Schlimm steht es um das Sprachvermögen und das Denken der Menschen, denen man dieses Wort erklären muss, besagt es doch selbst, was es meint: Selbstbewusst ist, wer sich seiner selbst bewusst ist. Wen der gemeine Sprachgebrauch selbstbewusst nennt, der ist meist höchst selbstunbewusst, der geht mit blindem Eigendünkel durchs Leben, der handelt, ohne viel nachzudenken und der verschwendet auch keinen Gedanken daran, wer er selbst, welches sein Wert und sein Beruf ist und was er kann und was nicht. Offenbar macht man die Bedeutung des Wortes allein an seinem ersten Bestandteil fest, am Selbst; Bewusstsein scheint dem gemeinen Sprecher des Deutschen – und wie die Menschen das ihre zu gebrauchen oder vielmehr zu missbrauchen pflegen, spricht dafür – ein Bollwerk gegen die Außenwelt zu sein, dass Bewusstsein ein Reflektieren bedeutet, davon weiß man nichts, selbstbewusst soll gerade der von allem jenseits seines Selbst unberührbare sein. Wie nur kann man gerade die Blindheit mit dem Namen des Sehens belegen?

Höchst kurios fand ich schon immer, seit ich überhaupt darauf reflektierte, dass im Deutschen und im Englischen das Wort Selbstbewusstsein gleichermaßen, aber dabei auf ganz unterschiedliche, ja entgegengesetzte Weise falsch gebraucht wird. Was der gemeine Deutsche selbstbewusst nennt, würde der Sprecher des Englischen nicht so, sondern vielmehr als (self-)confident bezeichnen, was wörtlich eher an sich selbst glaubend, weniger wörtlich sich selbst vertrauend hieße. Self-conscious hingegen, was ganz wörtlich selbstbewusst bedeutet, ist gerade nicht der, den der Deutsche als selbstbewusst bezeichnen würde, sondern dessen Gegenteil: ein besonders Unsicherer, Befangener und Verschüchterter. (Dem Angelsachsen scheint Selbstbewusstsein also nur zu bedeuten, dass jemand sich seiner Mängel und seines Ungenügens, in anderen Worten: seiner Kleinheit und Beschränktheit bewusst ist. Dies ist von einem bestimmten Standpunkt aus durchaus treffend: Das empirische Ich ist klein und mangelhaft, es steht einer um ein Unendliches größeren und gewaltigeren Welt gegenüber und ist dieser hilflos ausgeliefert; Ursache zur confidence, also zum Selbstbewusstsein im Sinne des gemeinen Deutschen, hat es eigentlich nur, wenn es sich seiner gerade nicht bewusst wird, umso mehr sein Bewusstsein seiner selbst hingegen zunimmt, umso mehr muss es sich ängstlich zusammenkauern und jede Tat fürchten. Nun ist der Standpunkt, von dem aus dieses gilt, selbst ein sehr beschränkter – um davon zu schweigen, dass er zugleich ein widersprüchlicher ist, denn damit sich das Ich in seiner Kleinheit erkennen kann, muss es zugleich doch groß genug sein, die ganze Welt zu umfassen und sich mit ihr zu vergleichen. Aber es ist der Standpunkt des unaufgeklärten empirischen Menschen, der sich zu einem höheren Ich nie erhoben hat. Und über diesen Standpunkt ist das angelsächsische Denken nie hinausgekommen – man bedenke, dass man es hier mit einem Volk zu tun hat, das es nicht notwendig für etwas sehr Übles und Verwerfliches hält, thoughtless, d. i. gedankenlos zu sein, sondern das hierin einen im Grunde recht erstrebenswerten Zustand, nämlich Sorglosigkeit oder Unbekümmertheit sieht: dem Gedanken also Sorgen und Kümmernisse sind.)

Selbstbewusstsein ist ein philosophischer Fachbegriff; der gemeine Mensch, der nie danach gefragt hat, was eigentlich Bewusstsein ist, und der übrigens ein Selbstbewusstsein im echten Sinne auch nicht hat, sollte dieses Wort am besten gar nicht gebrauchen und hat auch im Alltag niemals Ursache, dies zu tun. Dafür aber, es falsch zu gebrauchen, wie dies gewöhnlich geschieht, gibt es keinerlei Entschuldigung, denn anders als im Fall manch anderen philosophischen Fachbegriffes ist dieser kein Fremdwort, auch kein seinen Ursprung nicht sogleich offenbarendes, sondern ein seine Bedeutung im Namen tragendes Wort: Wer es falsch gebraucht, erweist sich als Sprachpositivist [siehe unter Positiv(ismus)], der Wörter nicht nach ihrem Sinn befragt, sondern gerade so benutzt, wie sie ihm eben unterkommen, und er erweist sich damit als gedankenlos – versteht sich, im unzweideutigen deutschen Sinne.

Und sollte jemand fragen, welches Wort er denn stattdessen nehmen solle, um jene zu bezeichnen, die er bisher selbstbewusst genannt hat: Die deutsche Sprache gibt dir eine genügende Auswahl für alle denkbaren Situationen: selbstsicher etwa, dünkelhaft, anmaßend, selbstgewiss, selbstvertrauend… Ich selbst würde als neues und in vielen Fällen treffendes Wort vorschlagen: selbstblind.