„Türken sind nicht öko“, teilte mir der Vater eines meiner Schüler einmal mit, als dieser ein oder zwei Mal gesagt hatte, sie könnten doch mal Bioessen kaufen, und sich gegen den Kauf einer neuen Hose ausgesprochen hatte: die brauche er doch gar nicht. Besagter Vater fürchtete, ich würde seinen Sohn manipulieren.

Dass dieses geschieht, dass irgendwelche bösen Lehrer oder auch „die Medien“ oder wer immer sonst unsere Kinder manipulieren, davor haben wir heute beständig Angst. Es ist ja auch eines der Lieblingsargumente der Antisemiten, das sie für ihr Kopftuchverbot vorschieben: Durch eine Lehrerin mit Kopftuch könnten die Mädchen in der Schule vermittelt bekommen, sie dürften keinen Sex vor der Ehe haben, lese ich da von Menschen, die einen Anspruch darauf erheben, ernst genommen zu werden (ob sie wohl als Jugendliche ihr Sexualleben nach ihrer Kunst- oder Chemielehrerin orientierten?), ich weiß auch von einem Paar, das seine Tochter nicht in eine Kinderarztpraxis schicken wollte, wo eine Schwester mit Kopftuch arbeitete, denn sie könnte ja manipuliert und dazu gebracht werden, auch ein Kopftuch zu tragen. Die Leute müssen eine sehr schlechte Meinung von ihren Kindern (und also notwendig von ihrer eigenen Erziehung derselben zur Mündigkeit und Selbstständigkeit) haben, wenn sie meinen, diese wären schlechterdings nicht fähig, anderen Meinungen und Weltbildern zu begegnen, ohne sogleich von diesen überrumpelt zu werden, und müssten in einer Blase aus Gleich- oder Gar-nichts-Meinenden erhalten werden, weil schon zwei, drei Stunden Kontakt in der Woche, ja selbst fünfzehn Minuten im Vierteljahr anderen Menschen genügen würde, diese Kinder mehr zu manipulieren als ihre Eltern. Sagte ich, sie mehr manipulieren als ihre Eltern? Ganz recht, denn das ist das zweite: Die unterstellte leichte Manipulierbarkeit der Kinder einmal angenommen, so sehe ich selbst dann das Problem nicht, weil meine Perspektive nicht die des egozentrischen Ichlings, sondern die der Vernunft ist: Der einen falschen Meinung anzuhängen ist nicht schlimmer, als der andren falschen Meinung anzuhängen, ja selbst der material richtigen Meinung anzuhängen ist um nichts besser, wenn es aus formal falschem Grunde, nämlich nicht aus eigener Einsicht und Überzeugung, sondern als Ergebnis fremden Vorbetens geschieht. Wir wollen aber in aller Regel gar nicht, dass unsre Kinder selbst denken und eigne Urteile fällen, wir heißen ihre Manipulation durchaus gut – nur meinen wir eben, dass die Eltern ein Vorrecht haben, ihre Kinder nach ihrem Wunsche zu manipulieren, und halten jeden, der sie in eine andre Richtung zu lenken versucht, als die Eltern taten, für einen argen Bösewicht. So halten es denn die Eltern, die das Kopftuch ablehnen, für Manipulation, wenn man ihrer Tochter einredet, sie müsse eines tragen, meinen diese aber nicht zu manipulieren, wenn sie ihr das Gegenteil einreden; umgekehrt würden die streng mohammedanischen Eltern ihrer Tochter eine Wahrheit zu sagen meinen, wenn sie ihr das Kopftuch aufschwatzen, aber jeden für einen Manipulator halten, der sie anhielte, es abzulegen. Und so meinen denn alle, der Kultist und der Atheist, der Linke und der Rechte, der Demokrat und der Anti-Demokrat, der Kreationist und der Darwinist, der Querdenker und der Corona-Geimpfte, sie würden ihr Kind nicht manipulieren, indem sie dieses in die eigenen Bahnen lenken, wohl aber jeder Fremde, der es in andere zu lenken versuchte – obwohl doch in Wahrheit das Kriterium kein materiales sein darf, sondern ein formales sein muss, d. h. also Manipulation Alles heißen muss, wo das Kind nicht zu eigenem Vernunftgebrauche angehalten wird. Gerade dies letztere aber gilt den meisten für die ärgste Manipulation (und nicht mit Unrecht, von ihrem Standpunkte her genommen), und wer das eigene Nachdenken des Kindes anregt, was notwendig bedeutet, das Kind zum Verlassen der elterlichen Vorurteile und Engstirnigkeiten anzuregen, der gerät in den übelsten Ruf, so wie es mir hier widerfuhr, ja der kann damit leicht einmal seinen Untergang heraufbeschwören – man vergesse nicht, dass schließlich schon Sokrates als ein Verderber der Jugend hingerichtet wurde, weil er kritisch nachfragen und in die Tiefe gehen und seinen Verstand gebrauchen lehrte, wo andre Meinungen und Selbstverständlichkeiten und Dogmen hatten. Nun, wenn die Kinder für so leicht manipulierbar gehalten werden, so ist dies eigentlich nicht einmal der Rassismus gegen Kinder, der diese für so minderbemittelt hält – aber Nichts ist eigentlicher Rassismus, immer ist dieses Etikett eine Oberflächlichkeit, das mehr den Blick auf Tieferes verdeckt –, es ist wohl vielmehr die Angst und Unsicherheit der Eltern, mit etwas konfrontiert zu werden, das ihnen unbekannt ist und wofür sie keine fertige Handhabe haben, was also ihre eigene nicht vorhandene Aufklärung fordert, und sich in irgendeiner Form, sei es nur in einer kurzen Diskussion, an deren Ende das Kind ja wieder ihnen zustimmen könnte, mit ihrem Kinde beschäftigen zu müssen, sie spüren wohl auch sicherlich, dass ihre eigene, dem Kinde aufgedrängte Meinung falsch und unvernünftig ist und also der elterlichen Autorität bedarf, weil sie einer kritischen Auseinandersetzung schwerlich standhielte. Wenn andererseits die Eltern selbst ein Recht auf Manipulation ihrer Kinder haben, so liegt dem das alte Besitzdenken zu Grunde, wonach die Kinder der Besitz ihrer Eltern und ganz deren Willkür unterworfen sind, welch selbes Besitzrecht solche Eltern auch keifen lässt, man solle ihnen nicht erzählen, wie sie ihr Kind zu erziehen hätten (als könnten Unerzogene erziehen!), wenn man ihnen ihre Kindesmisshandlungen vorhält – in anderen, in totalitären Systemen ist es gerade umgekehrt: hier hat nur der Staat dieses Recht, und das halten wir für das reine Böse, denn wir leben in einem ausgeklärten Zeitalter, das sich keinem Höheren unterwerfen will, der Willkür des Staates oder Führers so wenig wie der Notwendigkeit der Vernunft, sondern das das Einzel-Ich – und zwar nicht des Führers, sondern jedermanns – vergötzt; deshalb ist uns der ganze Unterschied von Diktatur und Demokratie ja auch nur der, ob ein einzelner allen seine Willkür aufzwingt oder ob jeder gleichermaßen seine Willkür leben und somit je nach Verteilung der Begierden und Befindlichkeiten die gerade zufällig größte Zahl ihre Willkür der gerade zufällig kleineren Zahl aufzwingen kann, anstatt dass wir den Unterschied von Diktatur und Republik in die Qualität setzen – ob nämlich Willkür oder Vernunft herrsche, sie mag jeweils durch einen Einzelnen oder Alle, was ganz nebensächlich ist, bestimmen.

– Man soll, würden viele Essayisten, viele Journalisten, viele Deutschlehrer und andere solchen Schlages gewiss meinen, ruhig mit einem Aufhänger, einer kleinen Anekdote beginnen, man soll diese aber nicht zum Anlass einer Abschweifung von einem Thema machen, mit dem man noch gar nicht begonnen hat und von dem man somit strenggenommen noch gar nicht abschweifen kann. Sie dürften Recht haben, aber ich wäre ein lausiger Philosoph, würde ich mich an Regeln halten, statt sie zu machen. Indes, ich will doch nach diesen wichtigen, aber eigentlich themenfremden Bemerkungen zur Sache dieses Textes kommen: Der genannte Vater hatte nicht Unrecht: Dass sich nun auch in der Türkei eine grüne Partei gründen will, wenn sie auch hieran schon seit über einem Jahre vom dortigen Diktator gehindert wird, dass eine wackere junge Frau wie Deniz Çevikus 131 Wochen bis zum Burnout freitags in der Türkei gegen die Klimakrise anstreikte, ändert wenig daran, dass im Großen und Ganzen Türken nicht öko sind (nun, im Großen und Ganzen ist das kein Volk, ganz gewiss auch die Deutschen nicht, aber man sollte deshalb doch gewisse Gradunterschiede nicht relativieren): Vor wenigen Tagen erst war ich bei türkisierten Kurden eingeladen und bekam, als zwei ausgewachsene Kinder dieser Familie vom Einkauf mit einem neuen, vollen Kräutersalzstreuer heimkamen und ich bemerkte, sie hätten auch Kräutersalz in einer Packung kaufen und dann in ihren alten, leeren Streuer umfüllen können, zur entschuldigenden Antwort: sie wären Kanaken, sie würden sich mit so Öko- und Biozeugs nicht auskennen – ich dächte, man hätte sich hier nicht auskennen, man hätte nur nachdenken, es hätte einem also zunächst einmal wichtig sein müssen.

Wenn Türken nicht öko sind, dann ist es umso bemerkenswerter, dass die Familie einer Schülerin und Freundin von mir, nachdem erst ich erfolgreich sie manipuliert hatte und sie dann wiederum erfolgreich diese ihre Familie manipuliert hat, heute fast ausschließlich Bioessen verspeist. Wie ist ihr dieses gelungen?

Nicht, indem sie mit ihren Eltern die Diskussion gesucht und sie durch Argumente überzeugt hätte. Ein jeder wird aus dem eigenen Leben wissen, dass Argumente – bei andren wie auch bei ihm selbst – kaum je etwas bewirken; und weshalb sollten sie auch? Der Unvernünftige hört auf Argumente nicht, er verschließt sich gegen die besten Gründe und begreift sie nicht und sein Verstand wird nie mitgehen, wo sein Wille nicht mitgehen mag. Der Vernünftige aber sieht das Wahre und Gute unmittelbar ein und bedarf der Klügelei nicht erst, um überredet zu werden. Was geschieht, wenn man Menschen das bessere Handeln aufzuschwatzen versucht, was zumal bei allen Themen geschieht, die sich in irgendeiner Form unter diesem Namen „öko“ rubrizieren lassen, das ist aus persönlicher Erfahrung, das ist auch aus der gesellschaftlichen Debatte bekannt: Man bringt mit Argumenten niemanden dazu, künftig im Bioladen einzukaufen, so wenig man jemanden auf diesem Wege dazu bringt, nicht mehr zu fliegen oder Vegetarier zu werden. Eher noch schafft man Krieg, wenn man es versucht: Auch die besten und freundlichst vorgetragenen Argumente werden den anderen oftmals unwillig machen und nicht selten wird er sich nur, je mehr man ihn mit Vernunft in die Ecke drängt, je lauter man ihn an seine Pflicht erinnert, in das Unvernünftige und Pflichtwidrige verbeißen, sich abpanzern und sein Herz verstocken – die extreme und plumpe Form hiervon sind jene Klimawandelleugner, die man dann unter Thunberg-Reden auf YouTube prahlen liest: jetzt würden sie erst mal mit dem Auto einige Runden um den Block fahren. Ob sie wirklich ihr Geld dergestalt aus dem Fenster schmeißen oder dies leeres und unwahres Gerede ist: Sie jedenfalls fühlen sich durch Thunberg und Fridays for Future provoziert und rücken von ihrem mitweltschädlichen Verhalten nicht ab, sondern halten nur umso fester an ihm.

Das Phänomen als solches wird kennen, wer nur überhaupt einige Jahre auf diesem Planeten in nicht gänzlicher Blindheit zugebracht hat. Erklärt ist es leicht, wenn auch dasselbe Ergebnis aus verschiedenen Gründen hervorgehen kann, beim einen aus diesem, beim andren aus jenem, oft genug aus mehreren zugleich. So meint der, der nichts kennt als die persönliche Ebene, und der an Vernunft nicht glaubt, leicht, wenn ein andrer als Stimme der Vernunft zu ihm spricht, da spräche ein andres Ich – und er hat durchaus ganz Recht, einem Solchen nicht zu verstatten, sich über sein eigenes Ich aufzuschwingen und ihm Vorschriften zu machen, wie er zu leben und zu handeln habe. Diesem in der Wurzel durchaus rechten und untadelhaften Trieb steht entgegen, dass wir die Enttäuschung aus Eigenliebe scheuen: Es kränkt diese, dass ich bisher nicht recht gehandelt haben, dass, was ich, was vielleicht schon mein Vater vor mir und dessen Vater vor ihm tat, falsch sein soll, und dass da zugleich ein Andrer sein soll, der besser ist und höher steht als ich. Zwar könnte ich meinen Wert leicht steigern und ebenso hoch stehen als er, wenn ich nur fortan ihm gleich täte. Aber es bleibt doch immer unerträglich für denjenigen, der sein Ich mehr liebt als die Tugend und die Wahrheit, an diesem Ich, wie es bisher war, einen Fehler zuzugestehen.

Meine Freundin diskutierte nicht mit ihrer Familie, sie suchte diese nicht zu missionieren, sie gab ihr nicht das Gefühl, dass da einer besser ist als sie und sich über sie aufschwingen will – vielmehr lebte sie das Rechte und lebte es ihnen unweigerlich vor. D. i. sie selbst begann damit, im Bioladen einzukaufen und das Gekaufte zu essen. Eben deshalb – weil sie die Lebensmittel von ihrem eigenen Geld kaufte und weil sie niemand anderem Vorschriften oder Vorhaltungen machte, bot sie keine Angriffsfläche und konnten ihre Eltern ihr ihr Tun schwerlich verbieten. Ansprechen und auch kritisieren konnten sie das Verhalten ihrer Tochter freilich schon – und hier antwortete diese und gab auch sicher Widerworte. Aber so klar und deutlich man in solch einem Falle diskutiert und das eigene Handeln als das richtige rechtfertigt, dies bleibt doch mit einem ganz anderen Gefühl verbunden, wenn dies in Reaktion darauf geschieht, dass man eben angeredet wurde, nachdem man stumm seinem Handeln nachgegangen ist, als wenn man selbst von sich aus und von Anfang an die Auseinandersetzung gesucht hätte. Wo die Menschen sich im letzteren Falle leicht bedrängt und angegriffen fühlen, ist im ersteren ihre Freiheit gewahrt: Keiner zwingt sie, sich mit der neuen Sache – hier der Bioernährung – auseinanderzusetzen, es ist ganz ihre eigene Entscheidung, diese anzusprechen, weil sie eben Das bemerken, was unter ihren Augen getan wird.

In den Gesprächen, die so entstanden, bekam die Familie nun zu hören, wie gut ihrer Tochter die Bioernährung bekam. Zweifellos waren die Gespräche wichtig. Aber nicht allein auf der Ebene des bloßen Worts, das nie überzeugt, das vielmehr eher noch abstößt, wenn die Menschen spüren, dass es eine tote Kopfgeburt oder eine ideologische Formel und dass dahinter kein Herz ist. Ebenso wichtig wie, ja wohl wichtiger noch als nur zu hören, wie großartig Bio doch sei, war für diese Familie, es zu sehen und vor Augen geführt zu bekommen. Die Freundin, von der ich hier schreibe, ist lauter, begeisterungsfähig, von sehr reinem Fühlen und mit einem überfließenden, zu aufrechter und ungetrübter Freude fähigen Herze begabt; der Leser kennt sie nicht wie ich und wird sich ihr ruhiges, unaufdringliches, doch strahlendes Wesen im Kreise ihrer Angehörigen weniger gut vorstellen können als ich, aber vielleicht spürt auch er noch einen Hauch ihrer anfänglichen Begeisterung, wenn er liest, wie sie mir selbst heute, da eine Bioernährung schon seit drei oder vier Jahren für sie zum Alltag geworden ist, schreibt: „Kann mich noch erinnern, wie aufregend und lecker es war, das erste Mal Bio Oliven und Brot etc. vom Biomarkt gekauft zu haben und Trauben und sowas. Hat halt for real¹ geschmeckt“. Bionahrung ist nicht bloß gesünder und Anbau und Herstellung der Natur bekömmlicher, sie schmeckt auch besser, und wer statt ihrer das gewohnt ist, was heute teilweise als Essen durchgeht, dem kann sich durch sie eine ganz neue köstliche Welt eröffnen, aus der er in die alte schon bald nicht mehr wird zurückkehren wollen (meine Schüler empfinden heute wie ich ein Wasser aus einer Plastikflasche als ekelhaft und kaum trinkbar, während sie noch vor wenigen Jahren den Plastikgeschmack kaum bemerkten). Der Mensch ist, solange er Natur und nicht vernünftig ist, wie alles Natürliche träge und mag sich nicht ändern, auch fürchtet er beständig das Neue. Umso bedeutsamer ist es, dass er, nicht mit leeren Beteuerungen, sondern lebendig, aufgezeigt bekommt, dass das Gute von ihm nicht Verzicht, Mangel und asketische Armut fordert, dass es vielmehr Bereicherung und Gewinn ist und sein Leben aufblüht und überfließt, wo er sich aus seiner Enge löst und dem Guten zuwendet; eine einfache Wahrheit, deren völlige Unkenntnis bei den meisten man deutlich in der ökologischen Debatte vor Augen geführt bekommt, die noch immer nicht über ein „Ich lasse mir meinen Urlaub nicht von euch Ökos nehmen!“ und die Vorstellung hinweggekommen ist, man solle wieder wie das Kind werden, das man zwang, seinen Brokkoli oder Spinat zu essen, weil das gut sei, und künftig lustlos in einem faden Tofu herumstochern, während man auf die Freuden der Wurst und des Urlaubsflugs im Namen der guten Sache Verzicht tut.

Wichtig hierbei ist, dass der, der anderen das Gute vorlebt, von diesem selber ganz und gar durchdrungen und überzeugt sei und nach festen und unwandelbaren (wenn auch nicht notwendig ihm bewussten) Grundsätzen handle. Ich denke an einen anderen Freund und Schüler, der sich ebenfalls für ein mitweltfreundlicheres Handeln einsetzt und es seiner Familie vorlebt, der infolgedessen sich beispielsweise Auto zu fahren weigert: Er tat dies auch, als die Familie, die direkt neben einem U-Bahnhof wohnte, einmal an einen andren Ort, unmittelbar neben dem nächsten U-Bahnhof, wollte und hierfür das Auto nahm: Und auch dann noch, als sie darauf beharrten, für diese kurze Entfernung, die vielleicht hundert Meter Fußweg und eine einminütige U-Bahnfahrt bedeutet hätte, das Auto zu nehmen, da blieb er nicht minder beharrlich und nahm die U-Bahn, obwohl er sich damit einigen Unmut zuzog und obwohl er, der ja schon als der Öko der Familie galt und dessen Ökotum in einem gewissen Grade als etwas alberne Marotte akzeptiert wurde, angefahren wurde: „Übertreib deine Rolle nicht!“ Mancher mag meinen, er hätte hier nachgiebiger sein dürfen, sei es nur, um keinen Unfrieden zu schaffen, zumal doch die Sache eine so belanglose sei und das Klima nicht durch sein kurzes Mitfahren in diesem einen Falle, wo alle übrigen ja so oder so ins Auto stiegen, erwärmt worden wäre. Aber es geht bei der Frage, ob mitfahren oder nicht, so wie bei der Frage, ob Greta Thunberg über den Atlantik fliegt oder das Boot nimmt, nicht unmittelbar um die Folgen für das Klima, es geht eben um die anderen Menschen, es geht um Konsequenz und es geht darum, was man diese empfinden lässt: Gibt man hier klein bei, nehmen diese mit, dass man wirklich nur eine für sie nervige Marotte lebe, dass alles so ernst und wichtig aber nicht sein könne, wie man ihnen vielleicht einzureden suche, bleibt man hingegen standfest und beharrlich, hinterlässt dies auf die Dauer, wenn es auch augenblicklich für Unmut sorgen mag, oft einen umso größeren Eindruck, als die meisten Menschen gerade dieses, standfest und beharrlich, nicht im geringsten sind und als es ja auch niemand wirklich sein kann, es sei aus wirklicher und tiefer Überzeugung. (Was aber den Konflikt anbetrifft, dessen Vermeidung manche Kleinmütige zum Zwecke der Inkonsequenz erheben werden: Der geht nicht vom Guten, der unbeirrt das Gute tut, sondern von den Andren aus. Hatte mein Freund seinen Geschwistern denn Vorhaltungen ob des Autofahrens gemacht? Wurden sie durch ihn verhindert, es zu tun? Verspätete er sich wegen der U-Bahnfahrt, die nicht länger als ihr Einsteigen und Parkplatzsuchen dauerte? Es entstand ihnen keinerlei Nachteil, sie waren es also, die etwas, das ihnen gleichgültig hätte sein dürfen, zum Anlass eines Streits nahmen. Gerade wie so viele Eltern meiner Freunde und Schüler, die sich fürchterlich aufregten, das eigene Leben schwer machten und den Familienfrieden störten, als ihre Kinder Vegetarier wurden, obwohl doch niemand sie anhielt, es mit ihnen zu werden. Auch Greta Thunberg erfährt unaussprechlichen Hass und die vielfache Unterstellung, sie wolle Menschen das Fliegen oder Fleischessen oder andres mehr verbieten, obwohl sie nichts dergleichen tut. Aber wenn vor uns jemand das Gute wählt, regt das immer unser eigenes Gewissen an; und wollen wir diesem nicht folgen, sondern verpanzern uns gegen dieses, so schauen wir jenen Guten gerne an, als hätte er von uns gefordert, was doch die Stimme in unsrem Innern forderte. Zudem hasst der, der gedankenlos und unhinterfragt das ihm Selbstverständliche tut, jeden, der ihm aufzeigt, dass es nicht selbstverständlich, dass er auch anders zu handeln frei ist und dass er somit eine Verantwortung hat, der er mit seiner Gedankenlosigkeit nicht nachkommt.) Meine Freundin, um wieder auf diese zu kommen, ist von der beschriebenen Willensklarheit, die auch jedermann an ihr deutlich spüren muss. Das erlaubte ihr, während eines Praktikums in einem Kindergarten, als man mit den Kindern draußen spielte, dies einem kleinen Kinde aber zu viel wurde und es zu weinen anfing, weil es einige Minuten drinnen für sich brauchte, dieses einfach zu nehmen und mit ihm hineinzumarschieren, ohne sich Ärger einzuhandeln, obwohl die Kindergärtner ihr gesagt hatten, sie solle es schreien lassen, und ihr bei andrer Gelegenheit einzuschärfen suchten, sie lasse sich von den Kindern knechten und diese müssten Selbstständigkeit lernen (wie verantwortungslose Schwächlinge es gerne nennen, wenn sie Kinder vernachlässigen und alleinlassen). Wem auch unwohl dabei wäre, ein Kind hilflos schreien zu lassen, wer auch den Kindergärtnern einmal widersprechen und die Rechte des Kindes geltend machen, wer aber in einem solchen Augenblicke dann entweder einknicken und gehorchen oder aber das Kind zwar hineintragen würde, dies aber schüchtern und zögerlich und ohne die unwandelbare Festigkeit, die nur ein klarer Wille zum Guten verleiht, täte, der würde nicht überzeugen, sondern höchstens sich Ärger einhandeln und zurückgepfiffen werden.

Damit, dass sie ihre Familie nicht anging, nicht überreden oder missionieren wollte, sondern die Bioernährung einfach, aber mit Freude und einem uneingeschränkten Ja vorlebte, dass sie, salopp gesagt, ihr Ding durchzog und offenbar sich wohl befand dabei und dass sie nun, wo sie hierauf angesprochen oder auch hierfür angegangen wurde, zu antworten wusste, zog meine Freundin erst ihre beiden Geschwister auf ihre Seite. Es sind ja, allen Rassismen über die unmündigen Kinder und die klugen, lebenserfahrenen Alten zum Trotze, gewöhnlich die Jungen, die beweglicher und gegenüber Neuem offener, auch die eher bereit sind, sich vom Guten berühren zu lassen, und mehr Verständnis dafür aufbringen, wenn einer einem Ideale folgt und jemandem etwas wichtig ist (die Ausgewachsenen kennen gewöhnlich nur ihren eigenen hergebrachten Trott, der ihnen selbstverständlich ist, und störenden Eigendünkel oder gefährliche Ideologie, als welche sie nämlich oft alles verunglimpfen, das diesen ihren Trott ändern will, den sie in ihrem Eigendünkel und ihrer ideologischen Enge gerne für vollkommen und unverbesserbar erachten): „Der Unterschied ist ja, meine Geschwister haben tatsächlich verstehen können worum es mir dabei geht und sich halt auch selber schlau gemacht etc.“

Die Eltern folgten hernach als letzte. „Die Eltern sind es immer, welche durch die Kinder erzogen werden“² Es ist aber kein Schritt schwerer als der von eins zu zwei – der von null zu eins ist es nicht, denn Einer findet sich immer, der Mut und edlen Sinn hat, und der von zwei zu zehntausend ist es auch nicht, denn sich einer Gruppe anzuschließen, dazu gehört nur noch wenig. Alleine Andere überzeugen und wandeln zu wollen, ist immer schwer. Sind diese anderen unaufgeklärt, so werden sie kaum den Mut haben, einen eigenen Weg, auch gegen die große Masse, zu beschreiten, vielmehr werden sie stets geneigt sein, unhinterfragt nachzuleben, was ihnen als selbstverständlich erscheint, mithin was die Mehrheit tut. Dieselbe Kraftlosigkeit, derselbe Mangel eigener Überzeugung aber, der die Menschen sich nicht selbst zum Guten bekehren lässt, dieweil um sie her es keiner treibt, lässt sie hernach umkippen, sobald es eben doch viele um sie her zu treiben beginnen. (Auch daher übrigens, nicht nur weil man selbst ohnehin sittlich handeln soll, sondern auch weil, je mehr sittlich handeln, desto mehr die Sittlichkeit unter den Menschen verbreitet wird, hat man eine Verantwortung und Pflicht zum moralischen Handeln und macht sich keinesweges nur gegen seine eigene Seele schuldig, wenn man dieses unterlässt – man stürzt nämlich nicht sich selbst allein in die Hölle, sondern zieht noch andere mit sich hinab.) Eichmann, der in Deutschland gewesen war, konnte sagen: Niemand, nicht ein einziger habe ihm gesagt, dass sein Tun böse sei, und wer wollte einem geringen Mut wie dem Eichmanns abfordern, sich ganz allein und ohne bessres Beispiel gegen die ganze deutsche Nation zu wenden? In Dänemark aber knickten die Deutschen ein, denn die Dänen zeigten ihnen und ließen sie recht klar spüren, wie unsittlich ihre Verfolgung der Juden war. Da ihre drei Kinder Biolebensmittel kauften und aßen, dies mit Überzeugung und mit Freude taten, da begannen auch die Eltern dies teilweise zu tun.

Und jetzt diskutierte ihre Tochter sehr wohl mit ihnen und suchte sie zu überzeugen oder hielt ihnen ihr Tun und ihre Entscheidungen vor. So schreibt sie mir: „Meine sis³ und ich wurden auch mal sauer, wenn Papa irgendwann keine bio Tomaten zb eingekauft hat haha, aber da konnten wir es uns halt erlauben mittlerweile. Weil wir ein Team alle wurden, würde ich sagen.“ Dass sie nicht mehr alleine war, dass nun die Geschwister zusammen für dieselbe Sache stritten, war ein entscheidender und schon im vorigen Absatz benannter Faktor, aber hier kam noch etwas hinzu: Wären sie gleich zu Anfang derart auf ihren Vater losgegangen, wie geschildert, selbst im Team, so hätte dies leicht zu zwei sich nur rasch verhärtenden Fronten führen können, es hätte kommen können, wie oben beschrieben und wie es immer zu kommen pflegt, wenn man Menschen ihr, es sei auch wirklich verkehrtes, Verhalten vorhält, ohne einen Anknüpfungspunkt zu haben, und ganz ohne dass sie schon Ansätze zum bessren zeigen, die sich entwickeln lassen. Mittlerweile aber standen die Dinge anders, denn die Eltern hatte ja selbst schon teilweise im Bioladen eingekauft und waren hiermit auch zufrieden gewesen. Nun also war die Frage, weshalb sie denn nicht nur Bionahrung aßen, keine ihnen äußerlich aufgedrungene mehr, sondern eine, die sie sich gefallen lassen mussten. Wir leben freilich in schwachbrüstigen, schüchternen Zeiten, die alles Radikale scheuen und verschreien, aber umso lauter muss man erinnern: wer nicht radikal, wer inkonsequent ist, der hat bereits verloren. Darum ist es nicht kleinkariert, sondern so bedeutsam, wenn mein anderer Freund, von dem ich oben berichtete, auch dann sich dem Auto verweigert, wenn der Rest der Familie es ohnehin für eine kurze Strecke nimmt: führe er mit, er müsste sich dann, wenn er in anderen Fällen sie zu überzeugen suchte, sagen lassen: so wichtig könne es ja auch ihm nicht sein, da er ja Ausnahmen mache. Umgekehrt aber konnten nun die Eltern, da sie sich ja der Bionahrung gar nicht gänzlich verweigerten, diese vielmehr durchaus als gut und kaufenswert anerkannten, nicht mehr gut rechtfertigen, warum sie sie denn nicht öfter kauften.

Meine Freundin betonte mir gegenüber freilich auch, dass ihre Eltern Bio ja gewissermaßen schon gekannt hätten, wenn auch nicht unter diesem Namen: vom eigenen Garten, wo sie ein wenig Essbares anbauten, und von ihrer Kindheit im türkischen Dorf. („Bio“ zählt unter die Plakatworte, bei denen viele Menschen alles Denken abschalten – die einen, weil sie es blindlings für eine gute Sache halten, ohne etwa zu differenzieren, dass Bio ja nicht gleich Bio ist und z. B. die Standards der EU nicht dieselben wie beispielsweise die Demeters sind; die anderen, weil sie es ebenso blindlings ablehnen: So weiß ich von Eltern anderer Freunde, die sich sträubten: Bio, so etwas komme ihnen nicht ins Haus, weil sie das für irgendeine deutsche Marotte hielten – Türken und übrigens auch Araber sind eben nicht öko –, die aber gleichzeitig nach jedem Besuch in der Heimat klagten: das Essen auf dem Dorf schmecke ja so viel besser und aromatischer als das aus dem hiesigen Supermarkt – nun, das erstere ist eben bio, es heißt nur nicht so, und der Unaufgeklärte ist eben nicht in der Lage, unvoreingenommen die Sache zu betrachten, sondern klebt an an sich unbedeutenden Namen und Bezeichnungen fest, mit denen er dann diese leere Vorstellung, jenen ideologischen Dünkel usw. verbindet.) Ein wichtiger Hinweis, und es spricht für meine Schülerin, dass sie ihn machte und die Bedeutung dieses Umstandes ihr bewusst ist, denn wirklich braucht es immer etwas, woran man anbinden kann, und wäre ein Mensch schwerlich zu einer Sache zu bekehren, die ihm wirklich ganz und gar fremd wäre. Aber andererseits: Wo gäbe es denn nicht irgendeinen solchen Anknüpfungspunkt! Es gilt nur, ihn auch zu finden, d. h. offen dafür zu sein, ihn zu entdecken.

Die Familie meiner Freundin kauft heute größtenteils im Bioladen ein, nur wo der Preis einmal zu happig ist, greift sie noch zu konventioneller Nahrung. Alle fünf sind sich einig, dass dies ein Gewinn, dass diese Speise schmackhafter und bekömmlicher ist. Ich hielt es in mehrerlei Hinsicht für geraten, diese kleine Geschichte zu erzählen und zu deuten.

Zum einen hat hier Aufklärung stattgefunden und ist dieses ein Beispiel, dass Aufklärung tagtäglich, überall und in kleinsten und alltäglichsten Dingen geschehen kann und auch geschieht und bloß nicht für eine komplizierte, rein abstrakte oder ganz akademische und lebensferne Sache gehalten werden darf, noch für etwas zwar Gutes, aber leider kaum je Stattfindendes.

Zum zweiten lässt sich hier über die Aufklärung manches lernen. So nämlich, dass nicht ein einziger Blitz die ganze Welt in Brand stecken muss, sondern, wie ein durch eine Flamme entzündetes Feuer weitergegeben und seinerseits weitere Feuer entzünden kann: Meiner Freundin war und bin ich Aufklärer, sie besuchte einst meine Aufklärungs-AG, später nahm sie an meiner Philosophiegruppe teil. Ihre Geschwister und Eltern aber habe ich nie getroffen und konnte ich somit unmittelbar nicht selbst aufklären; ich habe sie aber mittelbar aufgeklärt, denn nachdem ihre Schwester und Tochter erst durch mich zur Bioernährung gefunden hat, fanden sie wiederum durch sie dorthin – und wer weiß, welchen Einfluss sie ihrerseits nun wieder auf weitere Menschen nehmen werden! Einer allein kann nicht die ganze Menschenschaft aufklären, selbst wenn er die größtmögliche Publizität hätte. Aber so wenig Aufklärung eine Einbahnstraße ist, so wenig ist sie auch eine Sackgasse. Wir pflanzen beständig, oft ohne es zu wissen, Samen, die Zeit oder andere Menschen mögen sie wässern und es mögen einst die schönsten Blumen aus ihnen erwachsen. Ein Aufklärer kann jeder sein. Ja jeder Aufgeklärte wird es notwendig sein, wird die Aufklärung um sich her verbreiten. Nicht jeder Aufgeklärte wird seinem eigentlichen und einzigen Berufe nach ein Aufklärer sein, wie ich es bin, nicht jeder Aufgeklärte wird mit dem erklärten Ziele der Aufklärung vor die Öffentlichkeit treten, wie ich es tue, und doch kann es gar nicht fehlen, wie Fichte schon wusste, dass der höhere Mensch, wohin er kommt, die niederen Menschen in seinem Umkreise wenigstens ein kleines Stück hinan- und sich zu ziehe. Hieran uns erinnernd sollten wir Zutrauen in uns selbst und unsere eigene Befähigung zum Aufklärer wie auch Hoffnung und Zuversicht in die Aufklärung haben: denn erreichen wir unter hundert nur einen, so müssen wir nicht an den neunundneunzig verzweifeln, sondern dürfen darauf bauen, dass dieser eine seinerseits wieder einen oder zwei erreichen wird, die beide noch ein oder zwei mehr aufklären werden, und so immer weiter, bis aus einzelnen Tropfen ein großer Strom wird: Aufzuklären ist sittliche Pflicht, ja es gibt in aller Strenge gar keine andere eigentlich moralische Pflicht und es sind alle anderen, etwa die, menschliches Leben zu schonen und erhalten, nur mittelbare Pflichten, die die Aufklärung erst möglich machen; – wenn aber jeder – nochmals: nicht zwingend öffentlich und im Großen so wie ich, es genügt schon: um sich her – seiner Pflicht nachkommt und die Aufklärung fortpflanzt, so kann nicht fehlen, dass das Licht sich immer weiter ausbreite.

Schließlich aber lehrt diese Geschichte nicht nur, dass Aufklärung beständig stattfindet und sich von einem zum nächsten verbreitet, sie zeigt auch unmittelbar, wie man aufklären und wie man sittlich auf andre Menschen einwirken kann. Man kann davon lernen: Wie man Menschen zu einem mitweltfreundlicheren Leben anregen, wie man sie in die Bioläden hinein oder aus den Flughäfen hinaus führen kann, was heute sehr wichtig und was gerade manchem Kinde und jungen Menschen, der vielleicht an seinen Eltern und Anverwandten verzweifelt, ein Anliegen sein mag; man kann aber ebenso gut ganz von der Sache abstrahieren und sodann überhaupt lernen, wie man auf andere zum Guten einwirken kann. – Irgendein Verhalten unserer Mitmenschen und auch unserer Nächsten wird wohl unser aller Missfallen erregen, von irgendetwas werden wir wohl alle sie nur zu gerne überzeugen wollen, nur finden wir uns damit oftmals, so gut und lauter unsere Absichten sind, als Unruhestifter oder aber wir halten schüchtern, eben weil wir Streit und Zank fürchten, den Mund und sehen unter Bauchschmerzen zu, wie die Andren weiter treiben, was sie nach unserer Überzeugung unterlassen sollten. So muss es nicht sein. Man suche nur nicht die Auseinandersetzung. Man glaube nur nicht zu sehr an die Überzeugungskraft von Vernunftgründen, selbst wenn man im Besitz der richtigen und wahren ist. Man wolle nur nicht mit dem Kopf durch die Wand, vor allem wolle man nicht zu verbissen den eigenen Willen und das Jetzt und Sofort – den Augenblick kennt der Ewige allein und dessen Willen, nicht den eigenen sucht der Gute zu tun. (Wer es anders hält, wer die anderen beherrschen und es besser wissen will als das Universum, der will nicht das Gute, der will nur sich.) „Das Wichtigste war eigentlich ‚einfach‘ zu machen“, spricht meine Freundin, und so mache man denn einfach! Man achte also die Freiheit seiner Mitmenschen, man sei kein kleiner Tugendtyrann und keine Nervensäge und zwinge diesen nichts auf. Aber man lebe unbeirrt und unbeirrbar gemäß seiner Überzeugung und verstecke diese nicht, noch lasse sich durch der Anderen Widerspruch ins Wanken oder zum Einlenken bringen. Ist man nur wirklich im Recht und verfolgt man nur wirklich das Gute – und nur dieses kann wirkliche Überzeugung und die Festigkeit, die ich hier fordere, schaffen; der Verkehrte und sich selbst Betrügende wird diesen Rat nicht befolgen und es wird also auf diesem Wege auch niemand andre Menschen zum Falschen bekehren können, denn das Falsche kann weder ruhig bleiben und der Andren Freiheit in stummem Wissen um die eigene Rechtlichkeit achten, noch vor allem kann es konsequent und ohne Schwanken an sich selber festhalten –, so wird dies schon seinen Eindruck bei den Anderen hinterlassen. Hiervon ließen sich hundert Geschichten erzählen. So denke ich gerade an eine alte Klassenkameradin, die während des Studiums die Wohnung mit einer Atheistin teilte und die nie dieser eine Diskussion über Religion und Glauben aufzwang und nie diese zu bekehren versuchte – was doch allenfalls mögliche Vorurteile bei dieser bestätigt hätte; wer kann schon Missionare leiden, die an den Wohnungstüren hausieren gehen wie die Stromvertragsvertreter und einem mit abgeschmackten Fabeln von Himmel und Hölle die eigene Angst einjagen wollen? –, die aber während ihres Zusammenlebens mit dieser Mitbewohnerin ruhig ihre täglichen Gebete verrichtete und ihr Kopftuch trug, das sie, wie übrigens auch jene Freundin und Schülerin, von der und deren Familie ich hier handelte, das ihre, trägt, so lange ich sie kenne, und die mit der Haltung, darin sie durchs Leben ging, und dem gläubigen Gottvertrauen, das sie an den Tag legte, die Andere wortwörtlich beeindruckte.

– Es mag höchstens jemand einwenden, dass die geschilderte Methode der Aufklärung nur im unmittelbaren Umfeld erfolgversprechend sei, dass sie einen regelmäßigen Umgang mit den aufzuklärenden Menschen über einen längeren Zeitraum verlange und daher schwerlich massentauglich sei. Nun, der Einwand ist richtig. Schon Kant bemerkte, dass die Masse sich nur sehr langsam aufkläre (und hat Recht behalten, denn wie weit ist sie in den 227 Jahren seither vorangeschritten, so sie nicht zurückgeschritten ist?). Und ich habe meine größten und tiefsten Erfolge als Aufklärer stets im persönlichen Umgang erreicht, während, da ich dieses hier schreibe, mein öffentliches Aufklären noch kaum, vielleicht gar keine Früchte getragen hat. Aber weshalb wäre dieses ein Einwand? Dass man nur einmal kurz Menschen etwas sagen, dass man sie dafür noch nicht einmal persönlich, sondern nur als Teil einer Allgemeinheit anzusprechen brauche, um sie aufzuklären, das ist nicht zu erwarten und das wird vielleicht nur der Träge und Arbeitsscheue und also Unaufgeklärte meinen. Dass man Fremde auf diesem Wege gar nicht erreichen könne, das stimmt so ganz nicht: Greta Thunberg ist ein Beweis dagegen, aber man muss nicht einmal ihre Berühmtheit haben: Mit welcher Haltung man durch die Straßen geht und sich vor anderen sehen lässt, wie man dort steht und isst, was man trägt, wie man sich dort gegen sein Kind oder seinen Hund beträgt, das wird wohl auch seinen Eindruck hinterlassen, und auch hier einen größeren, wenn man nicht alleine ist, sondern viele andere ebenso tun – ich nannte schon das Beispiel der Dänen im Zweiten Weltkrieg, die in ihrem Lande den Holocaust verhinderten. Aber es bleibt wahr, dass, was ich schildere, am ehesten im Kreise der eigenen Freunde und Verwandten möglich ist und vielleicht am ehesten Kindern gegenüber ihren Eltern gelingen wird. Aber wozu sind uns unsre Nächsten denn auch gegeben, wenn nicht, damit wir zunächst auf sie wirken? Und wieso verstehen wir das Gebot der Nächstenliebe immer so oberflächlich und falsch, als sollten wir damit alle Menschen gleichermaßen – und nicht eben zunächst den Allernächsten lieben? Der dort auf der Straße an mir vorbeigeht, der kennt mich vielleicht nicht und auf den werde ich vielleicht wenig Einfluss nehmen können, aber wer sagt mir, dass nicht ein Freund meines Freundes ihn kennt? – Ich wirke nur immer auf meinen Freund ein, dieser auf den seinen, so wird auf diesem Wege die Aufklärung jenen mir Fremden, der an mir vorübergeht, schon erreichen.

1 wirklich, echt

2 Friedrich Wilhelm Nietzsche: Nachgelassene Fragmente 1881 16[19]

3 sister – Schwester