Die Wahl zum deutschen Bundestag liegt nun hinter uns. Was an ihr nicht ganz vorhersehbar war – ob FDP und BSW in diesen Bundestag einziehen würden oder nicht –, das ist so erfreulich ausgefallen, wie es nur konnte. Dies ist aber auch beinahe der einzige Lichtblick, denn was vorhersehbar war, das ist genauso ausgefallen, wie es vorhergesehen wurde. Deutschland hat einen weiteren großen Schritt weg vom Recht getan, vom nationalen wie vom internationalen. Die sich zusammenbrauende dunkle Wolke wird jetzt nur von denjenigen nicht gesehen, die sie heraufbeschworen haben. Ich werde mir an dieser Stelle nicht die Mühe machen, diesen Menschen irgendetwas zu erklären oder gar etwas zu belegen. Sie müssen sich mit einer Erinnerung begnügen: Nämlich der, dass 1930 oder 1932 die von Ressentiments aufgepeitschte Masse und auch die anständige, die respektable Gesellschaft beide ebenfalls zu kurzsichtig, zu verantwortungslos, ja zu unberührbar, soll heißen: zu untot waren, um zu erkennen, welchen Weg sie eingeschlagen hatten; dass die Tucholskys und Ossietzkys damals Recht hatten und dass also heute jemand, der doch etwas mehr ist als ein Tucholsky oder Ossietzky auch Recht haben wird. Stattdessen möchte ich ein Wort an jene anderen richten, die noch genug gesunden Sinn haben, um, wenn graue Wolken sich vor die Sonne schieben, immerhin zu bemerken, dass es dunkler wird, jene Linken, die jetzt viel von der Gefahr des Faschismus sprechen: Ihr merkt, dass der Patient krank ist, ihr erkennt richtig einige der Symptome, aber ihr kennt die Krankheit nicht und drum verwechselt ihr sie mit einer andren, die mit ihr einige Symptome teilt. Faschismus sollte nicht als Synonym für Rechtsextremismus jeglicher Art gebraucht werden. Man sollte darunter eine gewisse Haltung begreifen (die im übrigen nicht nur mit rechter, sondern auch mit anderer, eingeschlossen mit linker Ideologie vereinbar ist). Ich will nun nicht leugnen, dass Elemente dieser Haltung verbreitet sind und nun nach der Macht greifen. Ich will auch nicht ausschließen, dass dasjenige, was vor der Hand nach der Macht greift, die faschistische Haltung befördern und einem neuen Faschismus den Weg bahnen kann. Doch vorerst ist es nicht rechter Faschismus, mit dem wir es zu tun haben. Weder die AfD in Deutschland noch Trump in den USA streben nach einer selbst ins private dringenden und alle Menschen gleichschaltenden Herrschaft. Sie versprechen nicht, dass jedermann unter ihnen im Gleichschritt wird marschieren müssen, sondern sie versprechen das Gegenteil: Dass jeder sich zügel- und rücksichtslos wird gehen lassen können. Trump selber lebt es seinen Anhängern vor und lässt sie hoffen, ein jeder von ihnen könne selber ein kleiner Trump sein. Nicht Gehorsam oder Volksgemeinschaft, nicht Kollektivismus ist das Wort der Stunde, sondern Freiheit, Unabhängigkeit, kurz Individualismus. Mit andren Worten: Wir haben es hier zunächst nicht mit dem rechten Faschismus, sondern mit der rechten Ausklärung zu tun. Und dies zu begreifen ist wichtig, damit man nicht gegen Windmühlen anfechtet – und damit man tun kann, worin Aufklärung eigentlich besteht und was gerade jetzt nötiger denn je ist: Sich in Selbstkritik üben, statt nur den Anderen zu kritisieren, weil Derjenige, der etwas bekämpft, das er zugleich selbst (nur vielleicht auf weniger konsequente Weise) ist, immer unterliegen und es nicht schwächen, sondern stärken wird (was die Parteien der Mitte mit ihrem rassistischen Wahlkampf einmal mehr bewiesen haben, von dem ja von vorneherein klar war, dass er der AfD nicht Stimmen entziehen, sondern zuführen würde): Dies kann jetzt nur heißen, dass man zu reflektieren hat, inwiefern man selbst die (wenn auch linke oder selbst zentristische) Ausklärung repräsentiert und sich aus dieser erst herauszuarbeiten hat, wenn man nicht ihre notwendigen Konsequenzen bei aller Bestürzung über diese doch unvermerkt befördern will. Und noch eines ist zu betonen, diesmal nicht gegen die Oberflächlichkeit, die ein wirkliches Problem sieht, aber ihm eine unwirkliche Wurzel zuschreibt, sondern gegen die Kurzsichtigkeit, die über diesem einen Problem ein anderes, damit zusammenhängendes übersieht: Es hat nicht nur wenigstens die Hälfte der Deutschen klar für rassistische Politik und für das Prinzip „Might makes right“¹, statt für das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit gestimmt (eher zwei Drittel oder mehr, wenn man diejenigen hinzunimmt, die zwar nicht klar, aber doch immerhin verdruckst hierfür gestimmt haben). Sondern die Deutschen haben überdies mehr denn je ihrem notorischen Provinzialismus gefrönt. Und dies zu erinnern ist umso wichtiger, als sich dessen nicht nur die Rechten und die Mitte, sondern auch die Linken schuldig gemacht haben. Während die internationale Ordnung gerade zusammenbricht und das Völkerrecht seine seit dem Zweiten Weltkrieg größte Zerreisprobe erlebt, während Europa sich nicht mehr auf den Schutz durch die USA verlassen kann und vor unser aller Augen die Ukraine preisgegeben und zerfleischt wird, während der Ruf Deutschlands, ja des Westens überhaupt in der Weltgemeinschaft gänzlich vernichtet ist, während vor allem eine nie dagewesene ökologische Krise herrscht und der Zusammenbruch der globalen Zivilisation droht – da wählen die Deutschen denjenigen, der verspricht, drei oder vier afghanische Flüchtlinge mit Messern aus dem Land zu schaffen, oder, der kleinere und weniger rassistische Teil, wählt denjenigen, der verspricht, ihre Mieten etwas zu senken. Falls es noch eines Beweises bedurft hätte, dass die Deutschen nicht über ihre Nasenspitze hinaus blicken können, dass sie kein Gefühl von Verantwortung und keinen historischen Sinn haben (denn Hand aufs Herz: ein jeder weiß im Grunde, dass kein Historiker in hundert oder zweihundert oder fünfhundert Jahren zurückblicken und meinen wird, ein oder zwei kriminelle Flüchtlinge wären Deutschlands größtes Problem im Jahre 2025 gewesen, nur stellt sich eben niemand auch nur diese Frage, was wohl die Historiker der Zukunft urteilen werden – und eben damit riskieren sie, dass es in Zukunft keine Historiker mehr geben wird).
Aber genug von diesen Dingen, denn ich habe nicht vor, hier und heute eine tiefergehende Analyse der Wahl oder der Lage in Deutschland zu verfassen. Ich möchte mich damit bescheiden, die Reaktionen auf meinen offenen Brief an die Parteien zu kommentieren. Meinen schlechten Stil bitte ich hierbei zu entschuldigen; die Zeit, an meinem Stil zu feilen, möchte ich mir für diese Angelegenheit nicht nehmen:
Die meisten von ihnen sind eine Antwort schuldig geblieben. Man muss billigerweise sagen, dass ich meinen Brief erst wenige Wochen vor der Wahl verschickt habe und dies vielleicht früher hätte tun müssen. Es ist zu vermuten, dass die Parteien, zumal die großen, viele Emails erhalten und es einige Zeit in Anspruch nimmt, sie zu sichten, geschweige zu beantworten. Dennoch spricht das allgemeine Schweigen nicht dafür, dass die Parteien insgesamt am Dialog mit ihren Wählern interessiert sind oder deren Sorgen sonderlich ernst nehmen. Und man kann nur mutmaßen, wie viele sehr wohl meinen Brief zur rechten Zeit gelesen haben mögen, aber lieber schwiegen, als mit einem ehrlichen Nein zu antworten. Besonders kurios ist, dass nicht nur keine einzige der größeren Parteien mit realistischen Chancen auf einen Einzug in den Bundestag geantwortet hat, sondern selbst unter den kleineren keine, die man gemeinhin als gemäßigt oder zur Mitte gehörig beurteilen würde. MERA25 abgerechnet sind es vielmehr ausgerechnet und ausschließlich Naziparteien, die eine Antwort zurückgeschickt haben.
Die Antwort der Basis, der Querdenkerpartei, ist überhaupt keine. Sie könnte ebenso gut eine automatisierte sein (eine solche erhielt ich tatsächlich vom BSW: „Wir haben Ihre Information zur Kenntnis genommen und weitergegeben. Bitte haben Sie Verständnis, dass wir aktuell aufgrund der hohen Anzahl an Nachrichten nur mit dieser standardisierten Mail antworten können.“; ich habe sie nicht veröffentlicht, da sie weder ein Ja noch ein Nein war, sondern eben eine maschinelle Entschuldigung, dass der Brief gar nicht erst beantwortet werde). Nun ist eben dies immer und jederzeit ein sicheres Zeichen, dass man missachtet wird: Wenn auf einen Menschen nicht eingegangen wird, wenn die Antwort eine Floskel ist, die auch von einer KI kommen könnte, wenn der andere sich nicht berühren lässt, so ist das übler als eine Beleidigung, die ein Angriff sein mag, aber eben ein Angriff auf diesen konkreten Menschen wäre, also seine Individualität zur Kenntnis nähme, während eine solch roboterhafte Antwort ihn entmenschlicht. Hinter der Missachtung verbirgt sich freilich Verlogenheit: Erstens ist eine konkrete Antwort auf die gestellte Frage, die ja eine Frage nach den Prinzipien, nicht nach einzelnen politischen Vorhaben war, im Programm der Basis nicht zu finden. Zweitens aber hätte man sie, selbst wenn sie dort zu finden gewesen wäre, dennoch direkt und geradeheraus geben können. Das hätte nicht mehr Zeit und Kraft gekostet, denn es war ja keine ausführliche Antwort verlangt worden, ein einfaches Ja oder Nein hätte es getan. Ich kann aus der erhaltenen Email nur schließen, dass man meinen Brief entweder gar nicht gelesen, sondern gleich reflexartig auf das Programm verwiesen hat oder dass man nicht mit einem ehrlichen und klaren Nein antworten wollte.
Die Antwort des Bündnisses Deutschland, einer Splitterpartei aus ehemaligen AfDlern, Freien Wählern und anderen, die rassistisch, aber dabei bitte gutbürgerlich sein wollen, enthält die für unsere Politikaster typische Phrasendrescherei. Ich hatte damit gerechnet, sollte ich überhaupt Antworten erhalten, vor allem solche zu bekommen. Die Verlogenheit solch leerer Worthülsen liegt auf der Hand: Ich hatte nicht eine Reihe von Fragen gestellt, sondern eine einzige, alles weitere war nur die explizite Ausführung, was diese eine Frage beinhalte, um substanzlose Antworten wie eben diese nicht noch leichter und wahrscheinlicher zu machen. Und diese eine Frage, aber selbst die in ihr enthaltenen Teilfragen lassen sich sehr wohl mit einem einfachen Ja oder Nein beantworten: Entweder eine Partei stellt die ökologische Krise ins Zentrum ihrer Politik und ist bereit, ihr jederzeit alles andere unterzuordnen – oder sie tut es eben nicht und ist bereit, die ökologische Krise anderem unterzuordnen (was gleichbedeutend ist mit: sie ist eine Klimawandelleugner-Partei, die verboten würde, wenn in Deutschland das Grundgesetz gelten würde, das als verfassungswidrig nämlich alle Parteien definiert, „die nach ihren Zielen oder nach dem Verhalten ihrer Anhänger darauf ausgehen, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen oder den Bestand der Bundesrepublik Deutschland zu gefährden, sind verfassungswidrig.“² Art. 21 Abs. 2 GG). Entweder eine Partei bekennt sich zum Völkerrecht oder sie möchte, wie unser nun baldiger neuer Kanzler, Deutschland den Weg eines Schurkenstaates beschreiten lassen. Etc. Hier lässt sich jedes Mal sehr wohl mit Ja oder Nein antworten, die Unaufgeklärten sind nur eben das Herumdrucksen und die Schleichwege gewöhnt und werden von der radikalen Geradheit und Einfalt der Aufklärung jederzeit vor den Kopf gestoßen. Der zweite Absatz ist Geschwafel, das keiner weiteren Besprechung wert ist. Die Unfähigkeit zu denken lässt sich nach Arendt an der Verwendung von Klischees erkennen, während umgekehrt der Aufgeklärte sich nach Fichte nicht bloß durch Individualität, sondern durch Originalität auszeichnet. Ich weiß, wie sehr viele über diesen Text die Nase rümpfen werden in diesem Lande; aber das Eine kann zumindest niemand mir absprechen, dass meine Texte unverwechselbar die meinen sind und, dies mag ihnen nun zur Ehre oder Unehre gereichen, von keinem anderen hätten geschrieben werden können. Dieser Absatz hingegen hätte auch von jeder anderen Partei, die offen rechtsextremen einmal abgerechnet, stammen können, und eben daran, dass, hätte ich ihn veröffentlicht, ohne kenntlich zu machen, von wem er verfasst wurde, niemand zu sagen vermöchte, ob er nun statt vom Bündnis Deutschland vielleicht von der SPD oder CDU oder den Grünen oder sonst einer Partei kam, erzeigt sich seine Gehaltlosigkeit. Es versteht sich übrigens von selbst, dass mir als Aufklärer und Erzrationalisten die Lüge, Bündnis Deutschland stehe für eine Politik der Vernunft, besonders aufstößt, und wäre ich zu der unaufgeklärten Emotion des Hasses überhaupt fähig, so würde mein Hass all jenen gelten, die den heiligen Namen der Vernunft derart schamlos entweihen. Aber wäre man naiv genug, das Phrasenhafte dieses Absatzes zu übersehen und die Partei hier beim Worte zu nehmen, so wäre er im Ganzen doch begrüßenswert. Doch der folgende hebt ihn vollständig auf und offenbart ihn eindeutig als Lüge: Ja, man braucht in komplexen Fragen differenzierte Antworten, man muss da flexibel sein, statt sich festzulegen und zu versteifen, und wie die Floskeln alle lauten – aber dies betrifft immer nur die Mittel und Wege, die man nutzen mag. Von diesen mögen die einen vorteilhafter sein als die anderen. Hierüber darf man streiten und dies wäre in einer Vernunftrepublik auch die Rolle der Politiker: Sie würden, mit Kant gesprochen, als Freunde und nicht als Feinde streiten, nämlich darum streiten, wie das allen gemeinsame Ziel am besten zu erreichen ist. Es gibt jedoch gewisse Basics, die nicht verhandelbar sind: Jeder Mensch soll in Frieden und Würde leben, jeder Mensch soll Wasser, Brot und ein Dach haben. Alles andere hat kein Existenzrecht, solange dieses nicht garantiert ist. Niemand hat ein Recht, Wein zu trinken, solange noch ein einziger ohne Wasser ist, niemand hat ein Recht, Kuchen zu essen, solange noch ein einziger ohne Brot ist, niemand hat ein Recht, in einem Palast zu leben, solange noch ein einziger ohne ein Dach über dem Kopf ist. Wer seinen (oder seines Landes) Vorteil höher schätzt als das Recht, der ist eben ein böser Mensch, denn das tut auch der Dieb oder der Vergewaltiger. Es ist diesem nicht verboten, nach Gewinn zu streben oder seine Lust zu befriedigen, nur darf er diesen Zielen eben nur unter einer Einschränkung nachgehen: Das Recht seiner Mitmenschen muss für ihn schwerer wiegen als dieses sein Eigeninteresse. Dass nun das Stehlen oder Vergewaltigen gesellschaftlich geächtet ist, aber das Zerstören des Klimas, das Unterstützen von Kriegsverbrechern und Völkermördern und das Morden von Flüchtlingen nicht, das zeigt nur die Inkonsequenz eben jener Gesellschaft an – aber ein Aufgeklärter Mensch, ein Mensch, der, wie diese Partei es doch im vorigen Absatz vorgab, nach der Vernunft handelt, der urteilt selbst darüber, was unerlaubt und was erlaubt ist, statt blind dem gemeinen Urteil seiner Gesellschaft zu folgen. Und ich weiß wohl, dass das der ausgeklärten Menge, der das Recht nur lästig ist, „undifferenziert“ oder „zu schwarz und weiß“ klingt, denn die Ausgeklärten hassen die Klarheit und die Strenge. Aber das Grundgesetz erklärt nun einmal in seinem ersten Artikel die Menschenwürde für unantastbar. Das ist eine pauschale Festlegung: Die Menschenwürde steht über allem, alles andere ist ihr, wenn es nicht gemeinsam mit ihr zu haben und wenn man vor ein Entweder-Oder gestellt ist, aufzuopfern. Es steht dort nicht, die Menschenwürde sei ein Interesse unter anderen, die es abzuwägen gelte. Und wenn es dort stünde, wäre es Unsinn, denn Würde bedeutet eben einen nicht aufzuwiegenden Wert, wer die Würde eines Menschen nur manchmal, nur unter Voraussetzungen, nur wenn es ihn selbst nicht zu viel kostet achten mag, der achtet sie gar nicht, auch dann nicht, wenn er sie gerade zufällig nicht offen verletzt. Es ist klar, dass keine der größeren Parteien diesen ersten und fundamentalsten Artikel des Grundgesetzes ernst nimmt, es ist auch klar, dass beinahe sämtliche Wähler einer Partei davonlaufen würden, die es doch täte. Nun, mit der Menschenverachtung der meisten meiner Mitbürger könnte ich leben – nur mit ihrer Verlogenheit mag ich nicht leben, ich wünschte, ganz Deutschland und alle Politiker würden offen sprechen: Wir achten diesen ersten Artikel unseres Grundgesetzes und die hier ausgesprochenen Werte für nichts, die Menschenwürde ist für uns antastbar, wir wollen eine Politik, die sie antastet, wann immer es opportun ist oder uns andernfalls eine kleine Unannehmlichkeit entstehen würde. Aber nein, solche Ehrlichkeit ist vielleicht von einem Trump zu haben, der spricht: „He who saves his Country does not violate any Law“³, oder von einem Hitler, der erklärte, Recht sei, was immer gut für das deutsche Volk sei. Die ausgeklärte Mitte aber, die dieses Sentiment im Grunde sehr wohl teilt, nur nicht ganz konsequent zu Ende denken mag, scheut sich, in Worten das Grundgesetz so sehr wegzuwerfen, wie sie es in Taten offen tut. Nur würde ich dem Bündnis Deutschland zu bedenken geben: Kleine Parteien brauchen ein Alleinstellungsmerkmal, wenn sie sich behaupten wollen. Noch nie war eine Kleinpartei in der BRD erfolgreich, die in ihren Positionen und ihrem Gebaren nur eine Kopie der schon vorhandenen großen Parteien war, nicht einmal, wenn sie eine in Teilen etwas konsequentere Kopie darstellte. Deshalb haben Volt oder eben Bündnis Deutschland keine Chance in einem Staat, in dem es schon die Grünen oder Union und AfD gibt. Eine neue Partei, wenn sie überhaupt eine Chance haben will, muss der Materie (wie einst die Grünen als damalige Umwelt- und Friedenspartei oder wie die AfD als Dagegen- und Antideutschlandpartei) oder der Form nach etwas Neues bieten, im besten Falle beides. Dass die etablierten Parteien vor Radikalität und Konsequenz zurückschrecken, ist verständlich, aber eine kleine Partei könnte sich diese erlauben, denn was hat sie zu verlieren? Jene, die Halbheiten und Rumgedruckse wollen, werden ohnehin die Etablierten wählen.
Während die Antwort von Bündnis Deutschland nicht von der zu unterscheiden ist, die auch eine der großen Parteien hätte geben können, und eben deshalb keinen Grund verrät, warum man diese kleine Partei den großen vorziehen sollte, ist die des anderen Bündnisses, des christianisch-fundamentalistischen Bündnis C amüsant in ihrer Unprofessionalität. Hier antwortet die Parteivorsitzende persönlich (vermutlich gibt es auch nicht viel mehr Mitglieder als sie selbst), und ihre Antwort ist die eingeschnappte Antwort einer deutschen Benimmtante. Neu ist mir solch ein Gebaren freilich nicht. Ich fühle mich etwa an den stellvertretenden Schulleiter meines alten Gymnasiums erinnert, ein Muster der Ausgeklärtheit, promoviert, jovial, ein Vertreter der linken Mitte, dessen Rassismus gegen seine neuköllner Schüler nicht der offene eines Nazis, sondern der freundliche eines aufrichtig wohlmeinenden Kolonialherren ist, der gerne allen wilden Negerlein die Zivilisation bringen würde, einer, der auch, als er die 40 überschritten hatte, noch auf Anfang-20er-Kumpellehrer machte, aber doch bei der leisesten Kritik seiner Schüler böse wurde, kurz: ein durch und durch heroischer Charakter. Diesem schrieben ehemalige Schüler von mir, als sie ihr Abitur gemacht und nichts mehr zu fürchten hatten, kritische Briefe, die deutlich, aber sachlich waren; seine Selbstgerechtigkeit zwang ihn, sich selbst vorzumachen, er nehme Kritik ernst, deshalb lud er sie zum Gespräch in sein Büro. Auf meinen Rat bestanden sie auf neutralem Boden und einem neutralen Moderator. Er sagte erst zu, sie dürften gerne einen Freund mitbringen, wohl annehmend, es mit einem weiteren Jugendlichen zu tun zu bekommen, den er auch würde unterbuttern können. Stattdessen schlugen sie ihm aber eine ebenfalls promovierte Jugendpsychologin als Gesprächsleiterin vor. Plötzlich antwortete er nicht mehr, nicht einmal, um die vorgeschlagenen Termine, die die vormaligen Schüler und die Psychologin sich freigehalten hatten, abzusagen. Als einer meiner Schüler nachhakte und diese Missachtung rügte: „Sie fordern ihren Schülern ab, sich Zeit zu nehmen und doch können (wollen würde vielleicht sogar besser passen) Sie dies selbst nicht. Hiermit geben wir Ihnen die letzte Chance zu zeigen, dass Sie doch Interesse an einem Gespräch haben. Der in der vorherigen Mail erwähnte Termin steht zumindest noch“, da schrieb jener Lehrer in plötzlich ganz verändertem Tonfall zurück: „nun wird es Sie nicht wundern, dass ich meinerseits auch Ihre Ansprache nicht als besonders respektvoll erachte“. So sind sie eben, die Anständigen und die Heroischen: Der Benimm ist ihnen alles. D. h. der Benimm, den man ihnen entgegenbringt, denn sie selbst dürfen sich Rücksichtslosigkeiten jederzeit erlauben. Der heroische Charakter hat nur Rechte, keine Pflichten, wenn er gegen andere freundlich und höflich ist, ist es eine Gnade, für die man ihn loben und ihm dankbar sein soll, die er einem jederzeit auch entziehen darf, wenn man sie nicht mehr verdient, was man dagegen ihm an Freundlichkeit und Höflichkeit entgegenbringt, ist eine schuldige Pflicht und wehe einem für die kleinste Übertretung derselben! Doch gibt es einen wichtigen Unterschied zwischen jenem stellvertretenden Schulleiter und dieser Fundamentalistin: Der eine ist Atheist, diese aber lügt nicht nur privat (wie es viele tun), sondern sie lügt der Öffentlichkeit vor, Christin zu sein und christliche Politik betreiben zu wollen. Nun, sie hätte, wenn sie nicht gleich pikiert gewesen wäre und sich nicht mehr an einer Anrede aufgehängt hätte, als auf den Inhalt zu schauen, leicht bemerken können, dass die tiefste christliche Menschenliebe aus meinen Zeilen spricht. Aber einmal angenommen, ich hätte wirklich Menschenachtung vermissen lassen: Ist es denn christlich, dass man den Sünder achtlos wegwirft? Sagt nicht Jesus: „Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet. Denn wie ihr richtet, werdet ihr gerichtet werden; und mit welchem Maß ihr messt, wird euch zugemessen werden. Was siehst du aber den Splitter in deines Bruders Auge und nimmst nicht wahr den Balken in deinem Auge? Oder wie kannst du sagen zu deinem Bruder: Halt, ich will dir den Splitter aus deinem Auge ziehen! – und siehe, ein Balken ist in deinem Auge?“⁴ und „Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie.“⁵? Mehr noch, er gebietet nicht nur, nicht zu richten, als wäre schon genug getan, wenn man dem Sünder nur seine Sünden nicht vorhält, sondern er ging aktiv auf die Sünder zu: Er umgab sich mit Huren und Zöllnern und sagte darüber: „Nicht die Starken bedürfen des Arztes, sondern die Kranken. Ich bin nicht gekommen, Gerechte zu rufen, sondern Sünder.“⁶ Ich lebe diese Lehren. Nie habe ich selbst den Unaufgeklärtesten und Achtlosesten weggeworfen, immer war ich gegen jedermann gesprächs- und hilfs- und aufklärungsbereit, nur wer sich selber wegwirft und das Angebot zur Aufklärung nicht annehmen mag, sondern als Angriff empfindet, nur den allein lasse ich schließlich stehen, um meine Zeit lieber den Aufklärungswilligen zu widmen. Aber wo legen jene selbsternannten Christen diese christliche Haltung an den Tag? Doch so sind Fundamentalisten, sie mögen sich nun Christen, Moslems oder was immer nennen: Religion bedeutet für sie nur, ein möglichst großes Arschloch zu sein. Man hasst Schwule, man verachtet Andersgläubige, im übrigen geht man ein bisschen in die Kirche oder Moschee oder Synagoge, das ist dann die ganze Religion, eine Haltung der gottesfürchtigen Sittlichkeit, der tiefen Gewissenhaftigkeit, der aufrichtigen Hingabe ist hier nicht nötig. Das C in Bündnis C steht also nicht für Christentum, sondern für Charakterlosigkeit. Wie ihre zahlreicheren und einflussreicheren Glaubensbrüder in den USA sind die Christianer dieser Partei nur verkappte Nazis: In Fulda wurde einer der ihren in die Stadtverordnetenversammlung gewählt und ist prompt in die AfD-Fraktion eingetreten, gewiss nicht, weil er fand, dass hier christliche Nächsten- und selbst Feindesliebe am ehesten gelebt würde, sondern weil er seine Feinde hasst und seine Nächsten missachtet, so wie alle Fundamentalisten. Jesu Worte über diese Menschen sind unmissverständlich: „An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen. Kann man denn Trauben lesen von den Dornen oder Feigen von den Disteln? So bringt jeder gute Baum gute Früchte; aber ein fauler Baum bringt schlechte Früchte. Ein guter Baum kann nicht schlechte Früchte bringen und ein fauler Baum kann nicht gute Früchte bringen. Jeder Baum, der nicht gute Früchte bringt, wird abgehauen und ins Feuer geworfen. Darum, an ihren Früchten sollt ihr sie erkennen. Es werden nicht alle, die zu mir sagen: Herr, Herr!, in das Himmelreich kommen, sondern die den Willen tun meines Vaters im Himmel. Es werden viele zu mir sagen an jenem Tage: Herr, Herr, haben wir nicht in deinem Namen geweissagt? Haben wir nicht in deinem Namen Dämonen ausgetrieben? Haben wir nicht in deinem Namen viele Machttaten getan? Dann werde ich ihnen bekennen: Ich habe euch nie gekannt; weicht von mir, die ihr das Gesetz übertretet!“⁷ Und Paulus bekräftigt: „Wenn ich mit Menschen- und mit Engelzungen redete und hätte der Liebe nicht, so wäre ich ein tönendes Erz oder eine klingende Schelle. Und wenn ich prophetisch reden könnte und wüsste alle Geheimnisse und alle Erkenntnis und hätte allen Glauben, sodass ich Berge versetzen könnte, und hätte der Liebe nicht, so wäre ich nichts. Und wenn ich alle meine Habe den Armen gäbe und meinen Leib dahingäbe, mich zu rühmen, und hätte der Liebe nicht, so wäre mir’s nichts nütze.“⁸ Was soll man also noch mehr von jenen sagen, die nicht nur die Liebe nicht haben, sondern nicht einmal Berge versetzen können oder den Armen geben, wenn sie Denjenigen angehen, der nicht nur die Liebe hat, sondern auch alle Erkenntnis und allen Glauben und der Berge versetzt und prophetisch redet, nur weil er sie nicht mit Engelszungen angeredet hat?
So bleibt denn nur MERA25 übrig (eine Partei, die ich schon vor Abschicken meines Briefes im Blick gehabt hatte, so fern ich eigentlich linker Politik stehe, und die sich in diesen Tagen, da in Deutschland Antisemitismus und Obskurantismus herrschen, durch ihren unermüdlichen Einsatz für die Menschenrechte der Palästinenser und dadurch, dass sie die vortreffliche Francesca Albanese einlud, während die Unfreie Universität sie zur ewigen Schande Deutschlands auslud, großes Verdienst um diese Nation und um die Menschheit erworben hat). Es überrascht nicht im geringsten, dass die einzige Antwort, die knapp und gerade heraus auf eine Ja-Nein-Frage mit Ja oder Nein antwortet, eben diejenige ist, die in einem Ja und nicht in einem Nein besteht. Leider aber hat auch diese Partei nicht unumwunden mit Ja geantwortet. Es stimmt freilich, dass die Frage, inwieweit sie bereit ist, ihre Grundsätze in einer Koalition über Bord zu werfen, praktisch unerheblich ist, da sie sich ohnehin in absehbarer Zeit in keiner solchen Lage wiederfinden wird. Aber prinzipiell ist sie doch umso bedeutender. Freilich liegt es in der Natur der Sache, dass, wer eine Koalition eingeht, sich auf Kompromisse einlassen muss. Aber will man nicht nur rückgratloser Mehrheitsbeschaffer sein und an die Macht kommen, um eben überhaupt an der Macht zu sein, muss es dabei doch eine rote Linie geben, die man nicht zu überschreiten bereit ist. Und gerade nach dieser hatte ich ja gefragt. Ich lasse mir, zumal in diesen Tagen, jeden Pragmatismus in tagespolitischen Angelegenheiten gefallen, aber ich bestehe darauf, dass jegliche Politik auf ein Ideal ausgerichtet zu bleiben hat. Es ist das eine, wenn eine Partei vorläufig um einer Koalition willen auf ihr Ziel verzichtet, ein Grundeinkommen oder eine Viertagewoche einzuführen, aber sie darf nicht um einer Koalition willen bereit sein, den ökologischen Kollaps oder einen Völkermord mitzutragen. Dass Linke oft gute Absichten haben, aber keine klaren Grundsätze, dass ihre Ethik zwar aufrichtig, aber mehr eine des Mitleids als der Menschenachtung ist, ist einer ihrer größten Fehler, denn es macht, dass sie in entscheidenden Momenten ihre Sache verraten wie die SPD 1914 oder dass sie mit der Zeit derart zu bloßen Realos verkommen, dass sie schließlich Teil und Träger jener Verhältnisse sind, die zu bessern sie einst antraten, so wie die Grünen. Die einschränkende Erklärung lässt also befürchten, dass MERA25, wenn die Partei je Erfolg hätte, über die Jahre und Jahrzehnte einen ähnlichen Weg gehen würde.
Soweit die Antworten der Parteien. Ein offener Brief freilich ist offen, weil er sich nicht nur an seinen unmittelbaren Adressaten richtet, sondern an die Öffentlichkeit. Dass die breitere Öffentlichkeit von meinem Brief keine Notiz genommen hat, versteht sich, denn vorerst lebe ich ja noch mit dem Segen der Obskurität. Aber ich hatte meine mittlerweile immerhin mehr als 600 Abonnenten auf YouTube auf diesen Brief aufmerksam gemacht. Bis auf vier Likes und einen einzigen Kommentar erhielt ich keinerlei Reaktion. Besagter Kommentar lautete: „Parrteien, die sich nicht an die freiheitlich demokratische Grundordnung halten, werden gar nicht erst zugelassen. Die Menschenwürde ist garantiert durch den ersten Artikel.“ Dass es offenbarer Unsinn ist, zu behaupten, von der MLPD bis hin zum III. Weg stünden alle Parteien in Deutschland, die bei dieser oder früheren Wahlen antreten durften, auf dem Boden des Grundgesetzes, dass, würde die Zulassung zu einer Wahl dieses garantieren, es keine Parteiverbotsverfahren geben müsste oder je hätte geben können, das ist so offensichtlich, dass es nicht breit erörtert werden muss. Was mich aber an einer solchen Aussage eigentlich stört, ist nicht, dass sie offenbar falsch ist, es ist das Wegwerfende dieses Satzes. Es klingt, als ob die Menschenwürde Beiwerk wäre, mit dem man sich nicht lange aufhalten müsste. Während ich offensichtlich ein echtes Herzensanliegen in meinem ausführlichen Brief beschrieben habe, während mir die Menschenwürde ein echtes Problem ist, das es ernst zu nehmen und an dem es zu arbeiten gilt, hat diese Abonnentin, vielleicht gar nur auf Grund meiner paar Zeilen auf YouTube und ohne den eigentlichen Brief zu lesen, den Gegenstand einfach beiseitegewischt. Hier zeigt sich gerade der Unterschied zwischen dem Philosophen und dem Nicht-Philosophen. Er liegt nicht etwa in einer ausgeprägteren Intelligenz des Philosophen (denn Intelligenz ist entgegen dem herkömmlichen Vorurteil nicht steigerbar, man hat sie entweder wie der Mensch oder man hat sie nicht wie das Tier) oder in seiner größeren Geschicklichkeit im Denken (was der Volksmund Klugheit nennt, die Befähigung zum Knobeln und zum Lösen von Aufgaben, mag durchaus bei einem Nicht-Philosophen ausgeprägter sein, der deshalb wohl besser im Schachspielen oder Rätsellösen sein kann als ein Philosoph), auch nicht in einer gewissen Intellektualität (denn die meisten Intellektuellen sind keine Philosophen und der Philosoph kann sogar eine ausgeprägte Abneigung gegen alle intellektuellen Dinge haben, die nicht ernsthafte Wissenschaft sind, und sich dem gemeinen Mann näher fühlen als dem Intellektuellen, ja dieses Kann dürfte sogar ein Muss sein), sondern der Philosoph ist ein Mensch, der sich Etwas zum Problem macht, der es ernst nimmt, der sich dafür einsetzt, der es in der Tiefe durchdringt und untersucht, der ihm gar sein ganzes Leben widmet, der nicht zufrieden ist, mit einfachen und schnellen Antworten, während der Nicht-Philosoph gerade solche sucht und gierig nach ihnen greift, da Probleme ihm lästig sind und er sie nur loswerden möchte. Während für Kant die Absicherung und Grenzziehung der Erkenntnis, für Fichte die Begründung des Wissens und der Weg vom Wissen zum gewussten Objekt, für Nietzsche die Kultur und die Schöpferkraft des Menschen echte Probleme waren, mit denen sie ringen und an denen sie schaffen mochten, reagieren Nicht-Philosophen (und dies schließt ausdrücklich solche ein, die meinen, sich für Philosophie zu interessieren) mit Unverständnis oder Ungeduld, ja werden mitunter regelrecht unwillig, wenn man ihnen aufzeigt, dass etwa Freiheit oder Kausalität oder Erkenntnis oder die materielle Welt oder Moral oder Staat Probleme sind. Die Voraussetzung dafür, ein Problem als solches ernst nehmen und also Philosoph sein zu können, ist überströmende innere Kraft, also Mut. Es ist die Schwäche, der innere Mangel der Unaufgeklärten Menschen, die sie ein Problem nur als etwas Störendes, sie Überforderndes und Belastendes erleben lassen, das bitteschön rasch verschwinden soll. Nun ist es zwar menschenunwürdig, ein Schwächling zu sein, der kein Problem aushält, aber es ließe sich noch entschuldigen, wenn ein solcher Schwächling denn auch bloß bekundete: „Damit mag ich mich nicht befassen.“ Wenn er aber spricht: „Es gibt hier gar nichts, womit man sich zu befassen hätte, nicht nur ich mag nicht oder ich bin dem nicht gewachsen, sondern niemand kann oder sollte sich hiermit befassen“, so ist er überdies noch ein Lügner. Und es ist diese Verlogenheit, die mit einem solchen Wegwischen wie in jenem Kommentar stets verbunden ist, die mich abstößt. Es wäre ja etwas anderes, hätte jene Abonnentin offen ausgesprochen, dass die Menschenwürde sie nicht sonderlich kümmert (was man auch deshalb annehmen darf, weil unter ihren Favoriten auf YouTube auch ein Video der AfD zu finden ist, wonach es mit ihr in Deutschland keine Muezzinrufe gäbe, sowie eines von einem Nazikanals, in dem es darum geht, dass Hitler Sozialist gewesen sei), so wäre dies ehrlich gewesen. Stattdessen behauptet sie mit dem schlichten Verweis auf das Grundgesetz (von dem ich in meinem Brief ja gerade fragte, ob sein Geist den Parteien etwas bedeute), an die Menschenwürde müsste man keinen Gedanken verschwenden, die wäre schon garantiert. Das ist die gleiche abstoßende Leichtfertigkeit mit der in anderen Fällen Menschen alle Kritik am israelischen Genozid damit abtun, die Hamas benutze menschliche Schutzschilde und Israel warne die Zivilbevölkerung vor seinen Angriffen: Wie trotz Warnungen mindestens 50.000 Menschen tot sein können, vornehmlich Frauen und Kinder, das fragen solche Leute sich so wenig, wie sie sich auch nur fünf Minuten nehmen, um die israelische Kriegspropaganda von den menschlichen Schutzschilden auf ihre Wahrheit zu überprüfen (tatsächlich gibt es hierfür keine stichhaltigen Beweise, wohl aber zahllose dafür, dass Israel selbst Palästinenser als menschliche Schutzschilde missbraucht). Auch hier könnte man ehrlich sein und schlicht bekennen: dass einem palästinensische Leben gleichgültig sind. Aber was abstößt, hier wie dort, nochmals, das ist, dass jemand einerseits tut, als wäre ihm an der Sache durchaus gelegen, sie aber andererseits so wegwerfend behandelt, dass er sich nicht einmal den Anschein gibt, als meinte er es ernst; und was empört mehr als eine Lüge, noch dazu eine Selbstlüge, bei der sich der Lügner nicht einmal Mühe gibt? – Doch zurück noch einmal zu meinen Abonnenten überhaupt: Keiner der Menschen, die ihre Unterschrift mit unter meinen offenen Brief setzen ließen, gehörte ausschließlich zu meinen YouTube-Abonnenten, sondern sie alle ohne Ausnahme waren solche, die meine aufklärerische Arbeit und Philosophie über meine YouTube-Videos hinaus kennen, schätzen oder gar unterstützen, etwa durch meine Volkshochschulkurse oder meine Schul-AGs. Dies war für mich keine Überraschung: Auch meine Volkshochschulkurse bewerbe ich auf YouTube, aber in aller Regel meldet sich keiner meiner Abonnenten zu ihnen an. Und nicht nur blieb mein Kanal klein und unbeachtet, solange ich bloß Aufklärungs-Videos veröffentlichte, und wächst erst, seit ich meine Kant-Vorträge dort halte, meine Aufklärungs-Vorträge werden auch weiterhin so gut wie gar nicht geschaut, was also bedeutet, dass die neuen Abonnenten größtenteils nur an Kant Interesse haben, nicht an der Aufklärung als einer Haltung. Dies beweist freilich, dass viele, die meine Kant-Vorträge schauen, auch an Kant kein echtes Interesse haben können, denn Kant ist ja Aufklärer und meine Vorträge über Kant sollen ja gerade herausarbeiten, was man an ihm für die eigene Aufklärung lernen kann, wer aber an Aufklärung nicht interessiert ist, der kann sich unmöglich wahrhaft für Kant interessieren, sein Interesse, das ihn vielleicht meine Vorträge anklicken oder meinen Kanal abonnieren lässt, kann dann bestenfalls ein bildungsphiliströses Pseudointeresse sein, das mehr dem großen Namen Kant als der eigentlichen Sache gilt. Auch viele Kommentare, die ich erhalte, unter denen von einigen gehaltvollen und einigen aufrecht dankbaren abgesehen manch ausgeklärte Besserwisserei und manches zusammenhanglose Geschwurbel sich findet, ganz zu geschweigen von jenen, deren Verfasser von irgendeinem Wort (etwa zum Klima) getriggert wurden, passen in dieses Bild. Ich muss urteilen, dass die meisten meiner neuen Abonnenten, die ich im Verlaufe eines Jahres dazu gewann, keinen Sinn dafür haben, wer ich bin, dass sie da nämlich einen Philosophen abonniert haben und dass es auf diesem YouTube-Kanal um Aufklärung geht. (Wer sich zurecht nicht angesprochen fühlt, der ist es auch nicht – denn ich habe auch schon sehr schätzenswerte Kommentare und ausgesprochen großzügige Unterstützung erhalten und bin hierfür tief dankbar.) So ergibt sich denn eine, sich eben auch in dem fehlenden Interesse an meinem offenen Brief und den darin vertretenen Grundsätzen spiegelnde, merkwürdige Kluft zwischen mir und dem vermutlich größeren Teil meines Publikums, merkwürdig, weil sie in dieser Art und Tiefe selten, vielleicht einmalig sein dürfte auf YouTube: Zwar sind keine zwei Menschen und sind somit auch gewiss kein YouTuber und seine Zuschauer in ausnahmslos allem einig, aber es darf doch davon ausgegangen werden, dass die durchschnittlichen Abonnenten eines rechten Volksverhetzers oder eines linken oder eines fundamentalistischen Kanals etc. mit dessen Betreiber ungefähr auf einer Wellenlänge, dass sie sich einigermaßen bewusst sind, wo dieser steht, und dass sie ungefähr am selben Orte stehen. (Kurioserweise scheint diese Kluft zwischen mir und meinem Publikum vor allem in Deutschland zu bestehen. Mein englischsprachiger Kanal hat zwar noch zu wenige Abonnenten und erhält zu wenige Kommentare, als dass es repräsentativ sein und ein bestimmendes Urteil erlauben würde, aber mir fällt doch auf, dass sich hier bereits einige treue und ausdauernde Hörer meiner Vorträge gefunden haben, deren Kommentare mehr Substanz haben und mehr Verständnis für die Sache oder wenigstens aufrechtes Interesse beweisen als viele der mich erreichenden deutschen Kommentare; dass dies Deutschland wenig zur Ehre gereicht und meine Vorurteile gegen meine Nation bestätigt, versteht sich von selbst.) Dieser Zustand kann mich freilich nicht überraschen, das Gegenteil würde es vielmehr, denn anders als andere Kanäle vertrete ich eben nicht irgendeine oberflächliche, wohlbekannte Ideologie, sodass sich leicht Zuschauerscharen finden könnten, die die in meinen Videos vertretenen Positionen bereits teilen und sogleich beklatschen, sondern was ich tue, ist durch und durch radikal und neu und daher vor der Hand notwendig durch und durch unverständlich, es kann nur mit der Zeit und nur Stück für Stück sich aufhellen. Mögen also die Menschen ruhig aus den falschen Gründen zu mir finden, wenn sie nur mittel- und langfristig aus den rechten Gründen bleiben. Mir ist zwar jede Täuschung und Unaufrichtigkeit fremd, weshalb ich etwa von reißerischen Thumbnails oder Clickbait-Titeln lasse, aber wenn meine Kant-Videos ohne meinen Vorsatz als trojanische Pferde fungieren, wenn sie unvermerkt den einen oder anderen ein Stück weit aufklären sollten, der sie zunächst nur aus bildungsphiliströsen Vorurteilen anklickt, so soll es mir recht sein.
1 Macht macht Recht
2 Art. 21 Abs. 2 GG.
3 Wer sein Land rettet, der verletzt kein Gesetz
4 Mt 7,1-5.
5 Joh 8,8.
6 Mk 2,17.
7 Mt 7,16-23.
8 1 Kor 13,1 ff.