Ein ehemaliger Klassenkamerad meiner war neben anderem bestimmt durch sein cholerisches Temperament und neigte zu Ausbrüchen des Ärgers. Dies hatte er sich von seinem Vater abgeschaut, mit dem er sich auch einmal bis zur handgreiflichen Schlägerei streiten sollte.

Jener junge Mann lebte in einem Hochhaus, worin es einen Fahrstuhl gab. Nun traf es sich einmal, dass er, bereits ärgerlich nach einem Streit mit seiner Freundin, heimkehrte und ein Nachbar gerade in den Fahrstuhl gestiegen war und auf den Knopf gedrückt hatte, um nach oben zu fahren. Mein ehemaliger Klassenkamerad konnte, auch wenn er sich beeilte, nur noch zusehen, wie die Fahrstuhltür sich vor ihm schloss. Hierüber geriet er in solche Erregung, dass er in seinem Ärger mit voller Wucht gegen die schwere Metalltür trat.

Die übrige Geschichte in ihren unerfreulichen Details ist rasch erzählt: Sie zog sich noch viele Monate oder länger hin, beinhaltete mehrere Arztbesuche und einigs Gehumpel hatte zum Gegenstand, wie der Nagel am großen Zeh sich erst blau verfärbte, sodann abfiel und beim Nachwachsen in das Fleisch hineinwuchs und wie besagter Zeh manche Schmerzen und Umstände bereitete. Ich kann nicht sagen, inwiefern vielleicht noch heute Spuren und Beschwerden bleiben.

An diesen schlichten Fall lassen sich mehrere Bemerkungen und Überlegungen anknüpfen und ich will bei dieser Gelegenheit über die Zeit, den Ärger, die Freiheit und die Achtung sprechen.

Die Zeit ist unendlich, aber der Mensch ist befähigt, sie beliebig zu zerteilen – in Jahre, Tage, Stunden, Augenblicke – und zu begrenzen. Hierin liegt Freiheit und großer Nutzen. Was wollten wir mit einer unbegrenzten Zeit anfangen? Es könnte ebenso gut gar keine Zeit sein. Erst dass wir sie begrenzen können, erlaubt uns, in ihr frei zu agieren, ihre einzelnen Teile nach unserem Willen zu füllen. Aber es liegt auch stets Gefahr darin, dass wir mit unserer Endlichkeit dem Unendlichen begegnen. Wenn wahr ist, was der Koran spricht: „Wir fordern von jeder Seele, was sie vermag“¹, nichts aber darüber, so folgt daraus auch, dass Gott keiner Seele weniger Zeit gibt, als sie bedarf. Da aber doch die Seele sich sehr wohl selbst zu viel auferlegen kann, so ist es sehr wohl möglich, dass sie sich selbst zu wenig Zeit gönnt. Sich Zeit (und Raum) gönnen, ist aber die Basis aller Aufklärung, es ist die Selbstachtung selbst und macht Freiheit, Besonnenheit, frohen Mut, offenen Blick, Heiterkeit, Milde, klares Denken, saubere Empfindungen, kurz all das, wodurch der Aufgeklärte sich auszeichnet, erst möglich. Wer sich Zeit gönnt, kann warten. Wer sich hingegen keine gönnt, der setzt sich unter Stress und schafft sich Verdruss. Wichtig hierbei ist, dass der Zeitmangel nicht realiter vorhanden, sondern eine Haltung, ein Gefühl ist – wodurch ein realer Zeitmangel erst zustandekommt. Der Mensch ist hier Täter und nicht Opfer, so sehr er sich als letzteres fühlen mag, oder – was dasselbe ist – wahr ist der Idealismus und nicht der Materialismus. Dies zeigt sich gerade daran, dass der Zeitmangel der Menschen, die einen solchen eben leben und sich keine Zeit gönnen, nicht in großen Dingen zutage tritt – es ist nicht etwa so, dass man keine Zeit hätte, sagen wir, die gesammelten Werke Fichtes zu studieren, weil man mit Erwerb, Kindern und einem Ehrenamt sich seine Zeit so ausgefüllt hat –, sondern dass er sich zeigt in den erbärmlichsten und kleinsten Banalitäten: So beispielsweise bei einem Fahrstuhl, den man erwischen muss, weil – ja, weshalb denn? Tickte droben in der Wohnung eine Bombe, die es noch binnen einer Minute zu entschärfen galt? Lag auf der Straße ein Mensch nach einem giftigen Schlangenbiss im Sterben und die einzige Medizin im Umkreis befand sich dort oben? Was war so dringend, dass mein vormaliger Schulkamerad nicht die ein oder zwei Minuten warten konnte, bis der Fahrstuhl wieder drunten bei ihm wäre? Was dringend ist, das dringt und drängt uns – es war hier aber nur er selbst, der sich drängte; er kam eben heim, und es lag an sich nichts daran, eine Minute früher oder später in der Wohnung anzukommen. Wer sich Zeit gönnt, erwirbt sich dadurch das kardinale Gefühl der Aufklärung: den Gleichmut, die Gelassenheit, die Geduld, die jede Religion lehrt und um die kaum ein Gläubiger sich schert. Ein solcher wird es ertragen, einmal zwei Minuten zu vertun – ja er wird sie gar nicht erst, wie es die Eiligen und Gestressten tun, die nie gegenwärtig, sondern immer innerlich schon beim nächsten und übernächsten Vorhaben sind, zu dessen Sklaven sie sich gemacht haben, als vertan betrachten. Es gibt doch schließlich so vieles, womit die leere Zeit sich anfüllen lässt! In den zwei Minuten, da ich auf den Fahrstuhl warte, kann ich mein Smartphone checken, was ich oben angekommen vielleicht sowieso getan hätte und was doch hier unten ebenso gut geht, ich kann zum Fenster herausschauen auf die Straße oder auf den schönen Baum vor meiner Tür, kann in mich gehen und mich sammeln, kann beten, meditieren, ein Liedchen trällern, kann, was der besagte junge Mann freilich im Leben nie getan hat, einen Gedanken denken und kann vieles mehr, selbst bloß ruhen, ohne noch etwas weiteres tun zu müssen. Wer hingegen sich keine Zeit gönnt – das ist eine der Ironien des Lebens – gerade der wird sie verlieren. Ich sagte es oben: Realiter besteht in Fällen wie dem berichteten kein Zeitmangel, denn was ist eine Minute oder zwei?, aber dadurch dass wir solchen empfinden, schaffen wir ihn als Realität: Mein Bekannter hat sich, wie ich erzählte, noch lange herumschlagen müssen mit dem, was er sich in diesem Moment geschaffen hatte, und ich wähne, all die Arztbesuche werden ihn weit mehr Zeit gekostet haben als ein verpasster Fahrstuhl, sodass die Zeitbilanz selbst dann eine schlechte gewesen wäre, wenn er diesen durch seinen Tritt hätte zurückholen und so immerhin ein oder zwei Minuten einsparen können. Und so sieht man denn immer wieder zur Wirklichkeit werden, was die Leute nur empfinden und sich einreden: dass sie keine Zeit hätten. Die gestresstesten Menschen sind oft wirklich die, die die wenigste Zeit, die die meisten Dinge zu erledigen haben, aber sieht man nur hin, so sieht man, dass sie sich die meisten dieser kleinen und großen Aufgaben und Zeitfresser erst selbst aufgehalst haben, indem sie sich keine Zeit gönnten und diese entweder zu sparen suchten oder sich über ihren vermeinten Verlust ärgerten, was beides sehr, sehr viel Zeit kostet. Es kommt hier also, wie überall, wo den Menschen ihr Materialismus ausgetrieben und der Idealismus gelehrt werden soll, alles darauf an, dass man Ursache und Bewirktes richtig herum auffasse und nicht falsch herum, wie es die gemeine unaufgeklärte Ansicht tut.

Daraus, dass man sich Zeit und Raum nicht gönnt, daraus eben folgt der Ärger. Denn man fühlt sich nun eingeschränkt und bedrängt, man fühlt, wenn man sich den unendlichen Raum oder die unendliche Zeit klein macht, eine Wand, die auf einen eindrückt. Wie man auf dieses Stoßen gegen die Wand reagiert, das nun hat man nicht in seiner eigenen Gewalt, es liegt im Temperament begründet, ist also mehr Sache von Natur und Kultur: der eine, der zur Melancholie neigt, prallt von der Wand ab, sackt vor ihr in sich zusammen und fängt das Wehklagen und Jammern an, der andre ist mehr cholerisch und tritt eben auf die Wand ein. Hilflos aber sind sie beide im Angesicht der Enge, die sie sich selbst geschaffen haben. Freilich, es ist gewöhnlich, ob melancholisch, ob cholerisch, nicht die einzelne Situation allein, die eine solche Überreaktion hervorruft: Vergessen wir nicht, dass mein Bekannter sich an jenem Tage bereits geärgert, dass er sich mit seiner Freundin gestritten hatte, und gewissermaßen trat er ebenso sehr wie die Fahrstuhltür oder mehr noch als diese seine Freundin und vielleicht hundert andere Dinge und Menschen. Denn es fehlt dem Unaufgeklärten ja immer die Gegenwärtigkeit: Nie nimmt er einen Augenblick für sich an, unabhängig von allem Vorherigen und Folgenden, stets ist er im Geiste und mehr noch mit seinem Fühlen bei längst Verstrichenem, das er nicht abhaken und von dem er sich nicht lösen, oder bei noch Kommendem, das er nicht ruhig erwarten kann. Der jähzornigste Mensch, der sich scheinbar über die belanglosesten Kleinigkeiten aufregt, regt sich doch diesem Scheine zum Trotze gewöhnlich nicht über diese auf. Manches ist ja so nichtig, es kann sich schlechterdings niemand darüber aufregen. Diese Kleinigkeiten sind nur gleichsam der berühmte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. Oft ist einem solchen Menschen nicht bewusst, was er noch an Ballast mit sich herumträgt, oft ist es nicht einmal ein Streit, der immerhin am selben Tage stattfand, sondern vielleicht eine viele Jahre zurückliegende Kränkung oder Hilflosigkeit, die dem Bewusstsein längst vergessen ist, unbewusst aber noch immer festgehalten wird und im Innern brodelt. Und oft genug wird der gegenwärtige Moment überdeterminiert: wird unbewusst allerhand in ihn hineingelegt, das mit ihm gar nichts zu tun hat, sodass dann unbewusst der, der mir heute widerspricht, mir zugleich meine Exfrau ist, die mich verlassen hat, oder der Lehrer, der mich in der fünften Klasse einmal runtergemacht hat, obwohl er mit diesen Menschen gar nichts zu tun hat und die Situation eine gänzlich andere ist. – Vom Ärger lässt sich an diesem Beispiele, nachdem sein Ursprung beleuchtet wurde, nun gut zeigen, dass er uns nichts einbringt, vielmehr schadet. Es wäre ein geringer Gewinn, dafür, dass man sich den Zeh ruiniert hat, zwei Minuten Wartezeit auf den Fahrstuhl eingespart zu haben. Aber nicht einmal diesen Gewinn hatte mein vormaliger Klassenkamerad hier oder konnte ihn auch nur haben – was, so müsste man ihn fragen, war der Zweck deiner Handlung, was dein Plan, was hofftest du durch das Treten wider die Fahrstuhltüre zu erreichen? Denn selbst einmal angenommen, er hätte sich dabei den Zeh nicht verletzt, ja selbst angenommen, er hätte die schwere Tür kaputttreten können, was hätte es ihm eingebracht? Den Fahrstuhl hätte es nicht zurückgeholt, das bestmögliche Szenario war also eines, in dem er sich bloß nicht verletzt hätte, d. h. das beste mögliche Ergebnis seiner Tat war nur das Ausbleiben eines schlechten Ergebnisses – was doch durchs Nichtstun sicherer hätte erreicht werden können –, wohingegen viele schlechte Ergebnisse denkbar waren, selbst wenn es nicht ganz so arg gekommen wäre, wie es kam, und er sich bloß etwas Schmerz verursacht hätte. Die Handlung war also zwecklos und damit unvernünftig. Und freilich, wie der Leser sogleich bemerkt haben sollte: die aufgeworfene Frage ist ganz verkehrt, sie impliziert, dass mit Zweck überhaupt gehandelt, dass irgendeine Absicht verfolgt wurde, obwohl doch die Tat kein Ziel, sondern nur einen Ausgang hatte, nämlich den hilflosen Ärger, der den Fuß wider die Tür schießen ließ: die Frage impliziert ein finales Handeln, wo nur ein effizientes vorlag. Nur das zweckgerichtete Handeln ist vernünftig, ich empfehle daher stets allen Menschen, sich vor jeder noch so kleinen Handlung die Frage zu stellen: Was will ich mit dieser Handlung erreichen, was soll im besten Falle daraus erfolgen? Und nur dann sollte man die Handlung ausführen, wenn man ein solches Ziel benennen und mit einiger Wahrscheinlichkeit davon ausgehen kann, dass es durch die fragliche Handlung eher erreicht werden wird als durch eine andere mögliche Handlung. Warum putze ich mir die Zähne? Um sie sauber zu halten und nicht löchrig werden zu lassen. Warum trete ich die Fahrstuhltüre? Um – ja, um nichts, sondern vielmehr weil: weil ich sauer bin. Die meisten Menschen aber legen sich diese simple Frage vor den allermeisten ihrer Handlungen niemals vor, ja oft können sie sie sich nicht vorlegen, weil sie viel zu sehr im Moment und der momentanen Erregung befangen und von irgendeinem Affekte wie eben dem Ärger beherrscht sind: sie können dann nicht denken und also auch nicht wollen und planen, sondern sie werden gewollt, werden bestimmt, es sind nicht sie, die handeln, es ist ihr Affekt: Sie sind in diesem Augenblicke nicht vernünftig und also im eigentlichen Sinne keine Menschen, sondern Tiere.

Dies bringt mich auf die Freiheit. Wer sich ärgert, der ist im doppelten Sinne unfrei. Denn der Ärger ist einmal aus der Unfreiheit geboren: aus dem Mangel von Zeit (oder Raum), aus dem Stoßen wider eine selbsterrichtete Wand. Er benimmt uns aber auch unsrer Freiheit, denn im Ärger sind nicht wir es, die handeln, es ist eben der Ärger, der durch uns hindurch handelt. Wir handeln nicht um eines Zieles willen, sondern aus einer Ursache heraus. Was aber von einer Ursache kausal bestimmt, was bloß Bewirktes ist, ist nicht frei: frei ist nur, sich selbst zu bestimmen und ein Ziel zu setzen. Die causa efficiens² bedeutet Unfreiheit, nur die causa finalis³ ist ein Freiheitsgrund.⁴ Es herrschen freilich gewöhnlich ganz verkehrte und oberflächliche Begriffe von Freiheit: frei sei demnach jede Tat, die nicht durch eine äußere Macht erzwungen wurde. Niemand hat meinem Klassenkameraden eine Pistole an den Kopf gehalten und ihm wider die Tür zu treten befohlen, könnte jemand sagen, also lag dieser Tritt in seiner Freiheit. Aber ist denn der Zwang durch eine Macht in uns freier als der durch eine Macht außer uns? Es war eben nicht er, der gegen die Tür treten wollte, es war der Ärger, der ihn dazu trieb, blindlings zuzutreten. Er kommt in dieser ganzen Szene gar nicht in Betracht, er existierte in diesem Moment nicht, denn was den Menschen, was ein Ich auszeichnet, ist Bewusstsein, ist Vernunft, ist Wille, und wo kein Bewusstsein ist, da ist kein Mensch, da hat sich die Schlacke, die rohe tierische Natur noch nicht zur Ichheit erhoben. Freilich, für uns andere – für den Beobachter, wenn jemand danebenstünde, mit Bewusstsein den ärgerlichen Tritt auffasste und die Vergeblichkeit und Unvernunft darin erkennte, für einen solchen ist hier ein Mensch, ist hier ein Ich vorhanden. Für diesen Menschen selbst ist er selbst aber nicht vorhanden in jenem Augenblick, sein Bewusstsein ruht in dumpfem Schlafe, ein blinder Reflex steuert ihn und erst hinterher mag der Schmerz ihn aufwecken und mag er mit einigem Bewusstsein an den Folgen dieser Tat leiden – aber ebenso wie er an den Folgen einer fremden Tat leiden könnte, etwa daran, dass ein anderer ihm mit einer Eisenstange auf den Zeh geschlagen hätte. Die Freiheit des Cholerikers, der sich den Zeh kaputttritt, ist dieselbe wie die des Drogenabhängigen, der sich den nächsten Drogenschuss verpasst: Nein, es zwingt sie keine äußere Macht, sie tun, was sie wollen – aber sie können nicht wollen, was sie wollen, es ist da ein innerer Zwang, der sie treibt, und sie selbst müssten vielleicht in einem nüchterneren Moment zugeben, dass sie in jenem Augenblicke nicht mit Überlegung gehandelt und nicht ein echtes Gut gewählt, sondern sich nur einer Leidenschaft oder einer Sucht hingegeben haben.

Nur was frei ist, ist achtbar. Umgekehrt bedeutet Achtung nichts anderes, als die Freiheit des Geachteten zu achten und ihm zu lassen. Es fehlt also einem Menschen wie meinem alten Klassenkameraden an Selbstachtung: Er kann sich nicht achten, denn daran, ein Triebbündel und Sklave seiner Affekte zu sein, ist nichts achtbar, und er achtet sich nicht und macht sich eben darob zu einem solchen Sklaven. – Mangel an Selbstachtung bedeutet stets auch Selbstentfremdung. Mein Bekannter legte recht offen Zeugnis von dieser ab, wie es oft geschieht: Ich erinnere mich, wie ich ein gutes Jahr nach dem beschriebenen Vorfall einmal zusammen mit seiner Freundin bei ihm daheim war, er auf seinem Bette kauerte und uns beide in wimmerndem Babytone volljammerte: „Ich hasse meinen Körper!“, weil er irgendein Wehwehchen hatte, er wolle nicht ständig krank sein – wobei er seine üble Laune an besagter Freundin und seiner Mutter ausließ, weil ja die Missachtung seiner selbst und die Missachtung anderer stets Hand in Hand gehen. Dies ist Selbstentfremdung, sage ich, denn hier sprach dieser Mensch, als wäre sein Körper etwas von ihm Unabhängiges: Als wäre da ein Ich, eine Seele, eine Essenz seines Wesens und der Körper ein diesem Fremdes, worin es nur gesperrt und wovon es nun abhängig wäre und gequält würde. Dieser unwillkürliche Akt von Gnostizismus (der, im Vorbeigehen, vielleicht auch Aufschluss darüber gibt, wie sich der historische Gnostizismus und verwandte Vorstellungen unaufgeklärten Menschen aufgedrängt haben mögen) ist ein offenbarer Selbstbetrug: Der Mensch ist sein Körper, keinesweges ist er von diesem abgesondert. Die Selbstentfremdung ist aber Voraussetzung der Opferhaltung: Das Ich muss, um Opfer sein zu können, einen Teil seiner selbst von sich abspalten und zum Nicht-Ich erklären, dieser Teil wird dann als der Böse hingestellt, der das arme Ich so malträtiere, er ist der Täter, durch dessen Tun das Opfer erst Opfer sein kann. Nun war dieser Bursche nicht dazu verflucht, in einem ihn quälenden Körper zu leben, sondern er selbst machte sich kaputt: durch seine ungesunde Lebensweise, durch seinen Drogenkonsum, durch seine stets mangelnde Achtung und Umsicht, durch Handlungen wie den hier besprochenen Tritt gegen die Fahrstuhltür. Es ist gewiss, wäre es möglich, ihn magisch in einen anderen Körper zu versetzen, er würde bald auch diesen „hassen“ und sich auch als dessen Opfer fühlen, denn er würde es schaffen, jeden noch so gesunden Leib kaputtzumachen. Dies einzusehen, könnte jemandem wie ihm ein großer Segen sein: es würde ihm ja erlauben, nicht länger hilfloses Opfer zu sein, sondern sein Verhalten zu ändern, mehr Achtsamkeit an den Tag zu legen, schonender mit seinem Körper umzugehen und folglich nicht mehr so unter den Folgen seiner Selbstmissachtung leiden zu müssen. Aber doch können Menschen wie er sich diese Einsicht nicht erlauben, eben weil sie das Opfertum beenden würde: Sie würde die Selbstgerechtigkeit zerstören, es wäre die Einsicht in die eigene Freiheit und darein, dass es eben die eigenen Lebensentscheidungen und die eigene Haltung, nicht ein Fremdes und Äußeres, sind, die ihm solchen Verdruss schaffen. Was aber ist solche Selbstentfremdung wiederum andres als Selbstmissachtung? Es bedeutet ja im wortwörtlichen Sinne, dass hier einer nicht auf sich achtet: dass er nicht hinschaut, was er tut, dass er so verkehrt, so flüchtig, so fälschend blickt, dass ihm die eigenen Taten wie fremde erscheinen, wobei eben dies wiederum verhütet, dass er sie je als eigene Taten tun, dass er je frei sein kann.

Und so schließt sich hier der Kreis dieser Betrachtung: Dass der junge Mann sich keine Zeit gönnt und sich selbst Wände errichtet, das lässt seinen Ärger entstehen. Dieser Ärger nimmt ihm jede Freiheit. Und als ein unfreies Opfer kann er sich unmöglich achten. Aber diese fehlende Selbstachtung ist selber nichts anderes als: Sich keine Zeit gönnen, sich dem Affekt des Ärgers unterwerfen, sich die Freiheit nehmen.

Auch ein Letztes ist hier, wie so oft, bewiesen: Dass Aufklärung und nur Aufklärung Seligkeit bedeutet. Der Unaufgeklärte macht sich beständig unselig. Auch hier ist einmal mehr zu erinnern, dass der Mensch stets nur Täter, dass er im Schlechten und auch im Guten nicht Opfer ist: Sein Glück wird er in äußeren Gegenständen nicht finden. Man kann dies nicht oft genug sagen in einem materialistischen Zeitalter wie dem unseren. Ich selbst sehe mich von Jungen umgeben, die von nichts träumen als viel Geld, dicken Autos, Modelfrauen, Reisen nach Dubai oder plastischen Operationen. All die letztgenannten Dinge kann man mit dem ersten, dem Geld, spielend erwerben. Dass man sich aber mehr Zeit gönnt, dass man sich weniger ärgert und dass man sich im Ärger nicht den Fuß kaputttritt, das macht kein Geld der Welt, es mag einem auch hinterher immerhin den Arzt bezahlen. Anlässe zum Ärgern und Möglichkeiten sich selbst zu schädigen findet der Mensch, der es nur will, er sei besitzlos oder besitzend, angesehen oder unbekannt, Tag für Tag. Der Aufgeklärte allein hat Gleichmut und Seligkeit, die nur ein gottselig-vernünftiges Leben und Wesen bringen können. „Wenn ihr geduldig seid, dann ist es besser für die Geduldigen. Und sei geduldig! Deine Geduld kommt von Gott nur.“⁵

1 Koran 23:62.

2 Wirkursache

3 Zielursache

4 Irdisch und aus Sicht des alltäglichen und natürlichen Bewusstseins gesprochen. Dies hindert nicht, dass einer höheren philosophischen Ansicht – die an diesen Ort nicht gehört und die ich nur erwähne, um vor Wissenderen nicht zu scheinen, als wäre ich nicht in ihrem Besitze, und um andererseits das tiefere Nachdenken und weitere Forschen bei den Unwissenderen anzuregen – das gerade Gegenteil die Wahrheit ist.

5 Koran 16:126 f.