Vernünftig sein, selbst denken, das ist nicht wildes Rumphantasieren und blindes Meinen, dem die Grundlagen fehlen, und Der hat noch nicht selbst gedacht, dessen Meinung ihm nicht unmittelbar von einem anderen Menschen diktiert, sondern von seiner Neigung eingegeben wurde. Sondern Vernunft ist das Vermögen der Prinzipien, und vernünftig und selbstständig denkt derjenige, der nach Grundsätzen, die er sich selbst gegeben und deren Richtigkeit er selbst eingesehen hat, verfährt.
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Die Neigung vieler Unaufgeklärter, unsauber und vorschnell zuzuhören, einen stets sogleich auf, doch in Wirklichkeit nie getätigte, absolute Aussagen festzunageln, Beispiele zu missbrauchen und nicht zuletzt sich mit Nebensächlichem zu beschäftigen, um darüber das Eigentliche übergehen zu können, lässt es mir geraten erscheinen, diesem Vortrage eine Klarstellung beizugeben:

Von den vier in der ersten Hälfte besprochenen Beispielen habe ich nur das erste, das Wahlrecht, mit einer gewissen Ausführlichkeit behandelt, während ich meine Rede danach deutlich knapper gehalten habe. Nirgends habe ich alle möglichen Grundsätze erschöpft. Und mir ist wichtig, zu betonen, dass die Vernunft nicht in jedem Falle fordert: alles oder nichts. So muss man nicht zwingend verlangen, alle Drogen zu verbieten oder alle Drogen zu erlauben, man könnte beispielsweise auch dafür eintreten, sie nur zu medizinischen Zwecken zu erlauben. Ebenso müsste nicht zwangsläufig das Leugnen sämtlicher Völkermorde entweder legal oder illegal sein: es ließe sich ebenso bemerken, dass die einen bloße Greueltaten sind, die etwa im Rahmen eines Krieges stattfinden mögen und bei denen zwar vielleicht Tausende den Tod finden, die aber doch keinen generellen Angriff auf das Lebensrecht als solches darstellen, die also bei aller Schrecklichkeit der Qualität nach sich von Morden bzw. Massenmorden oder Massakern nicht unterscheiden und nur quantitativ von diesen abheben, während es andererseits Taten gibt, die eine Negierung des Rechts auf Leben nicht eines Einzelnen oder selbst Vieler, sondern schlechthin bedeuten, zu welchen Taten der Holocaust, nicht seines Umfangs und der Zahl seiner Opfer, sondern seines Wesens wegen, gehört – und man könnte fordern, dass die Leugnung von Taten der ersten Art unter die Meinungsfreiheit fallen sollte, während die Leugnung von Taten von der zweiten Gattung mehr als nur eine Meinungsäußerung und zu verbieten sei, insofern jenes Leugnen selbst wiederum das Lebensrecht angriffe; derart ließe sich rechtfertigen, dass der Völkermord an den Armeniern ungestraft geleugnet werden darf, der Holocaust hingegen nicht (es müsste indes nach diesem Prinzip wiederum auch die Leugnung des Klimawandels als des gewaltigsten je dagewesenen Angriffs auf das Lebensrecht verboten sein). Auf derlei kommt es hier nicht an, denn es war nicht mein Anliegen, alle möglichen Grundsätze zu beschreiben, die Menschen sich in dieser oder jener Angelegenheit zu den ihren wählen könnten, ebenso wie es mir erst recht nicht darum ging, in diesem Vortrag auszusprechen, welcher Grundsatz jeweils der richtige ist. Weitere Grundsätze erdenken und vor allem zwischen ihnen wählen, das mag ein jeder selbst tun. Mir ging es hier darum, das Prinzip des Denkens nach Grundsätzen als solches hochzuhalten und durch meine Beispiele lediglich zu illustrieren.