Vergleichen wir diese drei angeblichen Ziele des Gymnasiums mit der Wirklichkeit, die wir in Betreff des deutschen Unterrichtes beobachteten, <so erkennen wir,> was diese Ziele zumeist im gewöhnlichen Gebrauche sind, Verlegenheitsausflüchte, für den Kampf und Krieg erdacht und wirklich auch zur Betäubung des Gegner’s oft genug geeignet. Denn wir vermochten am deutschen Unterricht nichts zu erkennen, was irgendwie an das klassisch-antike Vorbild, an die antike Großartigkeit der sprachlichen Erziehung erinnerte: die formale Bildung aber, die durch den besagten deutschen Unterricht erreicht wird, erwies sich als das absolute Belieben der „freien Persönlichkeit“ d.h. als Barbarei und Anarchie; und was die Heranbildung zur Wissenschaft als Folge jenes Unterrichtes betrifft, so werden unsre Germanisten mit Billigkeit abzuschätzen haben, wie wenig zur Blüthe ihrer Wissenschaft gerade jene gelehrtenhaften Anfänge auf dem Gymnasium, wie viel die Persönlichkeit einzelner Universitätslehrer beigetragen hat. — In Summa: das Gymnasium versäumt bis jetzt das allererste und nächste Objekt, an dem die wahre Bildung beginnt, die Muttersprache: damit aber fehlt ihm der natürliche fruchtbare Boden für alle weiteren Bildungsbemühungen. Denn erst auf Grund einer strengen künstlerisch sorgfältigen sprachlichen Zucht und Sitte erstarkt das richtige Gefühl für die Größe unserer Klassiker, deren Anerkennung von Seiten des Gymnasiums bis jetzt fast nur auf zweifelhaften ästhetisirenden Liebhabereien einzelner Lehrer oder auf der rein stofflichen Wirkung gewisser Tragödien und Romane ruht: man muß aber selbst aus Erfahrung wissen, wie schwer die Sprache ist, man muß nach langem Suchen und Ringen auf die Bahn gelangen, auf der unsre großen Dichter schritten, um nachzufühlen, wie leicht und schön sie auf ihr schritten und wie ungelenk oder gespreizt die Andern hinter ihnen dreinfolgen.
Friedrich Wilhelm Nietzsche: Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten. Vortrag II.