Wie wenig man heute von Aufklärung versteht, das zeigt sich darin, dass einem bei diesem Worte vielleicht selbstständiges und kritisches Denken einfallen mögen, vielleicht auch allerhand liebgewonnene Fetische der Moderne wie Humanismus, Toleranz, Demokratie, die doch mehr in den Begriff der Ausklärung als den der Aufklärung gehören – dass aber heute nie in diesem Zusammenhange das Wort Wahrheitsliebe fällt, obwohl diese doch für alle Aufklärung ganz zentral ist. Das Selbstdenken, auf das man so stolz ist, muss doch eine Befähigung sein, selbst denkend die Wahrheit zu finden; denn es wäre wertlos, wenn es ein blindes Herumtappen wäre, das nur Irrtum an Irrtum reihte. Es entspricht aber der Seichtigkeit unseres Zeitalters, dass die Menschen so gedankenlos und selbstverständlich davon ausgehen, selbst denken, d. h. zu richtigen Urteilen und wahren Erkenntnissen gelangen zu können. Die Wahrheit kann nur finden, wer sie auch zum Ziele hat. Wenn, wie ich in meinem vorigen Vortrag ausführte und wie die Wissenschaftslehre beweist, der Wille den Glauben bestimmt und der Mensch immer nur das sieht, was er sehen will, dann wird nur der die Wahrheit entdecken, der sie über alles andere setzt und redlich nach ihr strebt, wohingegen der, dem mehr an seiner Bequemlichkeit, an der guten Meinung von sich selbst, an seinem Gewinn oder anderem mehr gelegen ist, nicht die Wahrheit, sondern nur das sehen wird, was der Bequemlichkeit, der Selbstgerechtigkeit, der Gewinnsucht usf. dienlich ist.
Ich empfehle zum Thema Wahrheitsliebe zwei wunderbare, jeweils sehr kurze Texte Johann Gottlieb Fichtes:
Ueber die Wahrheitsliebe (In: Zwei Predigten aus dem Jahre 1791.).
Ueber Belebung und Erhöhung des reinen Interesse für Wahrheit.
Mir ist in diesem Vortrag ein kleiner, aber bedeutender Fehler unterlaufen: Es sind Seraphim, nicht Cherubim, die Jesaja erblickte.