menschen macht, aber viel mehr im kreatürlichen Sinne als im Verstande eines Vernunftwesens, sie bezeichnet viel mehr meine Emotionen als meine Vernunft. Und auch in der Menschlichkeit schwingt etwas Moralisches mit, aber etwas sehr Gefühlsduseliges, etwas von Erbarmen und Mitleid, das also zugleich insgeheim sehr selbstgerecht als auch nicht wahrhaft moralisch, nicht auf Vernunft Gegründetes und eine Pflicht Gebietendes ist: Manche Gutmütigen würden gegen den oben genannten Verbrecher Menschlichkeit fordern; begründen könnten sie das gegen Jene nicht, die zurecht nicht einsehen, warum sie mit solch einem Verbrecher mitleiden sollten, und gegen ihn selbst wären sie höchst unsittlich, denn in ihrer Menschlichkeit belassen sie ihn, wie er ist, anstatt in ihm das zu achten und zu fördern, was er zu sein vermöchte. Eine große Denkerin wie Arendt hatte guten Grund, sich dagegen auszusprechen, dass man den Straftatbestand des crime against humanity (ein höchst dreideutiger Begriff) mit Verbrechen gegen die Menschlichkeit übersetzt: „–as though the Nazis had simply been lacking in human kindness, certainly the understatement of the century.“¹ So sah es freilich ein Eichmann: der sein eigentliches Verbrechen nie als solches bekannte, sich aber empörte, wenn er von einzelnen Wachen hörte, die Juden misshandelt hatten, als sie sie in die Züge in die KZs steckten, da er an Mord offenbar nichts Falsches sah, aber wollte, dass dabei alles anständig und menschlich zuging. Die Nazis hätten die Juden aber nicht menschlich behandeln, sie hätten sie nicht ein wenig schonen oder ihnen ein paar Brotkrumen aus Mitleid zuwerfen sollen; menschlich kann man auch gegen das Tier sein (und war es manch gänzlich unsittlicher Nazi gegen dieses). Nein, sie hätten sie als Menschen, d. i. sie hätten ihre Menschheit achten sollen.

Hier könnte nun noch jemand fragen, wie er denn, wenn das Wort Menschheit künftig für Das reserviert sein soll, was es eigentlich bezeichnet und was keinen anderen Namen hat noch duldet, fortan das bezeichnen soll, was heute gemeinhin Menschheit genannt wird. Aber dies ist keine große Schwierigkeit, der Möglichkeiten gibt es viele: Er kann von Menschen schlechtweg reden. Was nimmt es Wendungen wie „Menschheitsgeschichte“ oder „Der Klimawandel ist die größte Bedrohung, der sich die Menschheit je gegenüber sah“, wenn ich stattdessen „Menschengeschichte“ oder „Der Klimawandel ist die größte Bedrohung, der sich der Mensch je gegenüber sah“ sage? Wir könnten auch dazu übergehen, wieder das schöne Wort Menschengeschlecht zu gebrauchen, das im Zeitalter der Aufklärung in Gebrauch war und das dem englischen humankind am nächsten kommt. Ich meinesteils möchte das Wort Menschenschaft in Vorschlag bringen: Die Endung -schaft nämlich dient viel eher als die Endung -heit dazu, Gruppen zu bezeichnen (wenn dies auch nicht ihre ausschließliche Funktion ist): So ist unter meiner Verwandtschaft die Summe all meiner Verwandten zu verstehen (noch Luther verwendet auch das Wort Freundschaft in analoger Weise), eine Mannschaft ist eine Gruppe von Männern, ich kann von der Lehrerschaft oder der Schülerschaft einer Schule sprechen, wenn ich alle dortigen Lehrer oder Schüler umfassen will, usw. Auch Wissenschaft wurde einst in diesem Sinne gebraucht, ein Mann von großer Wissenschaft, das bezeichnete ehemals jemanden, der viel Wissen besaß, also den, den man heute einen Gebildeten nennen würde. (In anderen Fällen bezeichnen Schaften heute eher abstrakte Institutionen und gemeine Wesen, hatten aber ursprünglich ebenfalls die Bedeutung eines Kollektivs, so die Gesellschaft, die Burschenschaft, die Bruderschaft, die einmal ganz unmittelbar eine Ansammlung von Gesellen, Burschen oder Brüdern meinten.) Die Menschenschaft, das wäre demnach das ganze Gewimmel und Gewusel an Menschen, das diesen Planeten bevölkert, also gerade, was man heute irrtümlich als Menschheit tituliert.

1 „– als hätten es die Nazis lediglich an ‚Menschlichkeit‘ fehlen lassen, als sie Millionen in die Gaskammern schickten, wahrhaftig das Understatement des Jahrhunderts.“ (Johanna Arendt: Eichmann in Jerusalem. Epilog.)
Und im Vorbeigehen gefragt, was sollte man sich überhaupt unter einem Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorzustellen haben? Äußersten Falles könnte das Verbrechen doch in einem Mangel an Menschlichkeit bestehen, aber es würde darob doch nicht gegen die Menschlichkeit verübt, diese, die kein Subjekt ist, wäre nicht das Opfer des Verbrechens. Ein Verbrechen gegen die Menschheit hingegen, das ist etwas mögliches.