Der Schein-Egoismus — Die Allermeisten, was sie auch immer von ihrem „Egoismus“ denken und sagen mögen, thun trotzdem ihr Lebenlang Nichts für ihr ego, sondern nur für das Phantom von ego, welches sich in den Köpfen ihrer Umgebung über sie gebildet und sich ihnen mitgetheilt hat, — in Folge dessen leben sie Alle zusammen in einem Nebel von unpersönlichen, halbpersönlichen Meinungen und willkürlichen, gleichsam dichterischen Werthschätzungen, Einer immer im Kopfe des Andern, und dieser Kopf wieder in anderen Köpfen: eine wunderliche Welt der Phantasmen, welche sich dabei einen so nüchternen Anschein zu geben weiss! Dieser Nebel von Meinungen und Gewöhnungen wächst und lebt fast unabhängig von den Menschen, die er einhüllt; in ihm liegt die ungeheure Wirkung allgemeiner Urtheile über „den Menschen“ — alle diese sich selber unbekannten Menschen glauben an das blutlose Abstractum „Mensch“, das heisst, an eine Fiction; und jede Veränderung, die mit diesem Abstractum vorgenommen wird, durch die Urtheile einzelner Mächtiger (wie Fürsten und Philosophen), wirkt ausserordentlich und in unvernünftigem Maasse auf die grosse Mehrzahl, — Alles aus dem Grunde, dass jeder Einzelne in dieser Mehrzahl kein wirkliches, ihm zugängliches und von ihm ergründetes ego der allgemeinen blassen Fiction entgegenzustellen und sie damit zu vernichten vermag.

 

Friedrich Wilhelm Nietzsche: Morgenröte. Zweites Buch. 105.