Wer ich bin
„[H]as de saber que yo nací por querer del cielo en esta nuestra edad de hierro para resucitar en ella la de oro, o la dorada, como suele llamarse. Yo soy aquel para quien están guardados los peligros, las grandes hazañas, los valerosos hechos.“ („[W]issen mußt du, daß ich durch Gunst des Himmels geboren bin, um in dieser unsrer Ehernen Zeit das Alter zu rufen, welches man nur das von Gold oder das Goldne zu nennen pflegt. Ich bin es, dem Gefahren, große Tathandlungen, mächtiges Unterfangen aufbewahrt sind“.)
Don Quijote de la Mancha (Miguel de Cervantes Saavedra: El ingenioso Hidalgo Don Quijote de la Mancha (Leben und Thaten des scharfsinnigen Edlen Don Quixote von la Mancha. Erster Teil. Drittes Buch. Sechstes Kapitel.))
„Der letzte Zweck jedes einzelnen Menschen sowohl, als der ganzen Gesellschaft, mithin auch aller Arbeiten des Gelehrten an der Gesellschaft, ist sittliche Veredlung des ganzen Menschen. Es ist die Pflicht des Gelehrten, diesen letzten Zweck immer aufzustellen, und ihn bei allem, was er in der Gesellschaft thut, vor Augen zu haben. Niemand aber kann mit Glück an sittlicher Veredlung arbeiten, der nicht selbst ein guter Mensch ist. Wir lehren nicht bloss durch Worte; wir lehren auch weit eindringender durch unser Beispiel; und jeder, der in der Gesellschaft lebt, ist ihr ein gutes Beispiel schuldig, weil die Kraft des Beispiels erst durch unser Leben in der Gesellschaft entsteht. Wie vielmehr ist der Gelehrte dies schuldig, der in allen Stücken der Cultur den übrigen Ständen zuvor seyn soll! Ist er in dem ersten und höchsten, demjenigen, was auf alle Cultur abzweckt, zurück, wie kann er Muster seyn, das er doch seyn soll; und wie kann er glauben, dass die anderen seinen Lehren folgen werden, denen er vor aller Augen durch jede Handlung seines Lebens widerspricht? (Die Worte, die der Stifter der christlichen Religion an seine Schüler richtete, gelten ganz eigentlich für den Gelehrten: Ihr seyd das Salz der Erde; wenn das Salz seine Kraft verliert, womit soll man salzen? wenn die Auswahl unter den Menschen verdorben ist, wo soll man noch sittliche Güte suchen?) – Also der Gelehrte in der letzten Rücksicht betrachtet, soll der sittlich beste Mensch seines Zeitalters seyn: er soll die höchste Stufe der bis auf ihn möglichen sittlichen Ausbildung in sich darstellen.
Dies ist unsere gemeinschaftliche Bestimmung, meine Herren, dies unser gemeinschaftliches Schicksal. Ein glückliches Schicksal, noch durch seinen besonderen Beruf bestimmt zu seyn, dasjenige zu thun, was man schon um seines allgemeinen Berufes willen, als Mensch, thun müsste – seine Zeit und seine Kräfte auf nichts wenden zu sollen, als darauf, wozu man sich sonst Zeit und Kraft mit kluger Kargheit absparen müsste – zur Arbeit, zum Geschäfte, zum einzigen Tagewerk seines Lebens zu haben, was anderen süsse Erholung von der Arbeit seyn würde! Es ist ein stärkender, seelenerhebender Gedanke, den jeder unter Ihnen haben kann, welcher seiner Bestimmung werth ist: auch mir an meinem Theile ist die Cultur meines Zeitalters und der folgenden Zeitalter anvertraut; auch aus meinen Arbeiten wird sich der Gang der künftigen Geschlechter, die Weltgeschichte der Nationen, die noch werden sollen, entwickeln. Ich bin dazu berufen, der Wahrheit Zeugniss zu geben; an meinem Leben und an meinen Schicksalen liegt nichts; an den Wirkungen meines Lebens liegt unendlich viel. Ich bin ein Priester der Wahrheit; ich bin in ihrem Solde; ich habe mich verbindlich gemacht, alles für sie zu thun und zu wagen, und zu leiden. Wenn ich um ihrer willen verfolgt und gehasst werden, wenn ich in ihrem Dienste gar sterben sollte – was thät ich dann sonderliches, was thät ich dann weiter, als das, was ich schlechthin thun müsste? – Ich weiss es, meine Herren, wieviel ich jetzt gesagt habe; ich weiss es ebenso gut, dass ein entmanntes und nervenloses Zeitalter diese Empfindung und diesen Ausdruck derselben nicht erträgt; dass es alles dasjenige, wozu es sich nicht selbst zu erheben vermag, mit schüchterner Stimme, durch welche die innere Scham sich verräth, Schwärmerei nennt, dass es mit Angst seine Augen von einem Gemälde zurückreisst, in welchem es nichts sieht, als seine Entnervung und seine Schande; dass alles Starke und Erhebende einen solchen Eindruck auf dasselbe macht, wie jede Berührung auf den an allen Gliedern Gelähmten: ich weiss das Alles; aber ich weiss auch, wo ich rede. Ich rede vor jungen Männern, die schon durch ihre Jahre vor dieser gänzlichen Nervenlosigkeit gesichert sind, und ich möchte neben und vermittelst einer männlichen Sittenlehre zugleich Empfindungen in ihre Seele senken, die sie auch in Zukunft vor derselben verwahren könnten. Ich gestehe es freimüthig, dass ich eben von diesem Puncte aus, auf den die Vorsehung mich stellte, etwas beitragen möchte, um eine männlichere Denkungsart, ein stärkeres Gefühl für Erhabenheit und Würde, einen feurigeren Eifer, seine Bestimmung auf jede Gefahr zu erfüllen, nach allen Richtungen hin, soweit die deutsche Sprache reicht, und weiter, wenn ich könnte, zu verbreiten; damit ich einst, wenn Sie diese Gegenden werden verlassen und sich nach allen Enden werden verstreuet haben, in Ihnen an allen Enden, wo Sie leben werden, Männer wüsste, deren auserwählte Freundin die Wahrheit ist; die an ihr hängen im Leben und im Tode; die sie aufnehmen, wenn sie von aller Welt ausgestossen ist; die sie öffentlich in Schutz nehmen, wenn sie verleumdet und verlästert wird; die für sie den schlau versteckten Hass der Grossen, das fade Lächeln des Aberwitzes, und das bemitleidende Achselzucken des Kleinsinnes freudig ertragen. In dieser Absicht habe ich gesagt, was ich gesagt habe, und in dieser Endabsicht werde ich alles sagen, was ich unter Ihnen sagen werde.“
Johann Gottlieb Fichte: Einige Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten. Vierte Vorlesung.
Ich bin Dichter, Philosoph und Aufklärer. Und wüsste man mit diesen Worten etwas anzufangen, wäre hiermit alles gesagt. Da aber die Dichtung, die Philosophie und die Aufklärung lange verworfen wurden, da man mit dem ersteren kaum noch einen, mit den letzteren beiden einen durchaus verkehrten Sinn verbindet, bedarf diese Selbstcharakterisierung der weiteren Erklärung.
Dichtung
„Ein mit Geist und Geschmack abgefaßtes Product kann überhaupt Poesie genannt werden und ist ein Werk der schönen Kunst, es mag den Sinnen vermittelst der Augen oder der Ohren unmittelbar vorgelegt werden, welche auch Dichtkunst (poetica in sensu lato) genannt werden kann: sie mag Maler-, Garten-, Baukunst oder Ton- und Versmacherkunst (poetica in sensu stricto) sein. Dichtkunst aber im Gegensatz mit der Beredsamkeit ist von dieser nur der wechselseitigen Unterordnung des Verstandes und der Sinnlichkeit nach unterschieden, so daß die erstere ein Spiel der Sinnlichkeit, durch den Verstand geordnet, die zweite aber ein Geschäfte des Verstandes, durch Sinnlichkeit belebt, beide aber, der Redner sowohl als der Poet (in weitem Sinn), Dichter sind und aus sich selbst neue Gestalten (Zusammenstellungen des Sinnlichen) in ihrer Einbildungskraft hervorbringen.“
Immanuel Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. Erster Teil. Zweites Buch. Anthropologische Bemerkungen über den Geschmack. B. Vom Kunstgeschmack.
„[N]ichts [kann] ausgemachter sein […], als dass der Dichter nur dadurch Dichter ist, dass er von Gestalten sich umringt sieht, die vor ihm leben und handeln und in deren innerstes Wesen er hineinblickt. Durch eine eigenthümliche Schwäche der modernen Begabung sind wir geneigt, uns das aesthetische Urphänomen zu complicirt und abstract vorzustellen. Die Metapher ist für den ächten Dichter nicht eine rhetorische Figur, sondern ein stellvertretendes Bild, das ihm wirklich, an Stelle eines Begriffes, vorschwebt. Der Character ist für ihn nicht etwas aus zusammengesuchten Einzelzügen componirtes Ganzes, sondern eine vor seinen Augen aufdringlich lebendige Person, die von der gleichen Vision des Malers sich nur durch das fortwährende Weiterleben und Weiterhandeln unterscheidet. Wodurch schildert Homer so viel anschaulicher als alle Dichter? Weil er um so viel mehr anschaut. Wir reden über Poesie so abstract, weil wir alle schlechte Dichter zu sein pflegen. Im Grunde ist das aesthetische Phänomen einfach; man habe nur die Fähigkeit, fortwährend ein lebendiges Spiel zu sehen und immerfort von Geisterschaaren umringt zu leben, so ist man Dichter“.
Friedrich Wilhelm Nietzsche: Die Geburt der Tragödie. 8.
ποίησις (poiesis), das bedeutet ein Erschaffen oder Hervorbringen, es bedeutet, mit der platonischen Diotima zu reden, etwas „ἐκ τοῦ μὴ ὄντος εἰς τὸ ὂν ἰόντι“ („aus dem Nichtsein in das Sein“ Platon: Symposion. 205b) treten zu lassen. Der Schöpfer, der, welchem die creatio ex nihilo (Schöpfung aus dem Nichts) zugeschrieben wurde, ist Gott, und wenn die Bibel berichtet, „VND Gott schuff den Menschen jm zum Bilde / zum Bilde Gottes schuff er jn“ (Genesis 1.27), so mag eben hierin der Mensch als göttliches Ebenbild verstanden werden, dass auch er schöpferisch tätig sein kann. Im Essen und im Atmen, im sich Vermehren und im Schlafen, im dumpfen Genießen gleicht der Mensch dem Tiere; wo der Mensch poetisch, d. i. wo er schöpferisch ist, dort gleicht er der Gottheit. Wahrhafte Poesie kann daher nicht ein schaler Naturalismus sein, der kein neues Sein hervorbringt, sondern ein schon vorhandenes nur kopiert und dessen Erzeugnis, wie alle Kopie, notwendig farblos und fehlerhaft sein muss gegen das Original. Zugleich aber hüte man sich vor dem Kult einer zu einem Werte an sich erhobenen und dabei gänzlich missverstandenen Originalität: In jenem oberflächlichen Sinne, der eine solche fordert, gibt es ohnehin nichts Neues, ist alles schon einmal dagewesen. Und das Produkt einer zügellos wuchernden Einbildungskraft ist nicht Poesie, es ist nur eine Chimäre, zusammengefügt aus Fetzen, die im Geiste dessen umherflattern, in dem es solcherart wuchert, die aber doch ursprünglich, es sei ohne sein Bewusstsein, ihrerseits nur aus dem schon vorhandenen Sein gerissen sind. Will jemand nicht bloß das Sein neuerlich hinstellen, es nun mit Bewusstsein und Absicht abpausend, oder seine Teile in seinem Innern wild miteinander mischend und durcheinanderwerfend, sondern will er wirklich schaffen, so muss er be-geistert, er muss in-spiriert sein: Er muss ein Gesicht, eine Idee schauen. Wem solch eine Idee zuteil wurde und wer sie nun versinnlicht, wer sie also ins Sein bringt, auf dass auch andere Menschen sie erblicken mögen, der, aber auch nur dieser, ist ein Poet zu nennen: „Es gilt aber nicht blos vom Poeten, sondern von jedem Besitzer der schönen Kunst: man müsse dazu geboren sein und könne nicht durch Fleiß und Nachahmung dazu gelangen; imgleichen daß der Künstler zum Gelingen seiner Arbeit noch einer ihm anwandelnden glücklichen Laune, gleich als dem Augenblicke einer Eingebung, bedürfe (daher er auch vates [ein Seher, Prophet, Inspirierter] genannt wird), weil, was nach Vorschrift und Regeln gemacht wird, geistlos (sklavisch) ausfällt, ein Product der schönen Kunst aber nicht blos Geschmack, der auf Nachahmung gegründet sein kann, sondern auch Originalität des Gedanken erfordert, die, als aus sich selbst belebend, Geist genannt wird. – Der Naturmaler mit dem Pinsel oder der Feder (das letztere sei in Prose oder in Versen) ist nicht der schöne Geist, weil er nur nachahmt; der Ideenmaler ist allein der Meister der schönen Kunst.“ (Immanuel Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. Erster Teil. Zweites Buch. Anthropologische Bemerkungen über den Geschmack. B. Vom Kunstgeschmack.)
Das deutsche Dichten mag ursprünglich vom lateinischen dictare herstammen und damit der Wurzel nach letztlich ein Sagen, ein Sprechen sein (schon hierin ist der Begriff des Dichters also weiter als der des Schriftstellers). Es darf heute, da unsere wunderbaren Sprache es nun einmal zu jener Homonymie kommen ließ, aber ganz wörtlich genommen werden: Ein Dichter ist, wer etwas verdichtet. Die Wahrheit dieses Satzes erweist die Gegenprobe der Analyse: Mein liebstes Gedicht beispielsweise, Paul Celans „Blume“, hat siebzehn Verse; die Deutung, die ich im Rahmen meines Germanistikstudiums einmal verfasste, war ungefähr zwanzig Seiten lang – und ich halte das Gedicht mit diesen zwanzig Seiten keineswegs für schon ausgedeutet. Viele literarische Erzeugnisse mögen umfangreicher sein, als sie es sein müssten oder sollten (denn sie sollten überhaupt nicht sein), sie ziehen sich zäh dahin, sind streckenweise öde oder überladen, sie sagen jedenfalls Nichts von Bedeutung und es lässt sich erschöpfend über sie sprechen und dabei doch mehr Kürze wahren, als sie selbst besitzen. Nicht so das Werk des Dichters: Dieser kann eine Anschauung, die zu machen er vielleicht ein ganzes Leben benötigte, er kann eine Idee, die vielleicht so groß ist wie die Welt selbst und über die jedenfalls lange und dabei doch vom ersten bis zum letzten Worte gehaltreiche Abhandlungen geschrieben werden könnten, in einer einzelnen Handlung, einer Szene, ja vielleicht einem Vers darstellen und verdichten.
Dichtung schließlich, ja Kunst überhaupt, ist nicht auf ihr Publikum berechnet, denn sie soll weder der bloßen Unterhaltung dienen, noch dem Erwerb ihres Schöpfers, sei es nun an Geld, an Ruhm oder Anderem, noch soll sie bloßes Mittel der Werbung sein für eine persönliche Doktrin oder Ideologie. Sie will überhaupt dem Publikum nicht gefallen, wenn es sich um ein Publikum handeln sollte, dem nur durch Niedrigkeit zu gefallen wäre. Statt dass sie sich zu diesem bequeme, soll es sich vielmehr zu ihr bequemen und sich ihrer würdig erweisen; bestenfalles also muss sie sich ihr Publikum zur rechten Auffassung und Schätzung ihrer erziehen. – In diesem letzteren ist schon ausgesprochen, dass die Dichtung, wenn sie auch nicht auf das Publikum hin entstanden ist, doch gleichwohl auf dieses wirkt. Ihre Wirkung ist dabei stets aufklärerisch. Überhaupt pflegen gute Geschichten zumeist von der Unaufgeklärtheit zu handeln: Sie erzählen entweder, wie Einer an dieser zugrunde geht oder wie Einer sich aus dieser herausarbeitet und sich hierdurch errettet. Aber noch darüber hinaus klärt Dichtung stets auf, denn sie erlaubt dem Menschen, anzuschauen das, was er sonst vielleicht nicht anschauen könnte, mithin es kennenzulernen und Nähe zu gewinnen. Sie erlaubt dieses deshalb, weil sie zum einen nicht die Wirklichkeit selber ist, weil sie eine Distanz zu dieser schafft, weil der Mensch in ihr der Wirklichkeit freier begegnen kann als dort, wo er selbst in sie verstrickt ist: in seinem alltäglichen Sein und Leben. Sie erlaubt es zudem, weil sie wirklicher ist als die Wirklichkeit, weil sie diese eben verdichtet, wodurch Manches deutlicher wird, das im Leben selbst zu sehen, es einen schärferen Blick bräuchte, als viele ihn haben: „zur Kunst gehört es, das Gewöhnliche von einer Seite, da es auffallend wird, vorzustellen“. (Immanuel Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. Erster Teil. Drittes Buch. Von den Affecten insbesondere. B. Von den verschiedenen Affecten selbst.) Die Dichtung bringt Aufklärung schließlich zum dritten, weil sie „die Geistigkeit der Menge immerfort in Bewegung, und diese Menge auf dem Boden, welchem Gesichte entkeimen,“ erhält, weil sie mit dem Leben versöhnt und somit lehrt, es – zu leben.
Als Dichter bin ich vorwiegend Epiker, erzählend also, beschreibend, Bilder erzeugend.
Philosophie
„Was ein Philosoph ist, das ist deshalb schlecht zu lernen, weil es nicht zu lehren ist: man muss es ‚wissen‘, aus Erfahrung, – oder man soll den Stolz haben, es nicht zu wissen. Dass aber heutzutage alle Welt von Dingen redet, in Bezug auf welche sie keine Erfahrung haben kann, gilt am meisten und schlimmsten vom Philosophen und den philosophischen Zuständen: – die Wenigsten kennen sie, dürfen sie kennen, und alle populären Meinungen über sie sind falsch.“
Friedrich Wilhelm Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse. Sechstes Hauptstück. 213.
„Wer ist denn der Philosoph? Ists genug, dass er es sage? […] Der Prophet, der in die Welt kommen soll, – welch Zeichen und Wunder wird er thun? Dass er die Todten lebendig mache; belebende Kraft von ihm ausgehe.“
Johann Gottlieb Fichte: Die Staatslehre, oder über das Verhältniss des Urstaates zum Vernunftreiche. Dritter Abschnitt. Voraussetzungen.
φιλοσοφία (philosophia) ist die Liebe zur Weisheit, und schon hiermit ist sehr viel gesagt: Der Philosoph sollte, wenn schon kein Weiser, so doch zumindest Einer sein, der beständig nach Weisheit strebt und der diese auch, wenn er sie etwa in Anderen fände, zu erkennen und von ihr zu lernen weiß. Nun ist Weisheit ein selten gebrauchtes Wort; man beurteilt nicht leicht einen anderen Menschen als weise, man strebt auch selbst vielleicht nach Glück, Genuss, Geld, Erfolg, Familie, Gesundheit, Kenntnissen, kaum je aber hört man jemanden äußern, er strebe nach Weisheit. Daraus ist zu folgern, dass es nicht viele Philosophen geben kann und die Philosophie etwas Fremdes und durchaus Unbekanntes ist. „Es giebt eine Kunst, sich die Dinge nur durch Worte und Namen, die man ihnen beilegt, fernzuhalten: ein Fremdwort macht uns oft das fremd, was wir sonst recht gut aus der Nähe kennen. Sage ich Weisheit und Liebe zur Weisheit, so empfinde ich gewiss etwas Heimischeres, Wirksameres als wenn ich Philosophie sage: aber wie gesagt, es ist mitunter eben die Kunst, sich die Dinge nicht zu nah kommen zu lassen. Liegt doch in den heimischen Worten oft so viel Beschämendes! Denn wer würde sich nicht schämen, sich als Weisen oder auch nur als werdenden Weisen zu bezeichnen! Aber als einen Philosophen? Das will jedermann so leicht über die Zunge: etwa so leicht als jeder den Titel Doctor trägt, ohne jemals an die so anmaassliche Confession, die in ihm liegt, Lehrer zu sein, zu denken. Nehmen wir also an, dass das Fremdwort Philosoph von der Scham und Bescheidenheit eingegeben ist: oder wäre es wahr, dass vielleicht gar keine Liebe zur Weisheit da ist, und die fremdländische Bezeichnung, etwa wie bei dem Worte ‚Doctor‘ nur den Mangel an Inhalt, die Leere des Begriffs verhüllen soll? Es ist mitunter ausserordentlich schwer, das Vorhandensein einer Sache nachzuweisen: so verquickt, übersetzt, versteckt, so diluirt und abgeschwächt ist sie, während die Namen beharrlich sind und Verführer obendrein. Ist das, was wir jetzt Philosophie nennen, wirklich Liebe zur Weisheit? Und giebt es jetzt überhaupt wahre Freunde der Weisheit? Setzen wir ungescheut Liebe zur Weisheit an Stelle des Wortes Philosophie: es wird schon herauskommen, ob sie sich decken.“ (Friedrich Wilhelm Nietzsche: Nachgelassene Fragmente 1873 30[30].)
Abgetan ist mit dieser Bestimmung jede schändliche Profanierung dieses hehren Wortes: Es gibt keine Unternehmensphilosophie, es hat auch keine Fußballmannschaft eine Spielphilosophie. Auch jene im Laufe eines Lebens zu einem inkonsequenten Brei zusammengerührten Vorurteile, die Menschen, welche noch nie etwas angeschaut, ja welche gar kein geistiges Auge und kaum auch nur ein physisches haben, ihre Weltanschauung zu nennen pflegen, sind nicht Philosophie.
Abgetan ist aber auch die nicht weniger profane ganz unbestimmte Bestimmung, Philosophieren, das sei irgendein Nachdenken. Über irgendwelche Fragen, die er für tiefsinnig hält, über das Sein, die Erkenntnis, den Sinn des Lebens – was immer all dieses eigentlich sein mag – zu räsonieren, das ist dem gemeinen Menschen vielleicht Philosophie. Aber in Wahrheit ist es bloße Philodoxie, Liebe zur Meinung, nicht zur Wahrheit. Es ist blanke und schamlose Philodoxie, die spricht: ein jeder sei doch irgendwie Philosoph, oder auch: Meinungen könnten doch nicht richtig oder falsch sein, ein jeder habe eben die seine und ein jeder könne daher auch seine Philosophie haben. Der Philodox hat einen Haufen von Kenntnissen, der wirklich ein Haufen zu nennen ist, denn er ist, um ein Bild Fichtes zu gebrauchen, einem Sandhaufen gleich, in dem kein System, kein organischer Zusammenhang ist, sondern bloß zahllose für sich bestehende Körnchen bei-, neben- und übereinander liegen. Diesen Sandhaufen nun in Mußestunden einmal ein wenig durchzuwühlen und die Körner beliebig umzuschichten, das ist nun, was der gemeine Verstand unter Denken versteht und wovon er zurecht meint: das könnte er doch ebenso gut als irgendein großer Philosoph. Der Philosoph aber denkt nicht nach, denn Philosophie ist keine empirische Wissenschaft und fasst nicht historisch die Fakten auf, um dann das schon Gegebene zu erforschen und Meinungen darüber zu formulieren, sie ist nicht bloß „ein Nachbilden, Nachconstruiren des Denkens, dieses aus seinem organischen Zusammenhange mit der Anschauung gerissen, also wenn man will, ein Denken des Denkens.“ (Johann Gottlieb Fichte: Ueber das Verhältniß der Logik zur Philosophie oder transscendentale Logik. XXIII. Vortrag.) Vielmehr ist Philosophie die Wissenschaft vom Übersinnlichen, ist der Philosoph derjenige, der die Ideen schaut. Ja, nicht nur das Nach denken ist nicht das Geschäft des Philosophen, man überschätzt überhaupt die Rolle des Denkens in der Philosophie, wenigstens wenn man unter Denken im herkömmlichen Sinne jenes soeben beschriebene Umrühren des Sandhaufens, jenes willkürliche Nachsinnen, Räsonnieren und Aneinanderreiben und Kombinieren der eigenen Meinungen versteht. Die Philosophie erlaubt nur einen einzigen Akt der Willkür: Jenen, mit dem man überhaupt zu philosophieren beginnt. Dann aber verlangt sie ein Hingeben an das Denken, d. i. ein Anschauen desselben. Der Philosophie ist bewusst, dass ein Faktum nicht einfach gegeben, sondern dass es ein Gemachtes ist – facere nämlich heißt machen: Ihr Blick, statt historisch zu sein, „ist genetisch, das Denken sehend in seinem Werden, hervorgehend aus dem Gesetze“ (Johann Gottlieb Fichte: Ueber das Verhältniß der Logik zur Philosophie oder transscendentale Logik. XXIII. Vortrag). Die Philosophie gründet daher auf intellektueller Anschauung, ihre erste Voraussetzung ist nicht etwa große Klugheit, die zu komplizierten Windungen des Denkens fähig ist, sondern ein ganz bestimmter unbedarfter und klarer Blick. Dies erfordert, dass der Philosoph gerade nicht sein Selbst und seine Meinungen in den Vordergrund stelle, sondern dass er vielmehr von seinem empirischen Partikular-Ich zur Gänze abstrahiere, um der allgemeinen Vernunft zuzusehen.
Aber auch an den Universitäten findet Philosophie nicht statt, wird auch Philosophie nicht gelehrt, und nicht dies macht mich zum Philosophen, dass ich für einige Semester durch einen bestimmten Studiengang ging, betonte doch schon Kant, dass man „unter allen Vernunftwissenschaften (a priori) nur allein Mathematik, niemals aber Philosophie (es sei denn historisch), sondern, was die Vernunft betrifft, höchstens nur philosophiren lernen“ (Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. Zweite, hin und wieder verbesserte Auflage. II. Drittes Hauptstück) kann – höchstens, denn an den heutigen Universitäten lernt man dieses am allerwenigsten, ist doch ein jeder schon vor Antritt seines Studiums ein rechter Philodox und glaubt, bereits denken zu können. Und weil sie schon denken können, stürzen sie sich sogleich auf die Werke der großen Denker, die sie zum Gegenstand ihrer gelehrten Studien machen. Philosophie erscheint heute „[v]or allem als Kenntniss der Geschichte der Philosophie; während für den Genius, welcher rein und mit Liebe, dem Dichter ähnlich, auf die Dinge blickt und sich nicht tief genug in sie hineinlegen kann, das Wühlen in zahllosen fremden und verkehrten Meinungen so ziemlich das widrigste und ungelegenste Geschäft ist. Die gelehrte Historie des Vergangnen war nie das Geschäft eines wahren Philosophen, weder in Indien, noch in Griechenland; und ein Philosophieprofessor muss es sich, wenn er sich mit solcherlei Arbeit befasst, gefallen lassen, dass man von ihm, besten Falls, sagt: er ist ein tüchtiger Philolog, Antiquar, Sprachkenner, Historiker: aber nie: er ist ein Philosoph. Jenes auch nur besten Falls, wie bemerkt: denn bei den meisten gelehrten Arbeiten, welche Universitätsphilosophen machen, hat ein Philolog das Gefühl, dass sie schlecht gemacht sind, ohne wissenschaftliche Strenge und meistens mit einer hassenswürdigen Langweiligkeit. Wer erlöst zum Beispiel die Geschichte der griechischen Philosophen wieder von dem einschläfernden Dunste, welchen die gelehrten, doch nicht allzuwissenschaftlichen und leider gar zu langweiligen Arbeiten Ritter’s, Brandis und Zeller’s darüber ausgebreitet haben? Ich wenigstens lese Laertius Diogenes lieber als Zeller, weil in jenem wenigstens der Geist der alten Philosophen lebt, in diesem aber weder der noch irgend ein andrer Geist.“ (Friedrich Wilhelm Nietzsche: Unzeitgemässe Betrachtungen. Drittes Stück: Schopenhauer als Erzieher. 8.) Aber es sei: Philosophiegelehrte mag es einmal geben an den Universitäten, aber das sind eben keine Philosophen. Keiner meiner Dozenten in der Germanistik wäre auf den irrwitzigen Gedanken verfallen, sich einen Dichter zu nennen; sie waren Literaturwissenschaftler und waren auch zufrieden, dies zu sein. Ebenso sind jene, die sich akademisch mit Philosophie befassen, die die Werke von Philosophen zu diesem Zwecke studieren und interpretieren, Philosophiewissenschaftler oder Philosophologen. Das muss Jedem unmittelbar einleuchten, selbst wenn er von Philosophie nichts verstünde; dass nicht nur die Öffentlichkeit dies nicht weiß, dass vielmehr die Philosophologen selbst es nicht wissen und sich vielfach anmaßen, Philosophen sein zu wollen, zeigt, wie wenig sie selbst als Philosophologen taugen, wissen sie doch nicht einmal, was ihr Forschungsgegenstand – die Philosophie – ist und was sie nicht ist. Die Afterphilosophie, die es gibt, wenn diese Damen und Herren, mit ihrem Dasein als Historiker, Philologen und Interpreten der Philosophie nicht zufrieden, das Räsonieren anfangen, nannte Nietzsche treffend Denkwirtschaft. Die Denkwirte sind ein elendes Völkchen, das, vom Staate besoldet, in seiner universitären Blase lebt, aber sehr wohl um den Unwert und die Bedeutungslosigkeit seines Treibens wissen muss: Die eigenen Kollegen aus ernsthafteren akademischen Disziplinen achten ihrer vielfach nicht und die Öffentlichkeit interessiert sich nicht für ihre Meinungen und Gedünkel. Der gemeine Verstand tut recht hieran, denn diese ganze universitäre Denkwirtschaft ist bei aller Prätention denn doch nur Philodoxie, zu der er doch auch selbst fähig ist. Was kümmert, dass diese Philosophaster ein wenig geschwollener daherreden können, dass sie wie die Vertreter jedes Faches ihren Expertenjargon entwickelt haben und einige Meinungsfetzen Anderer und längst Verstorbener vortragen können? Dies alles macht ihre äußere Hülle aus, nicht ihr inneres Wesen. Dieses unterscheidet sich nicht von dem jedes außerhalb des Faches stehenden Räsoneurs: Dass es eine Vernunft, dass es Gesetze gibt, dass man nicht einfach drauf los denkt, sondern denken mehr denn alles übrige Tun erst einmal zu lernen hat, dass es wirkliche Wahrheit, echte und übers leere Meinen hinausgehende Überzeugung gibt, dass der Philosoph zuerst und vor allem ein Schauender ist und mit Argumenten nichts zu schaffen hat, von alledem wissen sie nichts – ein weiterer Beleg, dass sie auch als Philosophologen nichts taugen, denn sie müssten es doch wenigstens einmal gelesen haben und es müsste ihnen doch wenigstens historische Kenntnis sein –; kurzum: wie der gemeine Philodox auch haben sie von ihrem Selbst gerade nicht abstrahiert und können daher auch nichts anderes vortragen als wieder und wieder den beschränkten Dünkel dieses Selbst. Wer in seinem Leben schon einmal einem akademisch mit der Philosophie beschäftigten Dozenten begegnet ist, der frage sich nur selbst, ob dieser Mensch etwa – und insbesondere, ob er mehr als alle Übrigen – ein nach Weisheit Strebender war. Nein, das sind sie nicht, sie sind vielmehr nicht nur nicht die Freunde der Weisheit, sie sind ihre Feinde, sie bekämpfen sie und die Philosophie, so weit ihr geringes Vermögen eben reicht. „[Z]ugegeben dass diese Schaar von schlechten Philosophen lächerlich ist — und wer wird es nicht zugeben? — in wiefern sind sie denn auch schädlich? Kurz geantwortet: dadurch dass sie die Philosophie zu einer lächerlichen Sache machen. So lange das staatlich anerkannte Afterdenkerthum bestehen bleibt, wird jede grossartige Wirkung einer wahren Philosophie vereitelt oder mindestens gehemmt und zwar durch nichts als durch den Fluch des Lächerlichen, den die Vertreter jener grossen Sache sich zugezogen haben, der aber die Sache selber trifft.“ (Friedrich Wilhelm Nietzsche: Unzeitgemässe Betrachtungen. Drittes Stück: Schopenhauer als Erzieher. 8.) Dies, dass die Philosophologen der Philosophie Feinde sind, muss jeder erkennen, der einmal hinschaut, wie sie mit den Philosophen verfahren: Haben sie einen echten und lebendigen Philosophen vor sich, so erkennen sie ihn nicht, bestenfalls – und dies ist schon viel – nehmen sie ihn für einen der ihren, um Nichts schlechter, aber ganz gewiss auch um Nichts besser als sie. Und was die alten und verstorbenen Philosophen angeht, deren Schriften sie lesen – wenn sie denn lesen! –, so tun sie dies nicht mit der gebührenden Ehrfurcht und frommen Scheu, sie tun es nicht, um von ihnen zu lernen, sondern sie suchen Fehler, sie zerreden das Große und Tiefe, sie ergehen sich in Relativismus und Halbheiten, behandeln das vor ihnen Liegende, als wäre es auch nur Meinung und Denkwirtschaft. Und sie sind es, denen man Schuld an der Verelendung und am Tode der Philosophie in den beiden vergangenen Jahrhunderten geben muss, sie sind es, die ihre Banalisierung und Profanierung betrieben haben und deretwegen der gemeine Mensch, der Philosophie mit ihrer Denkwirtschaft gleichsetzt, Philosophie nun für etwas für sein Leben Gleichgültiges und für müßiges Gewäsch hält, das er nicht zu beachten braucht, weil er schwätzen und meinen ebenso trefflich kann wie jeder Philosoph. „Überhaupt in’s Grosse gerechnet, mag es vor Allem das Menschliche, Allzumenschliche, kurz die Armseligkeit der neueren Philosophen selbst gewesen sein, was am gründlichsten der Ehrfurcht vor der Philosophie Abbruch gethan und dem pöbelmännischen Instinkte die Thore aufgemacht hat. Man gestehe es sich doch ein, bis zu welchem Grade unsrer modernen Welt die ganze Art der Heraklite, Plato’s, Empedokles‘, und wie alle diese königlichen und prachtvollen Einsiedler des Geistes geheissen haben, abgeht; und mit wie gutem Rechte Angesichts solcher Vertreter der Philosophie, die heute Dank der Mode ebenso oben-auf als unten-durch sind […] ein braver Mensch der Wissenschaft sich besserer Art und Abkunft fühlen darf.“ (Friedrich Wilhelm Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse. Sechstes Hauptstück. 204.) Man wird all dieses unbillig, ja überheblich finden, besonders die Kaste der Denkwirte selbst wird über diese Zeilen pikiert sein. Dabei ist dies doch nichts weniger als meine persönliche Meinung, vielmehr erweise ich gerade damit, dass ich so spreche, dass ich wirklich ein Philosoph bin, ebenso wie andere dadurch, dass sie nicht so sprechen, erweisen, dass sie keine sind: Ebenso wie die Bibel streng unterscheidet zwischen Propheten und gedungenen Tempelpropheten und vor den letzteren warnt, so wussten doch alle Philosophen um den Unterschied zwischen sich und den Universitätsphilosophen und waren immer die Gegner der seichten Gelehrten und der Intellektuellen. Schon Sokrates, der vielen als erster Philosoph galt und gilt, und Platon waren im Streit mit den Sophisten, den angemaßten Weisen und den Schwätzern von Profession. Freilich, die Denkwirte von heute sehen sich in eben dieser sokratischen Tradition und meinen, mit Sokrates sei die Sophisterei überwunden; sie sind darin so überheblich und dumm wie jene Christianer, die die Unmoral mit Jesus überwunden wähnen, oder wie jene Mohammedaner, die meinen, sie wären keine Götzendiener mehr, bloß weil sie den Namen Mohammeds im Munde führen. Die Wahrheit ist, dass auch die Späteren unter den Alten wohl wussten, dass ein Philosophielehrer kein Philosoph ist; – und die Neueren wussten es ebenso: Die großen Denker der Renaissance waren zugleich die großen Kritiker des scholastischen Schulbetriebes, Kant verlieh nur wenigen den Ehrennamen des Philosophen, unter welchen wenigen sich jemand wie der Arzt Hufeland, aber gewiss nicht jeder seiner akademischen Kollegen fand, Fichte und Nietzsche geißelten fürchterlich die universitären Philosophiedozenten und die von ihnen ausgehende Verfinsterung und Arendt schwor sich zunächst, nie mehr etwas mit intellektuellen Dingen zu tun haben zu wollen, nachdem sie 1933 gesehen hatte, wie bereitwillig die Intellektuellen ihre Räsonierkunst im Sinne der neuen Gewalt gebrauchten. Dass sie sich diese Ablehnung aller Philosophen und großen Denker nicht zum Bewusstsein bringen und niemals auf diese und ihre Bedeutung reflektieren, zeigt schon zur Genüge, was von unseren Philosophologen zu halten ist. „Steht es aber so in unsrer Zeit, so ist die Würde der Philosophie in den Staub getreten: es scheint, dass sie selber zu etwas Lächerlichem oder Gleichgültigem geworden ist: so dass alle ihre wahren Freunde verpflichtet sind, gegen diese Verwechslung Zeugniss abzulegen und mindestens so viel zu zeigen, dass nur jene falschen Diener und Unwürdenträger der Philosophie lächerlich oder gleichgültig sind. Besser noch, sie beweisen selbst durch die That, dass die Liebe zur Wahrheit etwas Furchtbares und Gewaltiges ist.“ (Friedrich Wilhelm Nietzsche: Unzeitgemässe Betrachtungen. Drittes Stück: Schopenhauer als Erzieher. 8.) „Imgleichen wird man deutlich einsehen, daß es der Philosophie sehr unnatürlich sei eine Brodkunst zu sein, indem es ihrer wesentlichen Beschaffenheit widerstreitet, sich dem Wahne der Nachfrage und dem Gesetze der Mode zu bequemen, und daß nur die Nothdurft, deren Gewalt noch über die Philosophie ist, sie nöthigen kann, sich in die Form des gemeinen Beifalls zu schmiegen.“ (Immanuel Kant: M. Immanuel Kants Nachricht von der Einrichtung seiner Vorlesungen in dem Winterhalbenjahre von 1765-1766.) Es ist a priori erweisbar, dass ein Philosoph an einer Universität, im Dienste eines Staates und umgeben von Nichtphilosophen, gedeihen, Karriere machen und bestehen gar nicht kann. Man müsste denn voraussetzen, was unser Zeitalter tatsächlich stillschweigend voraussetzt, dass die Wahrheit – welche die Philosophen doch suchen sollen – keine schreckliche geharnischte Göttin, sondern ein zahnloses altes Weib und ein letzten Endes sehr harmloses Ding ist, das man suchen und gar finden und aussprechen kann, ohne die Gesellschaft, den Staat, die Welt in ihren Grundfesten zu erschüttern, ja ohne auch nur die eigene spießbürgerliche Existenz anzugreifen. An einer Universität ist Philosophie nicht möglich, es kann dort immer nur Viehlosophie geben: das sanfte Muhen eingehegten zahmen Hausviehs. Der Philosoph ist immer ein Unzeitgemäßer und ein Kritiker seiner Zeit, „ein nothwendiger Mensch des Morgens und Übermorgens[, der] sich jederzeit mit seinem Heute in Widerspruch befunden hat und befinden musste: sein Feind war jedes Mal das Ideal von Heute. Bisher haben alle diese ausserordentlichen Förderer des Menschen, welche man Philosophen nennt, und die sich selbst selten als Freunde der Weisheit, sondern eher als unangenehme Narren und gefährliche Fragezeichen fühlten –, ihre Aufgabe, ihre harte, ungewollte, unabweisliche Aufgabe, endlich aber die Grösse ihrer Aufgabe darin gefunden, das böse Gewissen ihrer Zeit zu sein. Indem sie gerade den Tugenden der Zeit das Messer vivisektorisch auf die Brust setzten, verriethen sie, was ihr eignes Geheimniss war: um eine neue Grösse des Menschen zu wissen, um einen neuen ungegangenen Weg zu seiner Vergrösserung. Jedes Mal deckten sie auf, wie viel Heuchelei, Bequemlichkeit, Sich-gehen-lassen und Sich-fallen lassen, wie viel Lüge unter dem bestgeehrten Typus ihrer zeitgenössischen Moralität versteckt, wie viel Tugend überlebt sei; jedes Mal sagten sie: ‚wir müssen dorthin, dorthinaus, wo ihr heute am wenigsten zu Hause seid.‘“ (Friedrich Wilhelm Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse. Sechstes Hauptstück. 212.) Und das Schicksal eines echten Philosophen an einer Universität müsste stets in etwa jenes Christian Wolffs sein, der, nachdem er als akademischer Lehrer in Halle die ethische Güte betont hatte, zu der es Konfuzius und die Chinesen, auch ohne Christentum, gebracht hätten, auf Anordnung des preußischen Königs 1723 seines Amtes enthoben wurde und die Stadt binnen 48 Stunden bei Androhung des Strangs zu verlassen hatte. Und wollte mir jemand entgegenhalten, es habe doch wenigstens eine Zeit gegeben, da die Philosophen tatsächlich zugleich auch die Philosophieprofessoren waren, jene Zeit um die Französische Revolution nämlich, so würde ich dies zwar zugestehen, aber einwenden: Hier handelte es sich auch um eine einmalige Zeit, da eine echte Möglichkeit zur Verwirklichung der Aufklärung gegeben war und da insbesondere Preußen am Scheideweg stand und sich noch entscheiden konnte, ob es ein National- oder vielmehr ein Rationalstaat würde. Und ich würde hinzufügen, dass selbst in der besonderen Atmosphäre jener Jahre für Philosophen kaum ein Platz an der Universität war: Kant konnte den seinen nur bewahren und sich das Los Wolffs ersparen, indem er sich der Willkür beugte und dem Preußenkönig das Zugeständnis machte, von Religionsdingen nicht mehr zu sprechen, also indem er gerade darauf Verzicht tat, Philosoph zu sein. Fichte, mehr Philosoph als Kant, musste hingegen nicht nur einer Universität, sondern gleich zweien im Laufe seines Lebens den Rücken kehren. All dieses berechtigt, ja verpflichtet mich, mit Nietzsche zu sagen: „Ich bestehe darauf, daß man endlich aufhöre, die philosophischen Arbeiter und überhaupt die wissenschaftlichen Menschen mit den Philosophen zu verwechseln, – daß man gerade hier mit Strenge ‚jedem das Seine‘ und Jenen nicht viel zu Viel, Diesen nicht viel zu Wenig gebe.“ (Friedrich Wilhelm Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse. Sechstes Hauptstück. 211.)
Was aber ist nun der Philosoph? „[D]er Gesetzgeber der menschlichen Vernunft“ (Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. Zweite, hin und wieder verbesserte Auflage. II. Drittes Hauptstück), wie Kant es ausdrückt, einer, der Werte schafft, wie Nietzsche sagt, der spricht: „Die eigentlichen Philosophen aber sind Befehlende und Gesetzgeber: sie sagen ‚so soll es sein!‘, sie bestimmen erst das Wohin? und Wozu? des Menschen und verfügen dabei über die Vorarbeit aller philosophischen Arbeiter, aller Überwältiger der Vergangenheit, – sie greifen mit schöpferischer Hand nach der Zukunft, und Alles, was ist und war, wird ihnen dabei zum Mittel, zum Werkzeug, zum Hammer. Ihr ‚Erkennen‘ ist Schaffen, ihr Schaffen ist eine Gesetzgebung, ihr Wille zur Wahrheit ist – Wille zur Macht.“ (Friedrich Wilhelm Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse. Sechstes Hauptstück. 211.) Der Philosoph beschreibt und ergründet nicht, was ist, wie es der historische Forscher tut, er verwandelt die Welt, schon dadurch, dass er sie anschaut, wie niemand sonst es tut, und er spricht aus, was sein soll. Die Idee, die der Dichter versinnlicht und den Menschen anschaubar macht, wird vom Philosophen begrifflich erfasst und somit denkbar gemacht. Philosophie ist dabei vor allem praktisch, sie selbst ist nicht das Leben, ja ist das gerade Gegenteil des Lebens, aber auf das Leben geht sie aus und fließt sie ein. Nicht eine Erkenntnis, nicht ein theoretisches Lehrgebäude ist ihr eigentliches Ergebnis, sondern ein Ethos, eine Haltung. Und diese Haltung verkörpert der Philosoph selbst, lehrt sie vielleicht noch mehr durch sein Sein, sein Handeln und Wandeln als durch seine Worte. „[Videndum] utrum doceant isti virtutem an non: si non docent, ne tradunt quidem; si docent, philosophi sunt.“ („Man muss darauf sehen, ob sie die Tugend lehren oder nicht. Lehren sie dieselbe nicht, so verhelfen sie uns auch nicht dazu. Lehren sie dieselbe, so sind sie Philosophen.“ Lucius Annaeus Seneca. Epistulae morales ad Lucilium (Moralische Briefe an Lucilius). Brief 88.4.) Dass man dies nicht weiß, dass Philosophie vielmehr zuvörderst als ein theoretisches Unterfangen betrachtet wird, dass man ernstlich glaubt, jemand könne Philosoph sein, ohne sich dabei doch in seinem Betragen, seinem ganzen Lebenswandel von seinen Zeitgenossen abzuheben, könne Philosoph sein also, ohne dass ein jeder es instinktiv spüren müsste – dies alles ist nur Beweis, wie sehr die Philosophie und selbst die bloße Kenntnis um die Philosophie verloren ging und selbst den Philosophologen unbekannt ist. Denn abermals trage ich nicht eine persönliche, vielleicht nur um des Abweichens selber willen von der herkömmlichen abweichende Meinung vor, sondern etwas, das, im Kreise der Philosophen gesprochen, ein Gemeinplatz wäre. Den Alten waren der Philosoph und das Leben des Philosophen eins; das rechte, das glückselige und das tugendhafte Leben war ihnen der Inhalt der Philosophie. Unter den Neueren waren Kant, Fichte, Nietzsche und Vielen mehr die Moral, die Religion, das Ja zum Leben der eigentliche Gegenstand all ihres Philosophierens, ihnen stand die Theorie im Dienste der Praxis. „[D]er Philodox, strebt bloß nach spekulativem Wissen, ohne darauf zu sehen, wie viel das Wissen zum letzten Zwecke der menschlichen Vernunft beitrage; er giebt Regeln für den Gebrauch der Vernunft zu allerlei beliebigen Zwecken. Der praktische Philosoph, der Lehrer der Weisheit durch Lehre und Beispiel, ist der eigentliche Philosoph. Denn Philosophie ist die Idee einer vollkommenen Weisheit, die uns die letzten Zwecke der menschlichen Vernunft zeigt.“ (Immanuel Kant: Immanuel Kant’s Logik (Herausgegeben von Gottlob Benjamin Jäsche). Einleitung. III.) „Wesentliche Zwecke sind darum noch nicht die höchsten, deren (bei vollkommener systematischer Einheit der Vernunft) nur ein einziger sein kann. Daher sind sie entweder der Endzweck, oder subalterne Zwecke, die zu jenem als Mittel notwendig gehören. Der erstere ist kein anderer, als die ganze Bestimmung des Menschen, und die Philosophie über dieselbe heißt Moral. Um dieses Vorzugs willen, den die Moralphilosophie vor aller anderen Vernunftbewerbung hat, verstand man auch bei den Alten unter dem Namen des Philosophen jederzeit zugleich und vorzüglich den Moralisten, und selbst macht der äußere Schein der Selbstbeherrschung durch Vernunft, daß man jemanden noch jetzt, bei seinem eingeschränkten Wissen, nach einer gewissen Analogie, Philosoph nennt.“ (Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. Zweite, hin und wieder verbesserte Auflage. II. Drittes Hauptstück.) Es ist also die Idee des höchsten Guts, die den Inhalt aller wahren Philosophie ausmacht. „Diese Idee praktisch, d. i. für die Maxime unseres vernünftigen Verhaltens, hinreichend zu bestimmen, ist die Weisheitslehre, und diese wiederum als Wissenschaft ist Philosophie in der Bedeutung, wie die Alten das Wort verstanden, bei denen sie eine Anweisung zu dem Begriffe war, worin das höchste Gut zu setzen, und zum Verhalten, durch welches es zu erwerben sei. Es wäre gut, wenn wir dieses Wort bei seiner alten Bedeutung ließen, als eine Lehre vom höchsten Gut, so fern die Vernunft bestrebt ist, es darin zur Wissenschaft zu bringen. Denn einestheils würde die angehängte einschränkende Bedingung dem griechischen Ausdrucke (welcher Liebe zur Weisheit bedeutet) angemessen und doch zugleich hinreichend sein, die Liebe zur Wissenschaft mithin aller speculativen Erkenntniß der Vernunft, so fern sie ihr sowohl zu jenem Begriffe, als auch dem praktischen Bestimmungsgrunde dienlich ist, unter dem Namen der Philosophie mit zu befassen, und doch den Hauptzweck, um dessentwillen sie allein Weisheitslehre genannt werden kann, nicht aus den Augen verlieren lassen. Anderen Theils würde es auch nicht übel sein, den Eigendünkel desjenigen, der es wagte sich den Titel eines Philosophen selbst anzumaßen, abzuschrecken, wenn man ihm schon durch die Definition den Maßstab der Selbstschätzung vorhielte, der seine Ansprüche sehr herabstimmen wird; denn ein Weisheitslehrer zu sein, möchte wohl etwas mehr als einen Schüler bedeuten, der noch immer nicht weit genug gekommen ist, um sich selbst, vielweniger um andere, mit sicherer Erwartung eines so hohen Zwecks, zu leiten; es würde einen Meister in Kenntniß der Weisheit bedeuten, welches mehr sagen will, als ein bescheidener Mann sich selber anmaßen wird, und Philosophie würde, so wie die Weisheit selbst noch immer ein Ideal bleiben, welches objetiv in der Vernunft allein vollständig vorgestellt wird, subjectiv aber, für die Person, nur das Ziel seiner unaufhörlichen Bestrebung ist, und in dessen Besitz unter dem angemaßten Namen eines Philosophen zu sein, nur der vorzugeben berechtigt ist, der auch die unfehlbare Wirkung derselben (in Beherrschung seiner selbst, und dem ungezweifelten Interesse, das er vorzüglich am allgemeinen Guten nimmt) an seiner Person als Beispiele aufstellen kann, welches die Alten auch forderten, um jenen Ehrennamen verdienen zu können.“ (Immanuel Kant: Kritik der praktischen Vernunft. Erster Teil. Zweites Buch. Erstes Hauptstück.)
Wenn ich die Philosophie als tätig und als kräftig in das Leben eingreifend beschreibe, so ist klar, dass auch Philosophie immer aufklärerisch ist. Philosophie lehrt uns jenes Denken erst, um das es der Aufklärung zu tun ist; nimmt man sie hinweg, hat man also nur Philodoxie, dann ist auch Aufklärung nur Ausklärung, dann ist alles selbstständige Denken nur ein bodenloses und der Laune unterworfenes Meinen. Philosophie eröffnet uns die Freiheit, zu der wir uns im Prozess der Aufklärung erheben sollen. Ja, sie ist die Wissenschaft von der Freiheit, und indem sie das Übersinnliche betrachtet, indem sie das Sein aus dem Gesetz werden sieht, erweist sie, inwiefern Freiheit wirklich ist, und gibt zugleich die Ideen, nach denen das Sein zu formen eben die Freiheit ist und die einzige Freiheit ist, die über Willkür hinausgeht und keine Täuschung des niederen Bewusstseins bedeutet. „Der Philosoph, wie wir ihn verstehen, wir freien Geister –, als der Mensch der umfänglichsten Verantwortlichkeit, der das Gewissen für die Gesammt-Entwicklung des Menschen hat“ (Friedrich Wilhelm Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse. Drittes Hauptstück. 61.), der Philosoph ist daher der „Arzt der Kultur.“ (Friedrich Wilhelm Nietzsche: Nachgelassene Fragmente 1873 30[8])
Als Philosoph zähle ich mich nicht zu den Vernunftwissenschaftlern, sondern zu den Vernunftkünstlern. Denn nachdem die Vernunftwissenschaft von Kant grundgelegt wurde, wurde sie von Fichte im System der Wissenschaftslehre vollendet. Sowohl an der Darstellung als auch an den Details der Wissenschaftslehre mag noch zu arbeiten und mag bis in alle Ewigkeit noch zu arbeiten sein. Aber diese Aufgabe überlasse ich Künftigen, die sich vielleicht gerade auf meine Anregung hin ihrer widmen werden; ich schließe auch nicht gänzlich aus, sie selbst einmal in späteren Jahren zu übernehmen. Für den Moment aber ist nicht die Verbesserung und Vervollkommnung der Wissenschaftslehre geboten, die ja doch niemand auch nur zur Kenntnis nehmen würde, da niemand die Wissenschaftslehre zur Kenntnis nimmt, sondern es ist endlich an der Zeit, dass sie wirke und dass das Leben nach ihr gestaltet werde. Und aus diesem Grunde ist es meine Aufgabe, aus der theoretisch fertig daliegenden Wissenschaft die praktische Kunst zu entwickeln, die aufs Leben wirkt, und diese zu lehren. Vorbei ist also hiermit jenes finstere Zeitalter in der Philosophiegeschichte, da Adorno sprechen durfte: „Nachdem Philosophie das Versprechen, sie sei eins mit der Wirklichkeit oder stünde unmittelbar vor deren Herstellung, brach, ist sie genötigt, sich selber rücksichtslos zu kritisieren.“ (Theodor W. Adorno: Negative Dialektik. Einleitung.) Aus ihrer Selbstkritik, die deshalb freilich alles andere als obsolet geworden ist, gestärkt hervorgegangen, ist es nun Zeit für die Philosophie, endlich wieder an sich selbst zu glauben und ein neues Kapitel ihrer Geschichte aufzuschlagen: Die Philosophie der Zukunft, die Nietzsche vor über einem Jahrhundert prophezeite, soll von nun an Gegenwart sein.
Aufklärung
„Puto multos potuisse ad sapientiam pervenire, nisi putassent se pervenisse, nisi quaedam in se dissimulassent, quaedam opertis oculis transiluissent.“ („Ich glaube, viele hätten zur Weisheit gelangen können, wenn sie nicht geglaubt hätten, sie schon erreicht zu haben, wenn sie sich nicht manchen Fehler selbst verhehlt hätten, an manchen auch mit geschlossenen Augen vorübergegangen wären.“
Annaeus Serenus (Lucius Annaeus Seneca: De Tranquillitate Animi. I.17).)
„‚Was ist Aufklärung?‘
Antwort: das weiß jedermann, der vermittelst eines Paars sehender Augen erkennen gelernt hat, worin der Unterschied zwischen hell und dunkel, Licht und Finsterniß besteht. Im dunkeln sieht man entweder gar nichts, oder wenigstens nicht so klar daß man die Gegenstände recht erkennen und von einander unterscheiden kann: sobald Licht gebracht wird, klären sich die Sachen auf, werden sichtbar und können von einander unterschieden werden – doch wird dazu zweyerley nothwendig erfordert: 1) daß Licht genug vorhanden sey, und 2) daß diejenige, welche dabey sehen sollen, weder blind noch gelbsüchtig seyen, noch durch irgend eine andere Ursache verhindert werden, sehen zu können oder sehen zu wollen.“
Timalethes (Christoph Martin Wieland: Ein paar Goldkörner aus – Maculatur oder Sechs Antworten auf sechs Fragen.)
Zunächst ist mit Aufklärung ein Prozess bezeichnet. Niemand ist aufgeklärt, man kann diesem Ideale nur entgegenstreben. Wer glaubt, er könnte bereits denken, er wäre bereits vernünftig, für ihn gäbe es im tieferen Sinne nichts mehr zu lernen im Leben: er könnte wohl noch immer neue Kenntnisse über dieses oder jenes sich anschaffen, er sei aber als Mensch bereits fertig und müsse weder an sich arbeiten noch sich irgendwelche Belehrungen gefallenlassen – der ist nicht nur unaufgeklärt, der ist für die Aufklärung auch so gut als verloren. Man meint heute, die Aufklärung hinter sich zu haben, meint, dass das Zeitalter der Aufklärung sicherlich bedeutsam gewesen sei und uns vom Aberglauben des angeblich finsteren Mittelalters befreit habe, dass die Aufklärung sich aber, wenigstens in der westlichen Welt, seither durchgesetzt habe und bestenfalls andere Weltgegenden und Völkerschaften sich noch auf unser Level zu erheben hätten. Schon hierin offenbart das Zeitalter seine Unaufgeklärtheit, offenbart auch seine Ignoranz gegenüber dem Zeitalter der Aufklärung, sein Unwissen und seine Gleichgültigkeit nämlich darüber, inwiefern es nicht schlicht in dessen Nachfolge steht, sondern zwischen ihm und jenem vielmehr ein tiefer Bruch stattfand. Man hat sich vor zweihundert Jahren von der Aufklärung abgewandt, man hat seither Verfinsterung getrieben – die Folgen hiervon liegen klar am Tage –, und dass man die Aufklärung für bereits abgeschlossen und für etwas, das uns nicht mehr beschäftigen müsse, erklärte, ja dass man, anstatt sie offen abzulehnen und zu bekämpfen, vielfach ihren Namen hochhielt, aber unter der Würde seines edlen Klanges eine gänzlich andere, ja allem Streben der Aufklärer von Einst entgegengesetzte Bedeutung verbarg und damit den eigentlichen Sinn des Wortes Aufklärung beinahe gänzlich in Vergessenheit geraten ließ, kurz und mit einem Worte: die Ausklärung – dies ist nur die perfideste und wirkungsvollste Weise der Verfinsterung.
Sodann bezeichnen Aufklärung wie auch ihr Gegenteil Haltungen. Die Aufklärung ist keine Doktrin, keine sogenannte Weltanschauung, zu der man sich eben bekennt oder nicht. Es möchte sein, dass einzelne Glaubensartikel nicht mit dem selbstständigen Denken vereinbar sind, ja es möchte wohl sein – da die Wahrheit, was immer der seichte und zu jedem klaren Bekenntnis zu feige Relativismus auch behaupten mag, nur eine ist –, dass sie alle bis auf einen es nicht sind. Aber nicht als Glaubenssätze und zugunsten eines anderen, besseren sind sie zu verwerfen, sondern höchstens, weil die Vernunft selbst sie verwirft, sobald ein Mensch sich nur dahin erhebt, sie zu befragen. Keineswegs ist es bei der Aufklärung um eine bestimmte Ansammlung von Kenntnissen zu tun. Niemand hat das Recht, sich darob für aufgeklärt auszugeben, weil er diese oder jene magische Praktik als primitiven Aberglauben abtut oder weil er diese oder jene derzeit anerkannte Theorie nicht in Zweifel zieht. Die Theorie mag richtig und die Praktik ohne Wirkung sein – er folgt hierin doch nur der gemeinen Meinung der Masse und des Moments und würde in einem anderen Momente, da die Masse einer anderen gemeinen Meinung anhängt, ebenso dieser gefolgt sein. Nicht richtigere oder falschere Meinungen teilen die Menschen in Aufgeklärte und Unaufgeklärte, sondern eine mündige oder unmündige Haltung dem Leben gegenüber tut dieses. Dem Leben gegenüber: Denn Aufklärung betrifft nicht nur einige große, vom Alltag und vom eigentlichen Lebensvollzug im Grunde isolierte Fragen, sie betrifft eben diesen Lebensvollzug selbst. Die Philosophie ist „eine erklärte Gegnerin derjenigen […], welche alle Bildung und Erziehung des Menschen in die Aufklärung seines Verstandes setzen, und meinen, dass sie Alles gewonnen haben, wenn sie denselben zu einem geläufgen Raisonneur gemacht. Sie weiss sehr wohl, dass das Leben nur durch das Leben selbst gebildet wird, und vergisst dieses nirgends.“ (Johann Gottlieb Fichte: Sonnenklarer Bericht an das grössere Publicum, über das eigentliche Wesen der neuesten Philosophie. Fünfte Lehrstunde.) Niemand sollte sich aufgeklärt dünken, weil er in der Naturkunde die Kugelgestalt der Erde und die Evolution akzeptiert, weil er sich in der Religion zum Atheismus oder zu einem abgeklärten Agnostizismus bekennt und weil er sich in Politik und Moral als einen Demokraten und liberalen Humanisten versteht. Abgerechnet, ob er zu alledem wirklich durch eigenes Denken gelangte oder ob er hierin nur dem Zeitgeiste folgt, abgerechnet auch, ob überhaupt eigenständiges Denken auf gerade alles dieses und nicht vielmehr von einigem hiervon wegführen würde – und wer sich auf diese Untersuchung nicht einlässt, wer schon die Frage für ein Sakrileg nimmt, auch aber, wer in der Frage die verneinende Antwort notwendig vorweggenommen findet, mit dessen Aufklärung ist es nicht weit her –, dieses beides abgerechnet: Wer, er mag in diesen abstrakten Fragen stehen, wo immer er wolle, im unmittelbaren Leben allen Übrigen gleicht, auch Jenen, die besagte Fragen ganz anders beantworten, der mag sich vielleicht zu der einen oder anderen aufgeklärten Ansicht bekennen, die aufgeklärte Haltung lebt er nicht. Wer regelmäßig mit seinem Kinde schimpfen muss, wer allen tags gestresst ist, wer an Liebeskummer leidet oder an den Folgen körperunfreundlichen Bewegens, wer sich im Straßenverkehr oder beim Einkaufen an der Kasse aufregt oder wer vorschnell und nicht gesprächsbereit ist, der ist sicher nicht aufgeklärt. Unaufgeklärt sind heute, da Aufklärung zum leeren Kampfbegriff verkommen ist, stets die Anderen: Die Gegner der eigenen politischen Ideologie, die Menschen anderer Sozialisation und anderer Gebräuche, ja, die sollten sich mal aufklären, aber man selbst hat dies doch nicht nötig! So dünkelt der Unaufgeklärte; Aufklärung ist wesentlich Selbstkritik. Und wer sich einmal anschicken will, solche zu üben, der soll wissen: Selbst da noch, wo der Mensch Tier ist, im Genießen, verwandelt ihn die Aufklärung und macht ihn neu, und wer auch nur hierin noch irgendetwas gemeinsam hätte mit seinen Mitmenschen, der bräuchte sich einer Aufklärung nicht zu rühmen, die ihm ganz sicher fehlt.
Aufklärung bedeutet Nähe. Aufklärung bedeutet, beweglich werden und sich einlassen auf das Leben, willens und fähig sein, diesem, seinen Mitmenschen und sich selbst zu begegnen, in Dialog zu treten, Rücksprache zu halten. Nicht nur im engen Umkreis der Wissenschaft ist Besonnenheit und Unbefangenheit gefordert, nicht nur hier ist es geboten, vorurteilslos hinzuschauen und die eigenen Vorstellungen mit der Wirklichkeit in Kontakt zu bringen und an dieser zu überprüfen. Das ganze Leben ist vernünftig zu gestalten und mit Bewusstsein zu erfassen. Drei Maximen des Denkens finden sich schon bei Kant formuliert, die für die Aufklärung unabdinglich und die zugleich miteinander verwoben und nur gemeinsam zu realisieren sind: Der Mensch soll erstens selbst denken. Aber er sei auf der Hut vor dem Irrglauben, dass er sich nur menschlicher Vormünder zu entledigen habe, um aufgeklärt zu sein; weit gefährlicher als diese sind die Vormünder in seinem Innern, sind vor langem aufgenommene und zur zweiten Natur gewordene Vorurteile, ist auch die Natur selbst, sind die eigenen Launen und Neigungen, die Trägheiten und Ängste. Es geht beim Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit um Freiheit, darum, im Leben nicht Opfer, sondern Täter zu sein, und dies ist weit mehr, als nur, sich von anderen nichts sagen zu lassen und nur dem eigenen Dünkel zu folgen: Es heißt, dem Leben nicht leidend, nicht passiv, sondern tätig begegnen, heißt, sich nicht hinter anderen, hinter den eigenen Befindlichkeiten, hinter dem Schicksal, der Gesellschaft, dem lieben Gott, der Natur oder einer anderen höheren Macht verstecken, sondern selbst Verantwortung für sich und sein Handeln zu übernehmen. Sodann soll der Mensch an Stelle eines anderen denken können. Auch dies nehme man nicht flach, es meint mehr als das vielbeschworene Einfühlungsvermögen in diesen oder jenen Einzelnen. In aller Strenge genommen geht es gerade um diese Einzelnen nicht, um einen Anderen so wenig als um das liebe Selbst. Dieses Selbst abzustreifen, von der eigenen empirischen Enge zu abstrahieren und den allgemeinen Standpunkt der Vernunft einzunehmen, das vielmehr gebietet die Aufklärung dem Menschen. Und erst hierdurch hört er auf, zufälliges Naturprodukt zu sein, und wird wahrhaft Mensch. Die verdrehte Aufklärung, die heute vorherrschende Ausklärung, verabsolutierte das Selbst, sie lehrte die Menschen, nur noch Ich zu sagen und über sich nichts mehr anzuerkennen, am allerwenigsten die Vernunft; dem ist es geschuldet, dass Poesie verging und nur Schriftstellerei blieb – die Leute wollen eben selber schaffen, mit ihrer Phantasie, sie huldigen dem Götzen persönliche Erfahrung und dem Götzen Originalität, anstatt dass sie eine Idee schauen und versinnlichen wollen –, dem ist es auch geschuldet, dass aus Philosophie Philodoxie wurde – man will eben selber meinen, statt in der Vernunft die Wahrheit zu finden, die nun einmal wahr ist und sich um die persönliche Meinung nicht bekümmert, und man hat von Aufklärung nur das gelernt, dass man sich von einem anderen Menschen nichts sagen zu lassen brauche: was wahr ist, insofern auch dieser nur ein anderes meinendes Selbst, aber was unwahr ist, sofern dieser aufgeklärt ist und im Namen der Vernunft, statt in seinem eigenen spricht. Drittens schließlich ist der Aufgeklärte stets einstimmig mit sich selbst, d. i. er ist konsequent, seine Überzeugungen bilden ein organisches System und widersprechen einander nicht, ebenso wenig ist ein Widerspruch zwischen ihnen und seinen Urteilen und Taten. Sich aufklären, das bedeutet gemäß Nietzsches „Werde, der du bist!“ zu sich selbst zu finden und wahrhaft In-dividuum, ein Unteilbares und Ganzes zu werden, ein höheres Ich also zu erlangen, wohingegen jenes gemeine Ich, das dem unaufgeklärten Menschen seine Individualität vorstellt, eine solche gerade nicht, sondern Stückwerk aus allerhand einzelnen Launen, Trieben, Vorurteilen, Kenntnissen und vielerlei mehr ist, wovon nichts recht zum Anderen passt. Schließlich bedeutet Aufklärung als Übergang vom Opfertum ins Tätertum, von der Schuldzuweisung zur Verantwortlichkeit, als Aufstieg vom Materialismus zum Idealismus: Sittlichkeit. Es liegt dies schon in den drei genannten Maximen, wie ich in meiner Bachelorarbeit nachgewiesen habe. Kein unmoralischer Mensch kann aufgeklärt sein. Es muss dies gerade heute betont werden, da die Schlechtesten sich mit dem heiligen Kranze des Selbstdenkers und des kritischen Geistes schmücken. Wahr ist, dass der, der schlicht die herrschenden Vorstellungen von Gut und Böse übernimmt, der sich sklavisch an Benimmregeln hält, die man ihm darbietet, ohne alle Aufklärung und nur vom Herkommen und vom Vorurteil geleitet ist. Aber ohne alle Aufklärung ist auch der Nihilist, der alles als Vorurteil und Aberglauben verwirft, was über seine kleine Person hinausgeht, ohne alle Aufklärung ist auch, wer vernunftwidrig dem Egoismus seiner privaten Leidenschaften und Gelüste folgt und statt sich zum Sklaven gesellschaftlicher Konventionen zu dem seiner Triebe macht. Einen eigenen Willen und einen wirklichen Charakter, wie er nur aus festen Grundsätzen bestehen kann, soll der Aufgeklärte haben. Echtes Individuum soll er sein und sich gerade über die Schranken des empirischen Ego erheben – denn wer dies elende Sammelsurium der verschiedensten Partikular-Iche für sein eigentliches Ich hält, der hat gewiss noch keines. Zur Aufklärung gehört, wie Fichte wusste, der Mut, weder Sklave noch Herr zu sein. Und wer die Aufklärung einzig oder auch nur vornehmlich ins Theoretische statt ins Praktische setzt, der weiß, wie auch im Falle der Philosophie, nicht, wovon er redet, und muss nicht gehört werden: Macht jemand sich die Mühe, sich tatsächlich mit dem Denken der großen Aufklärer zu befassen, etwas, das die Ausklärung, die ja schon alles weiß, nicht nötig zu haben meint, so wird er finden, dass es jenen nicht um die Berichtigung dieses oder jenes Vorurteils ging, sondern dass sie die Besserung des Menschengeschlechts und eine Zukunft erstrebten, da der Mensch seiner moralischen Bestimmung nachkommen würde.
Es ist ihre Feigheit und, mehr noch, denn auch Feigheit ist nur eine ihrer Formen, ihre Faulheit, die die Menschen vor dem Berührtwerden zurückschrecken und die Verantwortung der Täterschaft meiden lässt. Was es daher braucht zur Aufklärung, das ist Mut. Und so lautet ein Wahlspruch der Aufklärung Sapere aude!: Habe den Mut, wahrhaft weise zu werden! So man die freie Übersetzung Kants wählt: „Habe Muth, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ (Immanuel Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?), hat man dem Sapere aude! als ein weiteres Motto beizugesellen: Sentire aude! – Habe Mut, dich deines eigenen Herzens zu bedienen!
Als Aufklärer will ich ein neues Zeitalter der Aufklärung begründen. Ich will die Begriffe des Publikums berichtigen: Man soll, wenn man sich schon nicht aufklärt, wenigstens wissen, was Aufklärung ist und schon immer war und was nicht, man soll nicht länger schamlos Anspruch auf Aufklärung erheben können, ohne wahrhaft mutig, wahrhaft sittlich und ein wahrhafter Selbstdenker und -kritiker zu sein. Ich will ferner die Verfinsterung aus ihrer Finsternis ans Licht zerren und will sie vor aller Augen anprangern als das, was sie ist. Ich will schließlich – und dies ist über diese Wiederaufrichtung der Aufklärung, ihre Grenzbestimmung und ihre Verteidigung gegen ihre Feindin hinaus mein besonderes Anliegen und soll mein eigenster Beitrag zu diesem großen Projekte der Menschheit und seiner Fortführung sein – ich will schließlich insbesondere gegen die falsch verstandene kalte und oberflächliche Rationalität des Zeitalters, die eigentlich die Leere und die Unberührbarkeit des Zeitalters zu nennen wäre, deutlicher als meine großen Vorgänger dies taten, hervorheben, dass Aufklärung, ja alles Denken auf Fühlen aufbaut und dass die Wurzel aller Aufklärung das Ja zum Leben ist. Bei alledem will ich radikal sein, denn so etwas wie eine gemäßigte Aufklärung gibt es nicht. „Das ist eben der Grundzug unseres Zeitalters, daß Licht und Finsterniß nicht mehr, wie sie es vom Anfange der Menschheit an gethan haben, bloß um den Besitz dieses oder jenes Gebiets, sondern daß sie überhaupt um das Dasein kämpfen, und keine von beiden die andere neben sich auch nur in der Welt dulden will. Wie zuletzt der Kampf ausfallen werde, davon ist keine Frage; dagegen ist Jedem die bestimmte Frage vorgelegt, auf welcher Seite er sein wolle, indem es durchaus nicht weiter möglich ist, auf beiden Seiten zu sein, und es mit beiden Partheien zu halten.“ (Johann Gottlieb Fichte: Fünf Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten. Erste Vorlesung.)