Lügen
„Tar De livsløgnen fra et gennemsnitsmenneske, så tar De lykken fra ham med det samme.“ („Nehmen Sie einem Durchschnittsmenschen die Lebenslüge, und Sie nehmen ihm zu gleicher Zeit das Glück.“)
Relling (Henrik Ibsen: Vildanden (Die Wildente. Fünfter Akt.))
„Die meisten Menschen spüren gelegentlich, daß sie in einem Netz von Illusionen hinleben. Wenige aber erkennen, wie weit diese Illusionen reichen.“
Friedrich Wilhelm Nietzsche: Nachgelassene Fragmente. 1870 5[33].
„Wer wissentlich falsch und ein Lügner ist, wird dadurch nicht nur ein sehr schädlicher Gegenstand für die Gesellschaft, sondern auch ein sehr schändlicher für sich selbst: denn wie niederträchtig feige muss sich derjenige erscheinen, der sich nie getrauen darf, seines Herzens Meinung zu entdecken, und der im Innern seines Herzens ohne Unterlass eine Schande sieht, die er vor jedes Anderen Auge sorgfältig verbergen muss! Diese Pein der Selbstverachtung, oft um eines sehr geringen Vortheils willen, auf sich zu nehmen – dazu, sollte man meinen, würden die wenigsten Menschen Entschlossenheit genug haben; und es müsste mithin der Falschheit und der Lügen weit weniger unter ihnen seyn, wenn sie nicht meistentheils damit angefangen hätten, sich selbst zu betrügen, ehe sie andere betrogen, wenn ihr Herz in der Falschheit gegen andere sich nicht erst an ihnen selbst geübt, und dieser unselige Selbstbetrug sie nicht gegen die Schande, Betrüger Anderer zu seyn, abgehärtet hätte. – Ich habe jetzt, a. Z., ich habe die giftige Quelle genannt, aus welcher unser ganzes sittliches Verderben herfliesst. Nur diese lasst uns, wenigstens in uns selbst, zu verstopfen suchen. Hört mich deswegen aufmerksam an, wenn ich heute von der Gemüthsverfassung, welche vor jenem unseligen Selbsbetruge verwahrt – wenn ich von Wahrheitsliebe mit euch rede.
[…]
Wir alle, meine th. Fr., sind eben so, wie die Jünger Jesu, an unser Gewissen gewiesen, und eben so nöthig, als Jene, bedürfen wir der Wahrheitsliebe, um seine Stimme zu hören. Es ist also der Mühe werth, diese Wahrheitsliebe genauer kennen zu lernen.
Die Wahrheitsliebe, von der wir hier und heute reden, besteht kürzlich darin: dass man sich in seiner Meinung von seiner eigenen Tugend nicht betrügen wolle. Dies nun scheint Anfangs widersprechend; denn es scheint auf den ersten Anblick unmöglich, sich selbst zu hintergehen, und hintergehen zu wollen.
Wenn man aber daran denkt, dass der menschliche Wille durch zwei sehr verschiedene Haupttriebe in Bewegung gesetzt wird, deren einer ihn antreibt, sich vor Beschädigungen seines Leibes und Lebens zu sichern, und die Mittel aufzusuchen, dieses Leben unter so vielen angenehmen Empfindungen hinzubringen, als möglich; – ein Trieb, den wir Eigenliebe nennen, und den wir mit den Thieren des Feldes gemein haben: – deren zweiter aber ihn drängt, das Gute zu verehren und das Laster zu verabscheuen; – ein Trieb, der uns in den Rang höherer Geister und zum Ebenbilde der Gottheit erhebt, und den wir das Gewissen nennen; – – Triebe, die so verschieden sind, dass daher einige zwei Seelen im Menschen angenommen haben; eine Bemerkung, welche allein es schon hinreichend erklärt, wie Jesus von dem verheissenen Geiste der Wahrheit, als von etwas ausser den Jüngern reden konnte, so wie auch schon ein Weiser einer anderen Nation [Sokrates] das Gute und Edle, das er that oder sagte, den Eingebungen eines höheren Geistes zugeschrieben hatte: –
wenn man ferner bedenkt, das diese beiden Antriebe, – der der Eigenliebe und der des Gewissens – sich oft geradezu widerstreiten, indem der erstere den Menschen antreibt, etwas als angenehm und nützlich zu begehren, was der zweite als schändlich und ungerecht ihn zu verabscheuen nöthigt:
wenn man dieses beides bedenkt, so lässt sich sehr leicht einsehen, wie der Mensch, dem die Tugend nicht lieb genug ist, um alles für sie aufzuopfern, in dem Gedränge, in welches er bei diesem Widerstreite geräth, und in der Wahl, entweder die Befriedigung seiner liebsten Neigungen aufzugeben, oder sich selbst für einen ungerechten und schändlichen Menschen zu halten, einen Ausweg suchen und ihn darin finden werde, dass er sich überrede, sein Vergehen sey so gross noch nicht, und er könne demohngeachtet doch noch ein guter Mensch seyn.
Solche Menschen sind nicht einmal stark genug, um ganz Bösewichter zu seyn, und begierig, die Lust des Lasters und die Freuden des guten Gewissens mit einander zu vereinigen, betrügen sie sich selbst, oder die schlechtere Seele in ihnen verfälscht die Aussagen der besseren. Der trüglichen Vorspiegelungen, deren sie sich dazu bedienen, sind unzählige.
Jetzt überreden sie sich, andere Bewegungsgründe bei ihren Handlungen gehabt zu haben, als sie wirklich hatten, und glauben es sich z.B. im Ernste, dass Gerechtigkeits- und Pflichtliebe, oder Wohlthätigkeit sie da geleitet habe, wo sie doch ihrer angeborenen Härte oder ihrer Eitelkeit fröhnten. – So waren die, von denen Jesus in unserem Envangelium sagt (Cap. 16, 2): sie werden, indem sie euch tödten, Gott einen Dienst damit zu thun meinen. – Eigentlich war wohl beleidigter Stolz und Rechthaberei dasjenige, was die verfolgungssüchtigen Juden, so wie die Verfolger aller Zeiten und Völker, trieb, nicht aber die Begierde, Gott einen Dienst zu thun. Das letztere banden sie sich wohl nur so auf; denn es ist sehr zweifelhaft, ob sie, wenn sie an ihrer Seite die Gemarterten, und ihre Gegner die Marterer gewesen wären, unter den Qualen des schmerzlichsten Todes gerufen haben würden: o, was für liebe fromme Leute sind doch unsere Mörder! Es ist wahr, dass uns der Tod schwer, und die Qualen desselben schmerzhaft ankommen; aber sie meinen es dabei doch so herzlich gut, und martern uns aus brennender Andacht und sehr thätiger Menschenliebe zu Tode.
Jetzt rechnen sie sich gewisse gute Handlungen, die sie darum thaten, weil sie ihnen die wenigste Aufopferung kosteten, so hoch als möglich an, und meinen damit alle ihre übrigen Vergehungen zu vergütigen. So soll etwa ein schweres Almosen, mit langsamer widerstrebender Hand dargereicht, für alle Ausbrüche unreiner Lüste, oder für eine Menge schreiender Ungerechtigkeiten genugthun.
Das ist Selbstbetrug in der Anwendung der Aussprüche unseres Gewissens auf unsere Handlungen; ein Betrug, der sich Keinem, dem es ein Ernst ist, sich selbst recht kennen zu lernen, lange verbergen kann; denn aus ihm entstehen die schreiendsten Widersprüche in den Grundsätzen, wonach wir uns, und in denen, wonach wir andere beurtheilen. Wir wollen dann immer die Ausnahme von allen übrigen Menschen seyn, und was für alle andere ungerecht ist, soll für uns erlaubt, was bei allen anderen höchst zweideutig ist, soll bei uns schön und edel seyn.
Da nun bei einem so groben Selbstbetruge unser Herz immer in der Gefahr ist, auf seiner Falschheit ergriffen zu werden; da ferner gewisse Handlungen nach allen möglichen Milderungen und Beschönigungen doch noch immer ein sehr hässliches Aussehen behalten, so fällt der Mensch aus diesem gefährlichen Selbstbetruge leicht in einen noch gefährlicheren: er sucht sich nemlich des einzigen höchsten Gesetzes für seine Handlungen, seines Gewissens, das ihm so lästig geworden ist, ganz zu entledigen, und beruft sich, – ein Jeder nach Maassgabe seines Scharfsinnes – auf ein anderes: der Schwache auf das Beispiel der grösseren, oder der vom Schicksale begünstigteren Menge; der Scharfsinnigere geradezu auf seine Neigung, die er statt des zum Vorurtheile herabgewürdigten inneren Gefühls durch tausend Spitzfindigkeiten als höchstes Gesetz für die freien Handlungen vernünftiger Wesen aufzustellen sucht; endlich ganze Zeitalter – o unseligste Ausgeburt des menschlichen Verderbens! – auf erdichtete oder verfälschte Offenbarungen der Gottheit, die, unter der Gewährleistung eben des Gottes, der seinen Willen unauslöschlich in unser Herz schrieb, diesem in unser Herz geschriebenen Willen geradezu widersprechen und in seinem Namen das Laster in Tugend verwandeln. – Sehet da, m. Br., in dem Verderben der Menschen und in ihrer Begierde, dieses Verderben vor sich selbst zu verbergen, die wahre Urquelle Jenes: ‚andere, die es doch besser verstehen sollten, machen es eben so‘ – das man so oft hört; jener Gebäude von Sittenvorschriften, die jetzt feiner, jetzt gröber unsere Neigung als höchstes Sittengesetz aufstellen, und nach denen nichts unerlaubt ist, als wozu es uns an Kraft fehlt; jener Religionsgrundsätze, die uns dort durch Tausender, hier durch Eines fremdes Verdienst – nicht etwa das Fehlende eigener Verdienste bei dem möglichst thätigen guten Willen – eine solche Hoffnung bietet die Religion, und verstattet die Vernunft Jedem, der ihrer bedarf – sondern den gänzlichen Mangel an eigenem guten Willen ersetzen lehren, und uns am Ende eines gemisbrauchten Lebens dort in eine Mönchskutte, und hier an ein kaltes: Herr, ich glaube, verweisen!
Dies sind die Wege, die das menschliche Herz nimmt, um sich der Erkenntnis der Wahrheit zu entziehen. Um allen diesen Fallstricken, die der schlauste Verführer, unser eigenes Ich, uns legt, zu entgehen, bedarf es der Wahrheitsliebe: – der entschiedenen vorherrschenden Neigung, die Wahrheit bloss um ihrer selbst willen – sie falle für uns auch aus, wie sie wolle – anzuerkennen. – Diese Wahrheitsliebe, oder mit Jesu zu reden, dieser Geist der Wahrheit treibt uns für erste, unser Gewissen als den einzigen Richter über das, was recht oder unrecht ist, und als das höchste Gesetz anzuerkennen, dem wir immer und ohne Ausnahme zu gehorchen, schlechterdings schuldig sind. – Die schönste Uebersetzung des allgemeinen Ausspruchs dieses Gesetzes ist die, welche Jesus gegeben hat: Was ihr nicht wollt, dass es euch die Leute thun, das thut auch ihr ihnen nicht , oder allgemeiner: was euch an anderen ungerecht und schändlich vorkommt, das ists gewiss auch an euch; denn ebendieselbe Stimme in euch, die es an anderen verdammt, verdammt es auch an euch .
Es ist also der erste und der Hauptgrundsatz der Wahrheitsliebe: nichts sich für erlaubt zu halten, was man nicht allen anderen stets und immer erlauben möchte. – Die Vernunftmässigkeit dieses Grundsatzes ist so einleuchtend, und es ist so unvernünftig, zu glauben, dass ein Einziger eine Ausnahme vom ganzen Menschengeschlechte und allen vernünftigen Wesen machen solle, dass Ihm allein erlaubt seyn solle, was er allen anderen nicht erlaubt, und für ihn allein gerecht und edel seyn solle, was er an allen anderen ungerecht und schändlich findet: dass es schwer wird, es zu glauben, dass der grösste Haufen der Menschen sein eigenes geliebtes Ich in diesen Rang setze, und diesem Gedanken gemäss handele.
Diese Wahrheitsliebe treibt fürs zweite den, in welchem sie herrschend geworden ist, sich nach den Vorschriften seines Gewissens unparteiisch zu prüfen . – Es ist ihm nur um die Wahrheit zu thun; nur sie ist ihm werth und willkommen; sie ist ihm weit theurer als Er sich selbst; laute sie, wie sie wolle, wenn es nur Wahrheit ist. Er wird also, weit entfernt nach Entschuldigungen und Beschönigungen zu haschen, vielmehr sehr sorgfältig über sein betrügerisches Herz wachen. Er wird seine Fehler nicht geringer, seine Tugenden nicht grösser machen wollen, als sie sind. Er wird sich, wenn die Stimme der Wahrheit, – das heiligste, was er kennt – ihn verurtheilt, dem Schmerze der Reue und dem Gefühle der Scham vor sich selbst edelmüthig unterwerfen.
Diese Wahrheitsliebe nun treibt unwiderstehlich zur Tugend. Anerkennt man das Gewissen für sein höchstes Gesetz, prüft man sich unparteiisch nach demselben, so wird man die Pein, sich selbst verachten zu müssen, nicht länger ertragen, sich nicht entschliessen können, sich selbst für ungerecht und böse zu halten, und – es bleiben zu wollen. So ein Zustand ist wider die menschliche Natur. Sich für verdorben halten, und sich entschliessen, es zu bleiben, ist widernatürlich.
[…]
Das ist das Gericht , d. h. das ist der wesentliche Unterschied, der zwei sehr verschiedene Arten von Menschen ihrer Denkungsart, und ihren damit genau verbundenen Schicksalen nach unterscheidet, dass einige, obgleich das Licht in die Welt gekommen ist, die Finsterniss mehr lieben, als das Licht , d. h. dass sie, obgleich die Stimme der Wahrheit laut genug in ihrem Gewissen redet, und sie auch von aussen aufmerksam auf dieselbe gemacht werden, dennoch die Wahrheit nicht anerkennen wollen, sie hassen und meiden, und nur den Betrug lieben, der ihnen schmeichelt, da ihre Werke böse sind. – Wer Arges thut, hasset das Licht, oder die Wahrheit, und er kömmt nicht an das Licht, er weicht der Erkenntniss der Wahrheit sorgfältig aus, damit seine Werke nicht gestraft werden, damit er nicht von seiner Verdorbenheit überführt, und vor sich selbst beschämt werde. – – Die von dieser Menschenklasse sehr Verschiedenen sind diejenigen, welche die Wahrheit thun, welche ihr Gewissen für das höchste Gesetz ihres Verhaltens anerkennen, und fest entschlossen sind, der Stimme desselben in allem zu gehorchen: – diese kommen an das Licht, sie mögen sich gern in ihrer wahren Gestalt erblicken, damit ihre Werke offenbar werden, und sie dadurch sich selbst kennen lernen, wie weit sie in der Tugend gekommen sind, und was ihnen zu thun noch übrig ist.
[…]
Ihr habt alle irgend ein Vorhaben; ihr habt vielleicht ohnlängst irgend ein anderes ausgeführt. – Könnt ihr im Ernste wünschen, dass jeder eurer Nebenmenschen stets und immer so handle, dass er auch gegen euch so handle, wie ihr gehandelt habt, oder zu handeln im Begriffe steht; könnt ihr wünschen, in einer Welt zu leben, wo jeder so handelt? Solltet ihr dieses nicht wünschen können, – haltet ihr demohngeachtet eure Handlungen noch für gerecht und billig? Haltet ihr sie dafür, so seyd versichert, dass euer Herz euch betrügt, und dass die Entschuldigungen, die es euch darbietet, eitel Täuschungen sind.
Es ist, wenn wir in dieser Prüfung unser Herz nicht ganz lauter befunden haben sollten, nun unsere Sache, zu sehen, wie wir diese Wahrheitsliebe in uns wieder herstellen wollen, – wenn wir anders nicht länger jeden Blick, den wir in unseren Busen werfen, mit Erröthen wieder zurückreissen wollen; nicht länger von dem Auge des ehrlichen Mannes uns gedrückt fühlen, und schüchtern suchen wollen, unser Herz vor ihm zu verbergen, dass er nicht durch irgend eine Spalte desselben unsere Schande entdecke; nicht länger dem Gedanken an Gott, den Herzenskündiger, und an die Zukunft, mit Angst ausweichen wollen.
Dazu giebt es nun leider kein Mittel, was nicht wenigstens einen Teil dieser Wahrheitsliebe voraussetzte, die dadurch erst hervorgebracht werden soll. Wer gar keine mehr hat, der ist ohne Rettung verloren; treibt ihn in die Enge, soviel ihr wollt, – er wird stets recht haben, und nie wird es ihm an Entschuldigungen und Ausflüchten fehlen; er wird, wie Jesus sagt, nicht glauben, und wenn die Todten auferständen, und ihm die Wahrheit predigten; daher denn auch die Gottesgelehrten diesen Zustand sehr passend das Gericht der Verstockung genannt haben. – Aber sollte es viele, sollte es überhaupt Menschen geben, die so tief verfallen seyen? Auf das verdorbenste Herz geschehen zuweilen noch gute Eindrücke; wenn ihnen ihr ganzer trauriger Zustand recht nach dem Leben vor Augen gemalt wird; oder, wenn sie in ein grosses Unglück verfallen, aus dem sie mit ihrer ganzen Kraft sich nicht retten können; oder wenn sie das Schauspiel einer grossen Unthat erblicken, und sich gestehen müssen, dass sie auf dem geraden Wege zu dem gleichen Verbrechen sind; oder, welches das letzte und härteste Rettungsmittel in der Hand der Vorsehung ist, – wenn sie selbst in eine grosse Missethat fallen, über die sie hinterher sich selbst entsetzen.“
Johann Gottlieb Fichte: Zwei Predigten aus dem Jahre 1791. Ueber die Wahrheitsliebe.
„Wir haben schon etwa einen Satz ehemals behauptet, vielleicht Beifall damit gefunden und Ehre eingeerntet, und meinten es damals aufrichtig. Damals war unsere Behauptung zwar nicht allgemeine Wahrheit, die sich auf das Wesen der Vernunft, aber doch Wahrheit für uns, die sich auf unsere damalige individuelle Denk- und Empfindungsart gründete. Wir irrten, aber wir täuschten nicht, weder uns noch andere. Seitdem haben wir entweder selbst weiter geforscht, wir haben unsere individuelle Denkart dem Ideale der allgemeinen und nothwendigen Denkart mehr genähert, oder auch andere haben uns unseren Irrthum gezeigt. Derselbe materielle Satz, der ehemals formale Wahrheit für uns war, ist uns jetzt, aus dem nemlichen Grunde, aus dem er dieses war, formaler Irrthum; und sind wir uns selbst treu, so werden wir ihn sogleich aufgeben. Aber dann müssten wir erkennen, dass wir geirrt haben, vielleicht dass ein anderer weiter gesehen habe, als wir. Ist unser Interesse für Wahrheit nicht rein und nicht stark genug, so werden wir gegen die auf uns eindringende Ueberzeugung uns vertheidigen, so lange wir können; und nun ist es uns nicht mehr um die Form zu thun, sondern um die Materie des Satzes; wir vertheidigen denselben, weil er der unsrige ist, und weil ein eitler Ruhm uns mehr gilt, denn Wahrheit.
Eine Meinung schmeichelt unserm Stolze, unseren Anmaassungen, unserer Unterdrückungssucht. Man erschüttert sie mit den stärksten Gründen, gegen die wir nichts aufbringen können. Werden wir uns überzeugen lassen? Aber wir müssten dann entweder unsere gerechten Ansprüche aufgeben, oder uns für wohlbedächtige und überlegte Ungerechte anerkennen. Es ist zu erwarten, dass wir gegen die Ueberzeugung uns verwahren werden, so lange wir können, und dass wir in allen Schlupfwinkeln unseres Herzens nach Ausflüchten suchen werden, um ihr auszuweichen.
Ein zweites Hinderniss des reinen Interesse für Wahrheit ist die Trägheit des Geistes, die Scheu vor der Mühe des Nachdenkens. Der Mensch ist von Natur ein vorstellendes Wesen, aber er ist durch sie auch nichts weiter. Die Natur bestimmt die Reihe seiner Vorstellungen, wie sie die Verkettung seiner körperlichen Theile bestimmt. Sein Geist ist eine Maschine, wie sein Körper; nur eine Maschine anderer Art, eine vorstellende Maschine, bestimmt durch Einwirkung von aussen und durch seine nothwendigen Naturgesetze von innen. Man kann viel wissen, viel studiren, viel lesen, viel hören, und ist doch nichts weiter. Man lässt durch Schriftsteller oder Redner sich bearbeiten, und sieht mit behaglicher Ruhe zu, wie eine Vorstellung in uns mit der andern abwechselt. Sowie die Weichlinge des Orients in ihren Bädern durch besondere Künstler anderer Art ihren Geist durchkneten, und ihr Genuss ist um weniges edler, als der Genuss jener.
Diesem blinden Hange thätig widerstreben, eingreifen in den Mechanismus der Ideenfolge, und ihr gebieten, ihr mit Freiheit eine Richtung geben auf ein bestimmtes Ziel, und von dieser Richtung nicht abweichen, bis das Ziel erreicht ist: das ist der rohen Natur zuwider, und kostet Anstrengung und Verläugnung.
Jedes unthätige Hingeben ist dem Interesse für Wahrheit geradezu entgegen. Es wird dabei gar nicht auf Wahrheit oder Nichtwahrheit, sondern lediglich auf die Ergötzung geachtet, die jener Wechsel der Vorstellungen uns gewährt. Wir kommen dadurch auch nicht zur Wahrheit; denn Wahrheit ist Einheit, und diese muss thätig und mit Freiheit hervorgebracht werden, durch Anstrengung und eigene Kraftanwendung. Gesetzt, man käme durch ein glückliches Ohngefähr auf diesem Wege wirklich zu Vorstellungen, die an sich wahr wären, so wären sie es doch nicht für uns, denn wir hätten von der Wahrheit derselben uns nicht durch eigenes Nachdenken überzeugt.
Beide Unarten vereinigen sich in denjenigen, welche alle Untersuchung fliehen, aus Furcht, dadurch in ihrer Ruhe und in ihrem Glauben gestört zu werden. Was kann eines vernünftigen Wesens unwürdiger seyn, als eine solche Ausrede? Entweder ist ihre Ruhe, ihr Glaube gegründet; und was fürchten sie denn die Untersuchung? Die Güte ihrer Sache muss ja nothwendig durch die hellste Beleuchtung gewinnen. – Aber sie fürchten vielleicht bloss unsere Trugschlüsse, unsere Ueberredungskünste? Wenn sie unsere Folgerungen nicht gehört haben, noch hören wollen: woher mögen sie doch wissen, dass es Trugschlüsse sind? Und setzen sie in ihren Verstand nicht das Vertrauen, dass er allen falschen Schein, der sich gegen ihre Ueberzeugung auflehnt, zerstreuen werde, da sie ihm doch das ungleich grössere zutrauen, dass er die einzig mögliche reine Wahrheit ohne sonderliches Nachdenken aufgefunden habe? – Oder ihre Ruhe, ihr Glaube ist grundlos; und also ist es ihnen überhaupt nicht darum zu thun, ob er gegründet sey oder nicht, wenn sie nur nicht in ihrer süssen Behaglichkeit gestört werden. Es liegt ihnen gar nicht an der Wahrheit, sondern bloss an der Vergünstigung, dasjenige für wahr zu halten, was sie bisher dafür gehalten haben; sey es um der Gewohnheit willen, sey es, weil der Inhalt desselben ihrer Trägheit und Verdorbenheit schmeichelt. Sie erhalten etwa dadurch die Hoffnung, ohne alles ihr Zuthun, tugendhaft und glückselig, oder wohl gar ohne Tugend glückselig zu werden, recht viel zu geniessen, ohne etwas zu thn; andere für sich arbeiten zu lassen, wo sie Lust haben, träge und verdorben zu seyn.
Alles Interesse von der angezeigten Art ist unächt, und in Ausrottung desselben besteht der erste Schritt zu Erhöhung des reinen Interesse für Wahrheit. Der zweite ist: man überlasse sich jedem Genusse, den das reine Interesse für Wahrheit gewährt. Die Wahrheit an sich selbst, wiefern sie bloss in der Harmonie alles unseres Denkens besteht, gewährt Genuss, und einen reinen, edlen, hohen Genuss.
Das ist eine gemeine Seele, der es gleichgültig ist, ob sie, so geringfügig der Gegenstand auch seyn möge, irre, oder im Besitz der Wahrheit sey. Es ist hierbei nemlich gar nicht um den Inhalt und um die Folgen eines Satzes zu thun, sondern lediglich um Einheit und Uebereinstimmung in dem gesammten System des menschlichen Geistes. Aber der Mensch soll einig mit sich selbst seyn; er soll ein eigenes, für sich bestehendes Ganzes bilden. Nur unter dieser Bedingung ist er Mensch. Mithin ist das Bewusstseyn der völligen Uebereinstimmung mit uns selbst in unserem Denken, oder doch des redlichen Strebens nach einer solchen Uebereinstimmung, unmittelbares Bewusstseyn unserer behaupteten Menschenwürde, und gewährt einen moralischen Genuss.
Man bezeugt es sich durch jenes Streben, und durch die vermittelst desselben hervorgebrachte Harmonie, dass man ein selbstständiges, von allem, was nicht unser Selbst ist, unabhängiges Wesen bilde. Man wird des erhabenen Gefühls theilhaftig: ich bin, was ich bin, weil ich es habe seyn wollen. Ich hätte mich können forttreiben lassen durch die Räder der Nothwendigkeit; ich hätte meine Ueberzeugung können bestimmen lassen durch die Eindrücke, die ich von der Natur überhaupt erhielt, durch den Hang meiner Leidenschaften und Neigungen, durch die Meinungen, die mir meine Zeitgenossen beibringen wollten: aber ich habe nicht gewollt. Ich habe mich losgerissen, ich habe durch eigene Thätigkeit nach einer durch mich selbst bestimmten Richtung hin untersucht; ich stehe jetzt auf diesem bestimmten Puncte, und ich bin durch mich selbst, durch eigenen Entschluss und eigene Kraft darauf gekommen. – Man wird des erhabenen Gefühls theilhaftig: ich werde immer seyn, was ich jetzt bin, weil ich es immer wollen werde. Der Inhalt meiner Ueberzeugungen zwar wird durch fortgesetztes Nachforschen sich ändern, aber um ihn ist es mir auch nicht zu thun. Die Form derselben wird sich nie ändern. Ich werde nie der Sinnlichkeit, noch irgend einem Dinge, das ausser mir ist, Einfluss auf die Bildung meiner Denkart verstatten; ich werde, so weit mein Gesichtskreis sich erstreckt, immer einig mit mir selbst seyn, weil ich es immer wollen werde.
Diese strenge und scharfe Unterscheidung unseres reinen Selbst von allem, was nicht wir selbst sind, ist der wahre Charakter der Menschheit; die Stärke und der Umfang dieses Selbstgefühls ist bestimmt durch den Grad unserer Humanität; dieser unsere ganze Würde und unsere ganze Glückseligkeit.
Mit dieser sichern Ueberzeugung, stets einig mit sich selbst zu seyn, geht der entschiedene Freund der Wahrheit auf dem Wege der Untersuchung ruhig fort; er geht muthig allem entgegen, was ihm auf demselben aufstossen möchte. Es ist für denjenigen, der mit sich selbst noch nicht recht eins geworden ist, was er denn eigentlich suche und wolle, äusserst beängstigend, wenn er auf seinem Wege auf Sätze stösst, die allen seinen bisherigen Meinungen, und den Meinungen seiner Zeitgenossen, und der Vorwelt widersprechen; und gewiss ist diese Aengstlichkeit eine der Hauptursachen, warum die Menschheit auf dem Wege zur Wahrheit so langsam Fortschritte gemacht hat. Von ihr ist derjenige, der die Wahrheit um ihrer selbst willen sucht, völlig frei. Er blickt jeder noch so befremdenden Folgerung kühn in das Gesicht. Ob sie ein befremdendes oder bekanntes Aussehen habe, ob sie seiner und aller bisherigen Meinung widerspreche oder nicht, darnach war nicht die Frage. Die Frage war: ob sie, seinem besten Wissen nach, mit den Gesetzen des Denkens übereinstimme oder nicht, und das wird er untersuchen. Wird sich finden, dass sie damit übereinstimme, so wird er sie als heilige, ehrwürdige Wahrheit aufnehmen; wird sie nicht damit übereinstimmen, so wird er sie als Irrthum verwerfen, nicht weil sie der gemeinen Meinung, sondern weil sie seinem besten Wissen nach den Gesetzen des Denkens widerspricht. Bis dahin ist er völlig gleichgültig gegen sie; über ihren Inhalt hat er die Frage nicht erhoben; derselbe ist ihm bekannt; ihre Form hat er noch zu untersuchen.
Mit dieser kalten Ruhe und festen Entschlossenheit blickt er hinein in das Gewühl der menschlichen Meinungen überhaupt und seiner eigenen Einfälle und Zweifel. Es wirbelt und stürmt um ihn herum, aber nicht in ihm. Er selbst sieht aus seiner unerreichbaren Burg ruhig dem Sturme zu. Er wird ihm zu seiner Zeit gebieten, und eine Welle nach der anderen wird sich legen. – Er will nur Harmonie mit sich selbst, und er bringt sie hervor, so weit er bis jetzt gekommen ist. Dort ist noch Verwirrung in seinen Meinungen; das ist nicht seine Schuld, denn bis dahin hat er noch nicht kommen können. Er wird auch dahin kommen, und dann wird jene Unordnung in die schönste Ordnung sich auflösen. – Was wäre denn wohl endlich das härteste, was ihm begegnen könnte? Gesetzt, er fände, entweder weil die Schranken der endlichen Vernunft überhaupt, welches unmöglich ist, oder weil die Schranken seines Individuums solches mit sich bringen, als letztes Resultat seines Strebens nach Wahrheit, dass es überhaupt gar keine Wahrheit und Gewissheit gebe. Er würde auch diesem Schicksale, dem härtesten, das ihn treffen könnte, sich unterwerfen; denn er ist zwar unglücklich, aber schuldlos; er ist seines redlichen Forschens sich bewusst, und das ist statt alles Glücks, dessen er nun noch theilhaftig werden kann.
Ebenso ruhig – wenn dieser Umstand der Erwähnung werth ist – bleibt der entschiedene Freund der Wahrheit darüber, was andere zunächst zu seinen Ueberzeugungen sagen werden, wenn er in der Lage seyn sollte, sie mittheilen zu müssen; und der Gelehrte ist immer in dieser Lage, da er nicht bloss für sich selbst, sondern zugleich für andere forscht. Die Frage ist ja gar nicht, ob wir mit anderen, sondern ob wir mit uns selbst übereinstimmend denken. Ist das letztere, so können wir des erstern ohne unser Zuthun, und ohne erst die Stimmen zu sammeln, bei allen denen gewiss sein, die mit sich selbst in Uebereinstimmung stehen; denn das Wesen der Vernunft ist in allen vernünftigen Wesen Eins und ebendasselbe. Wie andere denken, wissen wir nicht, und wir können davon nicht ausgehen. Wie wir denken sollen, wenn wir vernünftig denken wollen, können wir finden; und so, wie wir denken sollen, sollen alle vernünftige Wesen denken. Alle Untersuchung muss von innen heraus, nicht von aussen herein, geschehen. Ich soll nicht denken, wie andere denken; sondern wie ich denken soll, so, soll ich annehmen, denken auch andere. – Mit denen übereinstimmend zu seyn, die es mit sich selbst nicht sind, wäre das wohl ein würdiges Ziel für ein vernünftiges Wesen?
Das Gefühl der für formale Wahrheit angewendeten Kraft gewährt einen reinen, edlen, dauernden Genuss.
Einen solchen Genuss kann uns überhaupt nur dasjenige gewähren, was unser eigen ist, und was wir durch würdigen Gebrauch unserer Freiheit uns selbst erworben haben. Was uns hingegen ohne unser Zuthun von aussen gegeben worden ist, gewährt keinen reinen Selbstgenuss. Es ist nicht unser, und es kann uns ebenso wieder genommen werden, wie es uns gegeben wurde; wir geniessen an demselben nicht uns selbst, nicht unser eigenes Verdienst und unsern eigenen Werth. So verhält es sich auch insbesondere mit Geisteskraft. Das, was man guten Kopf, angebornes Talent, glückliche Naturanlage nennt, ist gar kein Gegenstand eines vernünftigen Selbstgenusses, denn es ist dabei gar kein eigenes Verdienst. Wenn ich eine reizbarere, thätigere Organisation erhielt, wenn dieselbe gleich bei meinem Eintritte ins Leben stärker und zweckmässiger afficirt wurde, was habe ich dazu beigetragen? Habe ich jene Organisation entworfen, unter mehreren sie ausgewählt und mir zugeeignet? Habe ich jene Eindrücke, die mich bei meinem Eintritte ins Leben empfingen, berechnet und geleitet?
Meine Kraft ist mein, lediglich inwiefern ich sie durch Freiheit hervorgebracht habe; ich kann aber nichts in ihr hervorbringen, als ihre Richtung; und in dieser besteht denn auch die wahre Geisteskraft. Blinde Kraft ist keine Kraft, vielmehr Ohnmacht. Die Richtung aber gebe ich ihr durch Freiheit, deren Regel ist, stets übereinstimmend mit sich selbst zu wirken; vorher war sie eine fremde Kraft, Kraft der willenlosen und zwecklosen Natur in mir.
Diese Geisteskraft wird durch den Gebrauch verstärkt und erhöht; und diese Erhöhung giebt Genuss, denn sie ist Verdienst. Sie gewährt das erhebende Bewusstseyn: ich war Maschine, und konnte Maschine bleiben; durch eigen Kraft, aus eigenen Antriebe habe ich mich zum selbstständigen Wesen gemacht. Dass ich jetzt mit Leichtigkeit, frei, nach meinem eigenen Zwecke fortschreite, verdanke ich mir selbst; dass ich fest, frei und kühn an jede Untersuchung mich wagen darf, verdanke ich mir selbst. Dieses Zutrauen auf mich, dieser Muth, mit welchem ich unternehme, was ich zu unternehmen habe, diese Hoffnung des Erfolgs, mit der ich an die Arbeit gehe, verdanke ich mir selbst.
Durch diese Geisteskraft wird zugleich das moralische Vermögen gestärkt, und sie ist selbst moralisch. Beide hängen innig zusammen, und wirken gegenseitig auf einander. Wahrheitsliebe bereitet vor zur moralischen Güte, und ist selbst schon an sich eine Art derselben. Dadurch, dass man alle seine Neigungen, Lieblingsmeinungen, Rücksichten, alles, was ausser uns ist, den Gesetzen des Denkens frei unterwirft, wird man gewöhnt, vor der Idee des Gesetzes überhaupt sich niederzubeugen und zu verstummen; und diese freie Unterwerfung ist selbst eine moralische Handlung. Herrschende Sinnlichkeit schwächt in gleichem Grade das Interesse für Wahrheit, wie für Sittlichkeit. Durch den Sieg, den das erstere über dieselbe erkämpft, wird zugleich für die Tugend ein Sieg erfochten. Freiheit des Geistes in Einer Rücksicht entfesselt in allen übrigen. Wer alles, was ausser ihm liegt, in der Erforschung der Wahrheit verachtet, der wird es auch in allem seinem Handeln überhaupt verachten lernen. Entschlossenheit im Denken führt nothwendig zur moralischen Güte und zur moralischen Stärke.
Ich setze kein Wort hinzu, um die Würde dieser Denkart fühlbar zu machen. Wer ihrer fähig ist, der fühlt sie durch die blosse Beschreibung; wer sie nicht fühlt, dem wird sie ewig unbekannt bleiben. –“
Johann Gottlieb Fichte: Ueber Belebung und Erhöhung des reinen Interesse für Wahrheit.
Die Wahrheitsliebe ist eine nicht wegzudenkende Triebfeder jedes Aufgeklärten. Dass sie dennoch von denen, die gerne aufgeklärt heißen mögen, weil sie diesem oder jenem einzelnen Aberglauben nicht anhängen oder weil sie so wässrig-abgeklärt, so kraftlos-gemäßigt, sowohl ohne alle Leidenschaften als ohne alle Prinzipien sind, weggedacht wird – wenn man denn hier von einem Denken reden dürfte –, besagt Vieles. Vieles besagt es auch, dass dieses Wort, das man im 18. Jahrhundert durchaus noch kannte, wenn freilich auch damals die Wahrheitsliebe nicht allzu verbreitet war, gänzlich verklungen ist. Auch jene, die gute Gelegenheit dazu hätten, die sich nämlich über Politiker oder Journalisten und deren vermeintliche oder wirkliche Unehrlichkeit aufregen, benutzen dieses Wort kurioserweise nicht. Aber wieso sollten sie auch? Gerade diese Menschen sind ohnehin notwendig Lügner, wahrscheinlich Ideologen oder solche, die überhaupt alle Verantwortung von den eigenen Schultern und auf „die da oben“ abwälzen wollen – denn wer immer wirkliche Liebe zur Wahrheit hat, der wird nicht in der Lage sein, sich über Politiker oder Journalisten in besonderem Maße aufzuregen, der sieht zwangsläufig, wie verlogen jenes Volk ist, dem auch diese Klassen letztlich entwachsen sind. Wer will schon Wahrheit? Die meisten wollen ihren Nutzen. Wenn die Wahrheit diesen bringt, bitte, dann mag man sich auch einmal eine Wahrheit gefallen lassen, aber wo eine Unwahrheit mehr Nutzen verspricht, da wählt man eben die Unwahrheit. Wer möchte sich schon das alte „Fiat veritas et pereat mundus!“ („Es sei Wahrheit, und wenn darüber die Welt zugrunde ginge!“) zum Wahlspruche erkiesen? Wer könnte zudem glauben, dass die Wahrheit derart harmlos wäre, dass man sie erkennen und dennoch man selbst bleiben, dennoch weiterhin dumpf dahinleben könnte, wie auch alle anderen es tun? Nein, Wahrheit ist meist nicht oder nur eingeschränkt gefragt. Auch braucht man nicht zu glauben, irgendwo wäre Wahrheit und nur Wahrheit zu haben und Kritik nicht vonnöten. Man muss etwa nicht meinen, ja ja, in der Politik werde freilich in einem fort gelogen, aber mit der Wissenschaft habe alles seine Ordnung. Der blinde und offensichtlich rein ideologische Glaube, den mancher heute der Wissenschaft entgegenbringt, taugt nur dazu, jeden wahrhaft Aufgeklärten zu amüsieren, wenn er diesen Gläubigen dann prahlen hört, wie überlegen er doch über den Religiösen, wie viel aufgeklärter als dieser er doch sei. Man verstehe mich hier recht und man lese keinen Relativismus in meine Worte hinein: Die Wissenschaft selbst ist zu ehren und hat freilich immer recht. Aber Wissenschaft ist, ganz wie Aufklärung, ein Ideal, nach dem Menschen zu streben haben, eine immerwährende Aufgabe an uns. Die, die man gemeinhin Wissenschaftler nennt, sind Menschen wie alle übrigen auch, und es wäre einfältig, sie für bessere Menschen zu halten, die über Beschränktheiten des Blicks, Vorurteile oder eben Lügen erhaben wären. Nein, diese kommen in allen Bereichen vor. Darauf, dass man sie erkennt, kommt es an. Und darauf, dass man selbst redlich und wahrhaftig ist.
Man glaube nicht, dass Menschen nur um eines Vorteils willen lügen. Das sind die wenigsten und oft die harmlosesten Lügen. Schlimm ist es freilich, wenn ein Mensch sich ans Lügen gewöhnt hat. Selbst im MRT ist dies sichtbar: Er verfügt über mehr weiße Hirnsubstanz. Dem regelmäßigen Lügner wird es bald zur zweiten Natur, die Unwahrheit zu sagen. Er lügt auch dann, wenn es gänzlich unnötig ist. Und ihm kommen seine eigenen Lügen nicht einmal zum Bewusstsein. – Aber dann, was ist dieses Bewusstsein, wenn nicht selbst der große Lügner? Es ist der Regierungssprecher, auch das haben Forscher längst nahegewiesen, ohne uns damit doch etwas Neues zu lehren: Es ist derjenige also, der an den Entscheidungen nicht beteiligt ist, noch Einblick in das Wie und Warum hat, der erst hinterher von ihnen erfährt und dessen Aufgabe es nun ist, sie schönzureden. Die meisten Menschen glauben ihrem Bewusstsein dabei, was zweihundert Jahre nach Fichte und einhundert Jahre nach Freud nicht mehr entschuldigt werden darf (am allerwenigsten in jener Nation, die durch eben diese Ignoranz die Verbrechen von 1933 bis 45 verschuldet hat). Die Lügen, die wir anderen erzählen, machen also nur den kleinsten Teil unserer Lügen aus, den weit größeren bilden die Selbstlügen, wenn auch kein Mensch Andere wirklich anders behandeln kann als sich selbst und so beide Arten von Lügen Hand in Hand miteinander einhergehen. Die Falschheit, von der schon Fichte bemerkte, dass sie unmittelbar aus der Feigheit und Faulheit, den Wurzeln der Unaufgeklärtheit also, hervorgeht, ist das größte Hemmnis der Aufklärung –: und dies meint die Falschheit gegen sich selbst: Kein Unaufgeklärter ohne Selbsttäuschungen und keine Aufklärung, solange man nicht bereit ist, auf alle Selbstgerechtigkeit zu verzichten und sich selbst mit ungetrübtem Blicke anzuschauen, selbst wenn man Dinge sehen mag – und notwendig sehen wird, wenn man bisher unaufgeklärt und damit unsittlich war –, die man ungerne sehen und sich ungerne eingestehen wird.
Nun hat jeder Mensch seine persönlichen Selbstlügen. Wer Zeit mit einem Menschen verbringt, der wird diese leicht entdecken, vorausgesetzt, er ist selbst wachen Blicks: Es wird ihm dann nicht entgehen, was die großen Lebenslügen etwa seiner Freunde oder Verwandten sind. Über diese Privatlügen möchte ich hier nicht reden; man müsste über jede einzelne von ihnen mit Dem, der ihr eben anhängt, persönlich sprechen – und wenn man es nicht gerade mit einem bereits sehr Aufgeklärten zu tun hätte, aber ein solcher wiederum würde sich nicht selbst belügen, würde man damit nur Kränkung und Hass bewirken. Es gibt aber auch häufigere Lügen, Lügen, die Gruppen, ja ganze Nationen teilen, die sie einander wieder und wieder erzählen und die sie aufrichtig glauben (versteht sich, mit der Aufrichtigkeit des Lügners, die selber eine Selbstlüge ist und darin besteht, dass er die eigenen Zweifel und Unsicherheiten vor sich verbirgt). Von diesen Lügen möchte ich hier immer mal wieder eine offenlegen. Ein sicheres Merkmal, an dem sie leicht erkennbar sind, ist der Selbstwiderspruch: Inkonsequenz ist ja, was alle Unaufgeklärten auszeichnet, befolgt doch keiner von ihnen die dritte der kantschen Maximen des Denkens und denkt mit sich selbst einstimmig. Dieser Bereich meiner Website ist also den Heucheleien, dem Messen mit zweierlei Maß oder eben, nochmals: den Lügen gewidmet. Indem ich den Meinungen oder vielmehr den angegebenen Begründungen der Leute nicht widerspreche, nicht sie als richtig oder falsch beurteile, sondern schlicht ihre Verlogenheit und damit aufzeige, dass es gar nicht der Menschen wahre Überzeugungen und wahre Gründe sind, möchte ich besagte Menschen nicht nur von dieser oder jener einzelnen Lüge abbringen, ich möchte sie überhaupt zu mehr Wahrhaftigkeit gegen sich und Andere anhalten – oder, wo dies schon nicht gelingen wird, ihnen das Lügen erschweren, ja möglichst unmöglich machen, indem ich ihnen selbst und Allen, denen sie ihre Lügen erzählen wollen, ins Angesicht sage, dass es eben Lügen sind, sodass sie sie zwar weiterhin wiederholen können, jeder aber weiß, was sie treiben. Wo das Licht der Aufklärung erstrahlt, bleibt nichts verborgen. Der Kaiser, der nackend im Dunkeln ging und die Leute glauben machte, er trüge kostbare Kleider, kann und soll freilich nicht verhindert werden, dies auch im Lichte noch immer zu behaupten, aber er soll in all seiner Nacktheit sichtbar und er soll durch seine fortgesetzte Behauptung vor aller Welt lächerlich und verächtlich werden.
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