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„Unsere falsche Philosophie ist der ganzen Sprache einverleibt; wir können sozusagen nicht räsonnieren, ohne falsch zu räsonnieren. Man bedenkt nicht, daß Sprechen, ohne Rücksicht von was, eine Philosophie ist. Jeder, der Deutsch spricht, ist ein Volksphilosoph, und unsere Universitätsphilosophie besteht in Einschränkungen von jener. Unsere ganze Philosophie ist Berichtigung des Sprachgebrauchs, also, die Berichtigung einer Philosophie, und zwar der allgemeinsten. “

Georg Christoph Lichtenberg: Sudelbuch I. 79.

„Das sicherste Mittel unverständlich oder vielmehr mißverständlich zu sein, ist, wenn man die Worte in ihrem ursprünglichen Sinne braucht; besonders Worte aus den alten Sprachen.“

Karl Wilhelm Friedrich Schlegel: Athäneums-Fragmente. 19.

„Vulgus jactat & prodigit nomina, extenditquae facile ad ea, quibus non quadrant: Qod fere est, esse dicunt: quod vix est, dicunt non esse: Et toleranda forent haec vitia nominum, si non ea rebus ipsis adspergerent, & ex nominibus aestimare res ipsas assuescerent“ („Die Masse wirft mit Worten und Bedeutungen um sich und legt sie den unpassendsten Gegenständen bei: Was beinahe so ist, ist gleich wirklich so, was eben gerade noch da ist, soll gar nicht mehr existieren. Die falsche Nomenklatur wäre indessen noch zu ertragen, wenn sie nicht auf die Dinge selbst abfärbte und dazu führte, daß man die Sache nach dem Namen einschätzt.“)

Arnold Geulincx: Ethica. De virtute et primis eius proprietatibus, quae vulgo virtutes cardinales vocantur (Ethik oder Über die Tugend und ihre Haupteigenschaften, welche allgemein Kardinaltugenden genannt werden. Kapitel II. 1. Abschnitt. § 3. 3.)

„Der Niedergang der Bildung zeigt sich in Verarmung der Sprache; das Deutsch der Zeitungen ist eine κοινή [Koine; allgemeine Verkehrssprache] bereits. […]

Die Armut der Sprache entspricht der Armut der Meinungen: man denke an unsre Litteraturzeitungen: wie wenig herrschende Ansichten! Zuerst glaubt man mit lauter Fachgelehrten zu thun zu haben, wenn das Urtheil über ein Buch gesprochen wird: jetzt sehe ich dahinter.

[…]

Aller Verkehr unter Menschen beruht darauf, dass der eine in der Seele des andern lesen kann; und die gemeinsame Sprache ist der tönende Ausdruck einer gemeinsamen Seele. Je inniger und zarter jener Verkehr wird, um so reicher die Sprache; als welche mit jener allgemeinen Seele wächst oder — verkümmert. Sprechen ist im Grunde ein Fragen des Mitmenschen, ob er mit mir die gleiche Seele hat; die ältesten Sätze scheinen mir Fragesätze und im Accent vermuthe ich den Nachklang jenes ältesten Fragens der Seele an sich selbst, aber in einem andern Gehäuse. Erkennst du dich wieder? — dies Gefühl begleitet jeden Satz des Sprechenden; er macht den Versuch eines Monologs und Zwiegesprächs mit sich selbst. Je weniger er sich wieder erkennt, um so mehr verstummt er, und im erzwungenen Verstummen wird seine Seele ärmer und kleiner. Wenn man die Menschen nöthigen könnte, von jetzt ab zu schweigen: so könnte man sie zu Pferden und Seehunden und Kühen zurückbilden; denn diesen Wesen sieht man an, was es heisst, nicht sprechen können: nämlich so viel als eine dumpfe Seele zu haben.

Nun haben in der That viele Menschen und mitunter die Menschen ganzer Zeiträume etwas von Kühen an sich; ihre Seele liegt dumpf und lässig in sich. Sie mögen springen und grasen und sich anstieren, es ist nur ein elender Rest von Seele unter ihnen gemeinsam. Folglich muss ihre Sprache verarmt sein oder mechanisch werden. Denn es ist nicht wahr, dass die Noth die Sprache erzeuge, die Noth des Individuums; sondern höchstens die Noth einer ganzen Heerde, eines Stammes, aber damit diese als das Gemeinsame empfunden werde, muss schon die Seele weiter als das Individuum ist geworden sein, sie muss auf Reisen gehen, sich wieder finden wollen, sie muss erst sprechen wollen, bevor sie spricht; und dieser Wille ist nichts Individuelles. Dächte man sich ein mythologisches Urwesen, mit hundert Köpfen und Füssen und Händen, als die Form des Urmenschen: so würde es mit sich selbst reden; und erst als es merkte, dass es mit sich wie mit einem zweiten, dritten, ja hundertsten Wesen reden könne, liess es sich in seine Theile zerfallen, die einzelnen Menschen, weil es wusste, dass es nicht ganz seine Einheit verlieren könne: denn diese liegt nicht im Raume, wie die Vielheit dieser hundert Menschen; sondern wenn diese sprechen, fühlt sich das mythologische Ungeheuer wieder ganz und eins.

Und klingt denn wirklich das herrliche Tonwesen einer Sprache nach Noth, als der Mutter der Sprache? Ist nicht alles mit Lust und Üppigkeit geboren, frei und mit den Zeichen betrachtenden Tiefsinns? Was hat der affenartige Mensch mit unsern Sprachen zu thun! Ein Volk, welches sechs Casus hat und sein Verbum mit hundert Formen abbeugt, hat eine volle gemeinsame und überströmende Seele; und das Volk, welches eine solche Sprache sich schuf, hat die Fülle seiner Seele auf alle Nachwelt ausgegossen; in einer späteren Zeit werfen sich die gleichen Kräfte in die Form von Dichtern und Musikern und Schauspielern Rednern und Propheten; aber als diese Kräfte noch in der strotzenden Fülle der ersten Jugend waren, erzeugten sie Sprachenbildner: das waren die fruchtbarsten Menschen aller Zeiten, und sie zeichnete aus, was jene Musiker und Künstler zu allen Zeiten auszeichnet: ihre Seele war grösser, liebevoller, gemeinsamer und beinahe mehr in allen als in einem einzelnen dumpfen Winkel lebend. In ihnen sprach die allgemeine Seele mit sich.

Sind für einen zukünftigen Schriftsteller viele Sprachen von Nutzen? Oder überhaupt fremde Sprachen? Zumal für einen deutschen Schriftsteller? Die Griechen hiengen von sich ab und bemühten sich nicht um fremde Sprachen: wohl aber um die eigne. Bei uns umgekehrt: die deutschen Studien haben sich erst allmählich eingedrängt, und sie haben, wie sie getrieben werden, etwas Ausländisches und Gelehrtenhaftes an sich. Viel wird gethan, um lateinischen Stil zu lehren; aber im Deutschen lehrt man Geschichte der Sprache und Litteratur: und doch hat diese Geschichte nur als Mittel und Hülfe einer praktischen Übung Sinn. Deutsch in frühern Perioden lesen zu können ist nichts oder wenig. Aber viel ist, zu einem Urtheil über das Verkommene der gegenwärtigen Sprache zu gelangen und deshalb die Vergangenheit zu Hülfe zu nehmen. Der Wort- und Wendungen-Schatz, der jetzt jedermann zu Gebote steht, ist als verbraucht anzusehn und zu empfinden; wirklich ist die Sprache viel reicher als man nach diesem Schatze meinen sollte; ebenso ist die verschlungene Syntax verbraucht. Man muss also künstlerisch mit der Sprache verfahren, um dem Ekel zu entfliehen; etwa wie ich nicht mehr Mendelssohn’sche Wendungen aushalte; ich verlange nach einer kräftigeren und reizvolleren Sprache. Jetzt wird es freilich viel schwerer zu schreiben als es war; man muss sich seine Sprache machen. Dies ist kein äusserliches Begehren, als ob man eine Tracht satt hätte und nach einer neuen Mode begehrte. Denn ich erkenne in dem stumpfen Character unserer Sprache recht gut unser stumpfgewordnes Deutschthum, unsre verschwindende Individualität. Der Kampf hier und dort ist nur ein Sich-Bäumen gegen die Vernichtung des besseren und stärkeren Deutschthums, an das wir noch glauben. Eine Stillehre, die auf das Correcte und Conventionelle sähe, wäre das letzte, was wir brauchten: während es für die Andern kaum mehr nöthig ist, da sie unwillkürlich darin schon leben, ich meine im Zwange des Correcten und Conventionellen. Wer der deutschen Sprache noch eine Zukunft verheissen will, muss eine Strömung erzeugen gegen unser jetziges Deutsch. Man muss vieles Unglückliche und Gequälte in Kauf nehmen; die nächste Hauptsache ist, dass man sich anstrengt, dass man auf die Sprache Blut und Kraft wendet. Schön und hässlich sind Worte, die uns jetzt gar nichts angehen sollen, guten ‚Geschmack‘ kann es gar nicht geben. Tod aller Weichlichkeit, Bequemlichkeit.

Also: die Verarmung und Verblassung der Sprache ist ein Symptom der verkümmerten allgemeinen Seele in Deutschland; während die grosse Gleichmässigkeit in Wort und Wendung als das Gegentheil erscheinen könnte, als das Gegenstück der politischen Einheit, der Gewinn einer gemeinsamen Seele. Wenigstens könnte man sagen: es entsteht eine Einheit durch Zusammenschrumpfen und durch Erweiterung; die erste Art hätte man jetzt. Zum Beweis dass man die zweite nicht hat, dient es zu sehen, wie unsre grössten und reichsten Geister sich bei den Mitdeutschen gar nicht mehr verständlich machen können. Unwillkürlich werden sie Exilirte. Ebenso dient zum Beweise, was für Schriftsteller und Künstler der jetzigen allgemeinen Seele entsprechen und verstanden werden, z.B. so ein Strauss, Auerbach und dergleichen.

Wie kann man nur Stil und Darstellung so wichtig nehmen! Es kommt doch nur darauf an, dass man sich verständlich mache. — Zugegeben: aber das ist nichts Leichtes und etwas sehr Wichtiges. Man denke, <was für> ein complicirtes Wesen der Mensch ist: wie unendlich schwer für ihn, sich wirklich auszudrücken: Die meisten Menschen bleiben eben in sich kleben und können nicht heraus, das ist aber Sklaverei. Sprechen- und Schreibenlernen heisst freiwerden: zugegeben dass nicht immer das Beste dabei herauskommt; aber es ist gut, dass es sichtbar wird, dass es Wort und Farbe findet. Barbar ist einer, der sich nicht ausdrücken kann, der sklavenhaft plappert. — ‚Schöner Stil‘ freilich ist nichts als ein neuer Käfig, ein vergoldetes Barbarenthum.
Ich verlange von einem Buche Stimmung als Einheit und Maass; das bestimmt Wortwahl, Gleichniss-Art und -Zahl, Gang und Ende.“

Friedrich Wilhelm Nietzsche: Nachgelassene Fragmente. 1874 37[4-8]

„Das Uebergewicht nämlich bei dem, was der Deutsche jetzt jeden Tag liest, liegt ohne Zweifel auf Seiten der Zeitungen nebst dazu gehörigen Zeitschriften: deren Deutsch prägt sich, in dem unaufhörlichen Tropfenfall gleicher Wendungen und gleicher Wörter, seinem Ohre ein, und da er meistens Stunden zu dieser Leserei benutzt, in denen sein ermüdeter Geist ohnehin zum Widerstehen nicht aufgelegt ist, so wird allmählich sein Sprachgehör in diesem Alltags-Deutsch heimisch und vermisst seine Abwesenheit nöthigenfalls mit Schmerz. Die Fabrikanten jener Zeitungen sind aber, ihrer ganzen Beschäftigung gemäss, am allerstärksten an den Schleim dieser Zeitungs-Sprache gewöhnt: sie haben im eigentlichsten Sinne allen Geschmack verloren, und ihre Zunge empfindet höchstens das ganz und gar Corrupte und Willkürliche mit einer Art von Vergnügen. Daraus erklärt sich das tutti unisono [alle im Einklang], mit welchem, trotz jener allgemeinen Erschlaffung und Erkrankung, in jeden neu erfundenen Sprachschnitzer sofort eingestimmt wird: man rächt sich mit solchen frechen Corruptionen an der Sprache wegen der unglaublichen Langeweile, die sie allmählich ihren Lohnarbeitern verursacht. Ich erinnere mich, einen Aufruf von Berthold Auerbach ‚an das deutsche Volk‘ gelesen zu haben, in dem jede Wendung undeutsch verschroben und erlogen war, und der als Ganzes einem seelenlosen Wörtermosaik mit internationaler Syntax glich; um von dem schamlosen Sudeldeutsch zu schweigen, mit dem Eduard Devrient das Andenken Mendelssohn’s feierte. Der Sprachfehler also — das ist das Merkwürdige — gilt unserem Philister nicht als anstössig, sondern als reizvolle Erquickung in der gras- und baumlosen Wüste des Alltags-Deutsches. Aber anstössig bleibt ihm das wahrhaft Produktive. Dem allermodernsten Muster-Schriftsteller wird seine gänzlich verdrehte, verstiegene oder zerfaserte Syntax, sein lächerlicher Neologismus nicht etwa nachgesehen, sondern als Verdienst, als Pikanterie angerechnet: aber wehe dem charaktervollen Stilisten, welcher der Alltags-Wendung eben so ernst und beharrlich aus dem Wege geht als den ‚in letzter Nacht ausgeheckten Monstra der Jetztzeit-Schreiberei‘, wie Schopenhauer sagt. Wenn das Platte, Ausgenutzte, Kraftlose, Gemeine als Regel, das Schlechte und Corrupte als reizvolle Ausnahme hingenommen wird, dann ist das Kräftige, Ungemeine und Schöne in Verruf: so dass sich in Deutschland fortwährend die Geschichte jenes wohlgebildeten Reisenden wiederholt, der in’s Land der Bucklichten kommt, dort überall wegen seiner angeblichen Ungestalt und seines Defektes an Rundung auf das schmählichste verhöhnt wird, bis endlich ein Priester sich seiner annimmt und dem Volke also zuredet: beklagt doch lieber den armen Fremden und bringt dankbaren Sinnes den Göttern ein Opfer, dass sie euch mit diesem stattlichen Fleischberg geschmückt haben.“

Friedrich Wilhelm Nietzsche: Unzeitgemässe Betrachtungen. Erstes Stück: David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller. 11.

„Was für eine Aufgabe hätte eine höhere Bildungsanstalt in diesem Punkte, wenn nicht gerade die, auktoritativ und mit würdiger Strenge die sprachlich verwilderten Jünglinge zurecht zu leiten und ihnen zuzurufen ‚Nehmt eure Sprache ernst! Wer es hier nicht zu dem Gefühl einer heiligen Pflicht bringt, in dem ist auch nicht einmal der Keim für eine höhere Bildung vorhanden. Hier kann sich zeigen, wie hoch oder wie gering ihr die Kunst schätzt und wie weit ihr verwandt mit der Kunst seid, hier in der Behandlung eurer Muttersprache. Erlangt ihr nicht so viel von euch, vor gewissen Worten und Wendungen unserer journalistischen Gewöhnung einen physischen Ekel zu empfinden, so gebt es nur auf, nach Bildung zu streben: denn hier, in der allernächsten Nähe, in jedem Augenblicke eures Sprechens und Schreibens habt ihr einen Prüfstein, wie schwer, wie ungeheuer jetzt die Aufgabe des Gebildeten ist und wie unwahrscheinlich es sein muß, daß Viele von euch zur rechten Bildung kommen.‘ — Im Sinne einer solchen Anrede hätte der deutsche Lehrer am Gymnasium die Verpflichtung, auf tausende von Einzelheiten seine Schüler aufmerksam zu machen und ihnen mit der ganzen Sicherheit eines guten Geschmacks den Gebrauch von solchen Worten geradezu zu verbieten wie z.B. von ‚beanspruchen‘, ‚vereinnahmen‘, ‚einer Sache Rechnung tragen‘, ‚die Initiative ergreifen‘, ‚selbstverständlich‘ — und so weiter cum taedio in infinitum [mit Überdruss ins Unendliche]. Derselbe Lehrer würde ferner an unseren klassischen Autoren von Zeile zu Zeile zeigen müssen, wie sorgsam und streng jede Wendung zu nehmen ist, wenn man das rechte Kunstgefühl im Herzen und die volle Verständlichkeit alles dessen, was man schreibt, vor Augen hat. Er wird immer und immer wieder seine Schüler nöthigen, denselben Gedanken noch einmal und noch besser auszudrücken und wird keine Grenze seiner Thätigkeit finden, bevor nicht die geringer Begabten in einen heiligen Schreck vor der Sprache, die Begabteren in eine edle Begeisterung für dieselbe gerathen sind. Nun, hier ist eine Aufgabe für die sogenannte formelle Bildung und eine der allerwerthvollsten: und was finden wir nun am Gymnasium, an der Stätte der sogenannten formellen Bildung? — Wer das, was er hier gefunden hat, unter die richtigen Rubriken zu bringen versteht, wird wissen, was er von dem jetzigen Gymnasium als einer angeblichen Bildungsanstalt zu halten hat: er wird nämlich finden, daß das Gymnasium nach seiner ursprünglichen Formation nicht für die Bildung, sondern nur für die Gelehrsamkeit erzieht und ferner, daß es neuerdings die Wendung nimmt, als ob es nicht einmal mehr für die Gelehrsamkeit, sondern für die Journalistik erziehn wolle. Dies ist an der Art, wie der deutsche Unterricht ertheilt wird, wie an einem recht zuverlässigen Beispiele zu zeigen. An Stelle jener rein praktischen Instruktion, durch die der Lehrer seine Schüler an eine strenge sprachliche Selbsterziehung gewöhnen sollte, finden wir überall die Ansätze zu einer gelehrt-historischen Behandlung der Muttersprache: d.h. man verfährt mit ihr als ob sie eine todte Sprache sei und als ob es für die Gegenwart und Zukunft dieser Sprache keine Verpflichtungen gäbe. Die historische Manier ist unserer Zeit bis zu dem Grade geläufig geworden, daß auch der lebendige Leib der Sprache ihren anatomischen Studien preisgegeben wird: hier aber beginnt gerade die Bildung, daß man versteht das Lebendige als lebendig zu behandeln, hier beginnt gerade die Aufgabe des Bildungslehrer’s, das überall her sich aufdrängende ‚historische Interesse‘ dort zu unterdrücken, wo vor allen Dingen richtig gehandelt, nicht erkannt werden muß. Unsere Muttersprache aber ist ein Gebiet, auf dem der Schüler richtig handeln lernen muß: und ganz allein nach dieser praktischen Seite hin ist der deutsche Unterricht auf unsern Bildungsanstalten nothwendig. Freilich scheint die historische Manier für den Lehrer bedeutend leichter und bequemer zu sein, ebenfalls scheint sie einer weit geringeren Anlage, überhaupt einem niedrigeren Fluge seines gesammten Wollens und Strebens zu entsprechen. Aber diese selbe Wahrnehmung werden wir auf allen Feldern der pädagogischen Wirklichkeit zu machen haben: das Leichtere und Bequemere hüllt sich in den Mantel prunkhafter Ansprüche und stolzer Titel: das eigentlich Praktische, das zur Bildung gehörige Handeln, als das im Grunde Schwerere erntet die Blicke der Mißgunst und Geringschätzung: weshalb der ehrliche Mensch auch dieses Quidproquo sich und Anderen zur Klarheit bringen muß.“

Friedrich Wilhelm Nietzsche: Ueber die Zukunft unserer Bildungsanstalten. Vortrag II.

„Vollkommene Präcision im Ausdrucke kündigt eine höhere Verstandscultur an, als man den ersten Erfindern der Sprache zuschreiben kann. Der ungebildete Mensch theilt nicht bloß das mit, was der andere von einer Sache wissen soll, oder will, sondern auch was er selbst davon weiß. Daher giebts in den uncultivirten Sprachen eine Menge überflüssiger Bestimmungen, eine Menge Ausdrücke, die, der Verständlichkeit des Ganzen unbeschadet, weggelassen werden könnten.“

Johann Gottlieb Fichte: Von der Sprachfähigkeit und dem Ursprunge der Sprache.

„Folgende Frage aber kann nicht geschenkt werden: wie der Zögling über den Nebel nicht von ihm geschaffener und deshalb nicht verstandener Worte, der nur den Geist, welcher ihm unbewusst in der Sprache umherwankt, keinesweges aber seinen eigenen, in ihm aufkommen lässt, – über diesen Nebel, der den grössten Theil selbst der angeblich gebildeten Menschen zeitlebens gefesselt hält, zur lebendigen Anschauung der Sache selbst gelangen solle?“

Johann Gottlieb Fichte: Aphorismen über Erziehung aus dem Jahre 1804. 2.

Der Umgang der unaufgeklärten Menschen mit Sprache ist so unaufgeklärt wie ihr Umgang mit dem Leben überhaupt. Sprache ist ihnen ein bloßes und sehr grobes Werkzeug, dessen Gebrauch sie kaum beherrschen und mit dem sie nichts tun, als sich und ihren Willen in simplen Alltagssituationen anderen mitzuteilen. Schon um ein Weniges komplexere Mitteilungen überfordern viele Menschen, und deshalb sind Debatten mit ihnen, worum es auch gehen mag, meist müßig: Sie schmeißen mit leeren Begriffen um sich und sie sind nicht in der Lage, selbst die allereinfachsten Äußerungen und Argumente in ihrer Bedeutung zu erfassen (und werden ungehalten, wenn man sie hierauf hinweist; aber ihre empörten Ausrufe, sie könnten zuhören oder lesen!, die darf man getrost ebenso behandeln wie den Ausruf, sie könnten denken!). Über die schlichte Mitteilung einer Information hinaus ist uns die Sprache nichts. Schon gar nicht, was sie Menschen wie Nietzsche oder Schiller noch war, eine Verpflichtung. Vorbei sind die Zeiten, da Menschen noch wirklich an ihrer Sprache arbeiteten, da sie wohl erwogen, wie sie zu sprechen hätten, da sie mehr wollten, als nur, im niedersten möglichen Sinne, verstanden zu werden.

Das Verhältnis zur Sprache ist, wie gesagt, ein unaufgeklärtes. Unaufgeklärt ist der Unmündige, der nicht selbst denkt und nach vernünftigen Prinzipien verfährt, sondern der sich von seiner Willkür leiten oder von Anderen vorgeben lässt, wie er zu denken und zu handeln hat. Gerade so geschieht es gewöhnlich in der Sprache: Die Menschen gebrauchen die Worte und Wendungen gerade so, wie sie ihnen eben just auf die Zunge purzeln. Und sie sprechen, wie man es um sie her tut und wie sie es von Anderen aufgeschnappt haben, ihre Formulierungen sind nachgeplapperte und fest zusammengefügte Klischees, ihre Vokabeln Wörter, deren Bedeutung sie blindlings zu kennen annehmen, über die und ihren eigentlichen Gehalt sie aber niemals reflektiert haben.

Wer, wie ich als Dichter, die deutsche Sprache liebt, dem muss das Schindluder, das mit ihr getrieben wird, schon aus ästhetischen Gründen Widerwillen erregen. Aber auch im Sinne der Aufklärung kann dies nicht sein: Wir denken, wie wir sprechen, und wir sprechen, wie wir denken. Wer nur schwammig und in Phrasen daherreden kann, dessen Verstand ist gewiss wirr und ungeordnet. Nur wer sich um klare Begriffe bemüht, nur wer nicht daherbrabbelt, sondern wirklich Etwas und nicht vielmehr Nichts denkt bei dem, was er sagt, nur der kann ein Aufgeklärter sein. Aber Wörter sind hilflose Geschöpfe, sie müssen hoffen, dass Jemand sich um das Erfassen ihrer Seele bemüht, doch sie können es nicht hindern, dass ein jeder sie benutzt, wie ihm der Sinn oder der Unsinn steht: Aufklärung ist das beste Beispiel: „Es ist zu bejammern, dass dieses herrliche Wort von allerlei losem und leichtfertigem Zeuge gemisbraucht worden.“ (Johann Gottlieb Fichte: Darstellung der Wissenschaftslehre. Aus dem Jahre 1801. Zweiter Teil. §. 33.) Die Obskuranten haben es ja vermocht, dieses Wort derart beharrlich für eine der Aufklärung ganz entgegengesetzte Sache zu gebrauchen, für die Ausklärung nämlich, dass aufgeklärt sein in etwa den Sinn bekam, ein gemäßigter und schlaffer liberaler und agnostischer Demokrat und Humanist zu sein, der Oberflächlichkeiten aneinanderreiht und im Zweifelsfalle damit verteidigt, es sei doch alles Meinungssache und man müsse da differenzieren, es sei nicht alles schwarz und weiß, und wie immer die Phrasen noch lauten – und mittlerweile hat man die Entweihung des Wortes Aufklärung so weit getrieben, dass schon jeder beliebige Nazi es Mut zum kritischen Denken heißen darf, rassistische Gemeinplätze zu grölen und den Klimawandel zu leugnen. Ich arbeite an meinem Sprechen, eine Arbeit, die nie vollendet sein wird, und ich möchte Wörter mit Bewusstsein aussprechen und nicht einfach missbrauchen, wie es das öffentliche Gebrabbel und Gestammel tut oder meiner Willkür beikommt. Wer aber unter einem Volk von Lallenden sauber spricht, den wird man zwangsläufig missverstehen. Daher veröffentliche ich hier dieses private Lexikon.

Sinn und Zweck dieses Bereichs meiner Webseite ist, zu erklären, welche Bedeutung bestimmte Wörter haben, wenn man sie an anderer Stelle bei mir liest oder hört. Ich erläutere hier, inwiefern diese ihre Bedeutung von der herkömmlichen abweicht, warum ich manche Wörter nicht oder an ihrer statt andere und treffendere oder auch weshalb ich manche ganz unbekannte oder ungewohnte Wörter gebrauche. So ein Wort sich in diesem Lexikon findet und ich es anderswo einmal ausspreche, so ist es dort, wenn aus dem Kontext nichts Anderes hervorgeht, nur unter der hier genannten Bedeutung zu verstehen, und aller Sinn, auch alle Konnotationen, die man gewöhnlich damit verbinden mag, sind während der Lektüre meiner Schriften oder dem Anhören meiner Vorträge zu vergessen. Und so es sich hier in diesem Lexikon nicht oder noch nicht findet, so wird man in den meisten Fällen am besten damit fahren, die von mir gebrauchten Ausdrücke ganz wörtlich zu nehmen. Das insbesondere wird schwerfallen; unsere Worte sind so hohl und erstarrt, sie sind uns solche „Selbstverständlichkeiten“, das wir nicht einmal daran zu denken gewohnt sind, dass es sich bei ihnen nicht um vom Himmel gefallene Lautverbindungen handelt, sondern dass mit ihnen einmal ein ganz wörtlicher Sinn verbunden war: oder wer dächte sich heute beiSelbstbewusstsein noch ein Bewusstsein seiner selbst oder bei Interesse ein inter esse, ein Dazwischen-Sein? Ich sehe vorher, dass Viele sich die Mühe nicht machen werden, meine Texte mit Bewusstsein zu lesen und die Worte darin nicht als altbekannte Hüllen zu nehmen, sondern sie wirklich zu be- und überdenken. Zu sehr widerspricht dies der Art, wie wir zu lesen gewohnt sind und auch in der Schule zu lesen gelernt haben: Wir wollen einen Autor rasch herunterlesen, uns von seinen Worten etwas kitzeln lassen und dann weiter unserem Tagwerk nachgehen, wobei wir alles verstanden zu haben meinen, denn es sind ja alle Menschen gleich, es gibt nur relative Meinungen und der soeben gelesene Autor ist ja auch um kein Stück besser denn wir! Diese ganze Haltung mag auch angehen, wenn man mit ihr einem unserer heutigen Schreiberlinge und Dünkelinge entgegentritt. Aber ein wahrhafter Denker, ein Philosoph, den zu lesen ist echte Arbeit, man muss einen solchen erst einmal kennen lernen, muss sich lange und über viele seiner Schriften hinweg mit ihm beschäftigen, sich auf ihn einlassen, sein Denken durchdringen, seine Sprache lernen, begreifen, was ihm die Ausdrücke sind, derer er sich bedient, was sie ihm sind – kurz, man darf also nicht hastig, man darf nicht überheblich, man darf nicht schon ausgebildet, man darf also gar kein Mensch von heute sein.

Obwohl dies Lexikon in erster Linie meine eigenen sprachlichen Idiosynkrasien erhellt und dazu dient, mich verständlich zu machen, darf es doch zugleich als eine Einladung begriffen werden: einmal, auch so zu sprechen, wie ich es tue, da man einsieht, dass es so vernünftiger ist, darüber hinaus, auch hierin selbst zu denken und, unabhängig von mir, die eigene Sprache kritisch und tätig zu gestalten – von einem Solchen könnte dann wiederum auch ich noch lernen, wenn er vielleicht eine sprachliche Ungenauigkeit entdeckte, die mir bisher entgangen und folglich auch noch unterlaufen wäre.

Bangen

Siehe Sorgen.

Billig(keit)

Beim Worte billig dürften die Menschen heute zuerst daran denken, dass eine Sache einen geringen Preis habe – in zweiter Hinsicht, dass sie von minderer Qualität sei: so mag man ein Argument als ein „billiges“ abschmettern und will damit ausdrücken, es sei nicht sehr gut. Die zweite Bedeutung des Wortes ist offensichtlich aus der ersten abgeleitet: Die Sache, so unterstellen wir, ist um einen geringen Preis feil, weil sie auch tatsächlich nicht sehr viel wert, weil sie eben Ramsch ist. Diese erste Bedeutung selber, die die meisten für die eigentliche halten dürften, ist aber selbst nur eine abgeleitete und eigentlich grundfalsch. Und der falsche heutige Gebrauch des Wortes deutet auf unser schlechtes Verhältnis zur Sache, die es eigentlich bezeichnen sollte.

Der richtige Sinn dieses schönen alten Wortes kommt noch am ehesten in zwei selbst bereits veralteten und nur noch selten zu hörenden Ausdrücken vor: etwas sei „recht und billig“ und man „billige etwas“. Was man billigt, das lässt man zu, ja heißt es gar gut, was man missbilligt, das verbietet man vielleicht nicht geradeheraus, man rümpft aber zum wenigsten darüber die Nase. In diesem Verstande scheint Billigkeit am ehesten eine deutsche Entsprechung zur lateinischen Toleranz, doch sind die Begriffe höchstens verwandt, nicht deckungsgleich, da doch tolerare ein bloßes Dulden, vielleicht nur passives und dennoch innerlich missbilligendes Dulden meint, während das Billigen noch weiter geht und eine gewisse Bejahung des Gebilligten ausdrückt. Ähnlichkeit zur Toleranz aber besteht jedenfalls darin, dass beides nicht zwischen Gleichen geübt wird und nicht schlechthinnige Pflicht ist, sondern dass beides eine Herrschertugend gegen den weniger Mächtigen und zu einem gewissen Grade Ausgelieferten ist: billigen wie tolerieren kann nur, wer es nicht muss, wer jederzeit auch „nein“ sagen könnte, aber sich in seiner Souveränität fürs „Ja“ oder „Es sei“ entscheidet. Dies weist uns auf die eigentliche Rolle der Billigkeit: sie ist, wie die schon angeführte Wendung es ahnen lässt, die das Billige neben das Rechte stellt, der Gerechtigkeit verwandt, aber eben mit ihr doch nicht eins (eine Sache könnte auch recht sein, ohne zugleich billig zu sein). In der Tugendlehre des Aristoteles ist sie (ἐπιείκεια – epieikeia) eine wichtige Ergänzung der letzteren: Wenn Gerechtigkeit bedeutet, jedem das Seine zu geben, dem Verdienstvollen seinen Verdienst, dem Verbrecher seine Strafe und einem jeden Stellung, Ehren und Eigentum, wie sie ihm gebühren, so ist die Billigkeit: – die Einsicht darein, wann man einmal von der allgemeinen Regel der Gerechtigkeit abweichen muss, ohne doch deshalb Unrecht zu tun, ja vielmehr Unrecht täte, wenn man kalt und grausam die Gerechtigkeit vollstreckte (die ja immer Krieg ist – und gewiss wird es niemals Weltfrieden geben, solange wir darauf pochen, dass jedes vergangene Unrecht geahndet und begradigt, jedes einmal eroberte Gebiet und jeder gestohlene Besitz zurückgegeben wird, sondern erst dann, wenn wir Billigkeit walten lassen und über manche Kränkung hinwegsehen). Der billige Herrscher mag einmal Milde und Gnade walten lassen, wo jemand dem Buchstaben des Gesetzes zuwider gehandelt hat, aber doch keine Strafe verdient, er mag aber ebenso einmal mit Härte reagieren, wo nach der streng wörtlichen Auslegung des Gesetzes kein Übertreten desselben stattgefunden hat, aber doch ein Unrecht zu ahnden ist.

Billigkeit war eine der antiken Welt wichtige Tugend. Wie die Philosophie, wie Aristoteles sie kannte, kannte sie auch stets die Religion: Billig ist es, wenn die Bibel betont: „Den reinen ists alles rein“ (Tit 1,15), und wenn Jesus erinnert, dass der Sabbat für den Menschen, nicht der Mensch für den Sabbat geschaffen ist, billig ist es, wenn der Koran nicht nur konkrete Einschränkungen seiner Gebote gibt und etwa die Schwachen und Gebrechlichen vom Fasten ausnimmt, sondern wenn er auch ganz allgemein verkündet: „Für die, die glauben und verrichten gute Werke, ist keine Sünde in dem, was sie essen, wenn sie gottesfürchtig sind und glauben und verrichten gute Werke, dann gottesürchtig sind und glauben, dann gottesfürchtig sind und Gutes tun. Und Gott liebt die Schönhandelnden.“ (Koran: 5:93) – und die Assassinen zogen aus derlei Passagen späterhin den Satz der radikalen Billigkeit, den Nietzsche zum Motto des Übermenschen erhob: Nichts ist wahr, alles ist erlaubt. Mit einigem Fug darf man die Billigkeit als zentrale Tugend des Aufgeklärten hochhalten: Denn sie verlangt, im Gegensatze zur Gerechtigkeit, die jede Maschine üben kann, der man die entsprechenden Rechtsmaximen einspeichert, ein Hinschauen und ein eigenes Urteil in jedem Einzelfalle. Es verwundert eben deshalb nicht, wenn eine so unaufgeklärte Zeit wie die unsere die Billigkeit nicht kennt und den Begriff ertötet hat, indem sie seinen Namen fehldeutete und zu einer Banalität herabwürdigte (wie dieses kam, sollte indes leicht ersichtlich sein: man fand es eben billig von einem Verkäufer, seine Ware zu einem niedrigen Preise anzubieten und vielleicht für weniger herzugeben, als er gerechterweise dafür hätte verlangen mögen; man ersieht aber eben hieran auch, wie falsch wir selbst noch den abgeleiteten Sinn des Wortes gebrauchen, denn wir nennen schlechthin alles billig, was uns zu einem niedrigen Preise angeboten wird, und fragen nicht, ob dieser denn wirklich billig ist – oder nicht vielmehr gerade angemessen, weil die Ware eben wirklich geringen Wertes ist, oder selbst unbillig und überteuert, weil die Ware gerechterweise noch weniger kosten müsste). Die Unaufgeklärten wollen nicht die Verantwortung für eigene Urteile und Entscheidungen tragen, sie sind zu faul und zu feig dafür, sie wollen, dass man ihnen eine allgemeine Formel gebe, die sie in ausnahmslos jedem Falle ohne alles Bedenken anwenden können, ohne fragen zu müssen, ob sie hier passe. Sie wollen von einem Kult gesagt bekommen, dass sie nur auf diese Speise verzichten, dies Gebet verrichten müssen und dann sicher in den Himmel kommen. Sie wollen von einem Arzt gesagt bekommen, dass sie nur gerade so viel Sport machen, so viel Kohlenhydrate zu sich nehmen müssen, um gesund zu sein. Oder sie wollen hören, welche bösen Wörter sie zu vermeiden haben oder aber nach welchem allgemeinen Muster sie jemanden verführen können. Es ist auch schwer, den Leuten ihre allgemeinen Regeln auszureden, weil sie immer, wenn man gegen eine Regel spricht, glauben, man wolle das Gegenteil zur Regel erheben, obwohl man vielleicht gerade gegen das gedankenlose Regelbefolgen selbst spricht. So mag dann ein Unternehmen in den USA, aus Angst vor #metoo, seinen Mitarbeitern verbieten, ihre Kollegen auch nur anzutippen, weil ja schon dieses sexuelle Belästigung sein könnte. Die Wahrheit ist, dass es das nicht immer, ja wahrscheinlich nicht einmal oft ist, aber dass es das sein kann – und dass man eigentlich das Antippen weder jederzeit als übergriffig ablehnen noch jederzeit als harmlos geschehen lassen kann, sondern von Fall zu Fall hinschauen müsste, welcher Art es denn hier war, was aber lebensuntüchtige Feministen wie am Guten nicht, sondern nur an persönlicher Schadensbegrenzung interessierte Firmen überfordern würde. Es sei zuletzt betont, dass gerade Verwaltung, dieser Hort der Unmündigkeit, keine Billigkeit kennt, und was nicht mit Formblatt A38 abgefragt werden kann, unbeachtet bleibt – so wie man meine Beschwerde gegen eine Schulleiterin, die mich auf das Betreiben der Bürgermeisterin Giffey hin als AG-Leiter fristlos entließ, abwies, weil sie formal gegen kein Recht verstoßen hatte und für mich als über einen externen Träger Angestellten an der Schule dem Gesetze nach kein Kündigungsschutz bestand. Man ist heute geradezu stolz, seit dem Einsetzen der Ausklärung die Billigkeit im Staate eliminiert zu haben, sodass heute beispielsweise niemand mehr wie einst Fichte oder Nietzsche als Jüngling und ohne vorhergehende Promotion Professor werden könnte. Man denkt heute bei Billigkeit nur an Willkür und die Gefahr von Korruption, Vetternwirtschaft und Klüngelei. Und es ist wahr, dass diese Gefahr besteht, wo man einem Einzelnen verstattet, sich nach eigenem Gutdünken über den Buchstaben einer Regel hinwegzusetzen. Billigkeit kann eben nur von wahrhaft Aufgeklärten geübt werden und wäre bei allen andren nur die Rechtfertigung ihrer Ungerechtigkeit und Tyrannei. Aber das sollte gerade Grund mehr sein, wieder an diese Tugend zu erinnern und sie zu lehren, anstatt ihre Existenz durch den falschen Gebrauch ihres Namens vergessen machen zu lassen.

Und wenn zuletzt jemand klagen wollte, es fehlte doch aber an einem Worte für jene andere Sache, den niedrigen Preis, wenn wir uns den falschen Wortgebrauch verbieten wollten: So irrte er! Was man heute billig heißt, das könnte man auch ebenso gut günstig nennen – womit wir ausdrücken, dass der Preis uns gelegen kommt, d. i. eine Gunst erweist; oder auch preiswert – was aber streng genommen ein ebenfalls falsch gebrauchtes Wort ist, da es ja nur besagt, eine Sache sei ihren Preis wert, nicht, dieser Preis sei niedrig: es könnte nämlich eine Sache sehr teuer, aber eben diesen teuren Preis auch wert sein. Und mag man sich dieser Wörter nicht bedienen, so gibt es ja zum dritten noch das schöne alte wohlfeil, das es verdient, wiederbelebt zu werden, und das gegenüber günstig und preiswert den Vorteil hat, dass es sich auch im anfangs besprochenen abgeleiteten Sinne auf die mindere Güte einer Sache beziehen lässt: sodass man denn ein schlechtes Argument statt ein billiges ein wohlfeiles schimpfen kann.

Gedünkel

Viele Menschen denken nicht, sie dünkeln nur. Was sie ihr Denken nennen, das ist ein undifferenzierter Mischmasch aus wilden Vorstellungen, denen es an echter Anschauung fehlt, Vorurteilen, so unhinterfragt, dass sie nicht einmal als solche erkannt, sondern schlicht als Selbstverständlichkeiten behandelt werden, gesetzloser Einbildungskraft, die wilde Sprünge macht, geleitet von unbewusster Assoziation, und Fetzen von blind angewandten oberflächlichen Kenntnissen, hier oder dort einmal aufgeschnappt, die kein organisches Ganzes bilden, ja einander oft genug widersprechen, auch ohne Konsequenz für Leben und Handeln bleiben. Dieses Dünkeln ist nicht geleitet von Vernunft, sondern von der Natur, d. h. Neigung und Trieb lenken es und bestimmen allzu oft seine Ergebnisse. Die Frucht des Dünkelns ist nicht Wahrheit, sondern Meinung.

Was der Denker in seinem Verstande bewegt und entwickelt, das sind Gedanken. Der Dünkler hat keine Gedanken, was er dafür hält – sind lediglich Gedünkel.

Diese meine Wortschöpfung beginnt mit der im Deutschen häufigen Vorsilbe Ge-. Vor ein Nomen gestellt kann sie ein Kollektivum bezeichnen: Anders als der Plural drückt dies nicht aus, dass es sich um eine Menge von Einzelgegenständen handelt, von denen doch jeder für sich von den anderen abgegrenzt ist, sondern hier verlieren die Teile gerade ihre Eigenständigkeit, sie werden zu einer größeren Einheit zusammengefasst, in der sie aufgehen und die somit ihrerseits wiederum ein Einzelnes ist. So ist ein Gebirge eine Formation von mehreren Bergen, ein Gehölz besteht aus mehreren Hölzern (d. i. Bäumen), so wie ein Gebüsch aus mehreren Büschen besteht oder das Geäst eines Baumes die Summe all seiner einzelnen Äste umfasst, das Getier ist ein Haufen aus allerlei unbestimmten Tieren und die Gebeine eines Menschen sind all seine Knochen, d. h. sein Skelett (Bein ist ursprünglich der Knochen, weshalb das Wort auch noch in den Namen mehrerer Knochen vorkommt, etwa dem des Schlüssel- oder des Nasenbeins, es entstammt derselben Wurzel wie das englische bone). Das Wort Gedanke fasst also mehrere einzelne intellektuelle Vorgänge, mehrere Denken, zu Einem zusammen. (Die Sprache ist hier also weit reflektierter, als der Alltagsmensch es ist, der sich bei einem Gedanken nicht viel denkt, der vielmehr tut, als handelte es sich da um einen isolierbaren und in sich wiederum geschlossenen einfachen Gegenstand, ein geistiges Atom gewissermaßen, und der vergisst, dass selbst Atome sich noch spalten lassen. Auch die Psychologie hat wenig getan, je genauer zu untersuchen, was eigentlich ein Gedanke ist, wenigstens wenn man hierunter die anerkannte Schulpsychologie versteht und große Psychologen wie etwa Nietzsche ausnimmt. Es weiß daher für gewöhnlich höchstens der Philosoph – nicht der Philosophologe; an keiner Universität lernt man heute derlei –, dass ein Gedanke, weit entfernt davon, etwas Einfaches und Unteilbares zu sein, als Kollektivum ganz richtig bezeichnet ist, dass da Anschauungen, Begriffe, Urteile und Schlüsse, auch Affekte zusammenkommen.) Im gleichen Sinne möchte ich den Gedünkel, diesen Pseudogedanken, verstanden wissen: als etwas einfach erscheinendes, in Wahrheit Hochkomplexes und aus vielen Dünkeln Zusammengesetztes.

Intelligenz

Intellegere bedeutet verstehen oder begreifen, bzw. wörtlicher – denn es kommt von inter legere, d. i. zwischen etwas wähleneine Auswahl treffen, d. h. unterscheiden. Intelligenz ist also zunächst das Vermögen zu verstehen, zu Deutsch also: der Verstand in der weiteren Bedeutung dieses Wortes. Genauer: Intelligenz ist das Vermögen der Unterscheidung verschiedener Vorstellungen: Zwischen meiner Wand und der Tür in dieser Wand unterscheiden zu können, mir unter beidem Unterschiedliches zu denken, das erfordert Intelligenz. Intelligenz ist notwendig auch ein praktisches Vermögen. Es kann keine rein anschauende Intelligenz geben, sondern Intelligenz bedeutet stets auch ein praktisches Unterscheidungs- und Wahlvermögen, d. i. Freiheit zu handeln.

Eine Intelligenz ist zudem auch jedes Wesen, das Verstand hat: Ein Mensch ist eine Intelligenz. Andere Vernunftwesen sind Intelligenzen. In diesem Sinne gebraucht man das Wort, wenn man heute vergeblich versucht, eine künstliche Intelligenz zu schaffen: Es geht dabei um eine Qualität, nicht um eine Quantität. Man möchte nicht einen besonders leistungsstarken Computer – solche hat man ja längst, wenn sie freilich stets noch einer Steigerung fähig sind: sie können bereits Schachmeister besiegen oder einigermaßen korrekte Texte verfassen, was mehr ist, als viele Menschen, d. i. viele tatsächliche Intelligenzen können –, sondern man möchte einen Computer, der wie ein Mensch ist: Der also begreift und selbstständig, statt nur nach einer Programmierung agieren kann. Eine Intelligenz ist also jedes Wesen, das Selbstbewusstsein hat. Tiere hingegen sind keine Intelligenzen; nicht weil sie notwendig dumm wären, sie können vielmehr sehr geschickt sein, sondern weil ihnen das Selbstbewusstsein und damit das Vermögen der Unterscheidung und Auswahl, welches eben die Intelligenz ist, fehlt. (Freilich wird auch das Tier nicht gegen die Wand, sondern durch die Tür laufen, aber nicht weil es von beidem ein Bewusstsein hat und sie begrifflich unterscheidet, sondern weil es von beiden auf unterschiedliche Weise sinnlich affiziert wird – der Unterschied ist äußerlich: in dem auf sie einfließenden Reiz und der daraus entspringenden Reaktion, nicht innerlich.) Dass man ein bewusstes Wesen Intelligenz nennt, statt nur zu sagen, es habe Intelligenz, ist sehr trefflich. Denn was immer der Materialismus meinen mag: Wir haben nicht einen Verstand oder ein Bewusstsein, wir sind Verstand bzw. Bewusstsein, alles andere haben wir: So bin ich mir bewusst, einen Körper zu haben, aber ich bin mir nicht körper ein Bewusstsein zu haben, dieser Satz ergibt vielmehr gar keinen Sinn.

Intelligenz sollte nur diese beiden Bedeutungen haben, die im Grunde eine sind. Das Wort bezeichnet eine Qualität. Das zugehörige Adjektiv kann entsprechend auch nur besagen, dass jemandem diese Qualität zukommt: Intelligent ist, wer eine Intelligenz ist, d. h. wer Selbstbewusstsein hat: mit anderen Worten: jeder Mensch. Dieses Adjektiv ist nicht steigerbar. Wohl sind Intelligenzen denkbar, deren Einsichten unsere bei weitem übersteigen, aber sie sind doch damit nicht intelligenter als wir: Ebenso wie der Körper eines Elefanten größer oder stärker sein mag als unserer, aber der Elefant deshalb nicht körperlicher ist als wir. Es sind nur Wesen denkbar, die Körper haben, so wie der Mensch, der Elefant, der Einzeller, oder solche, die keinen haben, wenn man sich etwa Engel oder Dschinn gedenkt, aber unter den körperlichen Lebewesen sind alle gleich körperlich, wie sehr sich ihre Körper und deren Fähigkeiten auch unterscheiden mögen, und genau im selben Sinne sind unter den intelligenten Wesen alle gleich intelligent.

Intelligenz ist also kein Synonym für Klugheit und es ist ein unsäglicher Missbrauch mit Worten, wenn man von jemandem, der doch ein Mensch und kein Biest ist, sagt, er sei nicht sonderlich intelligent, oder wenn man einem anderen besonders große Intelligenz zuschreibt. Man sollte aufhören, das Wort in diesem banalen Sinne zu gebrauchen und damit zu beschreiben, wie gut ein Mensch knobeln, kalkulieren und Rätsel und Probleme lösen kann. Unsere so reiche Sprache bietet uns genügend andere Adjektive: Wir können Menschen (und teils auch Tiere) klug, gescheit, scharfsinnig, gewitzt, geschickt und mehr nennen (Wörter, die freilich untereinander nichts weniger als Synonyme sind, sondern feine Nuancen ausdrücken), ohne eine Beschreibung verwenden zu müssen, die dem Tiere nicht gebührt, die aber andererseits jedem Menschen zuzugestehen und eben deshalb zwischen diesen keine Rangunterschiede markieren kann.

Menschenschaft

Siehe Menschheit.

Menschheit

Die Menschheit, das ist dem gemeinen Deutschen heute nicht mehr als die Summe aller Menschen. Die Endung -heit scheint jedoch ihrer germanischen Wurzel nach eher so etwas wie die Art oder das Wesen zu bezeichnen. Sie drückt eine Qualität aus, statt eine Gruppe zu umfassen. Schließlich ist die Schönheit nicht die Menge alles Schönen in der Welt, sondern die Schönheit beispielsweise einer Rose ist eben gerade das Schöne an dieser. Ebenso verhält es sich mit der Wahrheit: Nicht alles Wahre überhaupt ist hiermit gemeint, sondern wenn in einem Satze Wahrheit liegt, so ist er eben wahr. Auch die Weisheit, die Bosheit, die Trunkenheit sind Eigenschaften, die einem einzelnen Menschen zukommen können und eben das sind, was ihn weise, boshaft oder trunken macht. Am deutlichsten erkennen, was Menschheit bedeutet, kann vielleicht, wer an das parallele Wort Tierheit denkt. Niemandem käme wohl in den Sinn, anzunehmen, es sollte hiermit die Gesamtheit aller Tiere umfasst werden, vielmehr ist unmittelbar klar, dass Tierheit eine Qualität bezeichnet, eben das Tierische, sodass man von Einem, der alles Denken auf- und sich ganz dem blinden Sinnengenuss hingegeben hätte, urteilen könnte: „Er ist zur Tierheit herabgesunken – weil er nämlich auf seine Menschheit Verzicht getan hat.“ (Die entsprechende Endung im Lateinischen ist -tas, woraus im Deutschen -tät wie in Qualität (von qualitas) geworden ist, sodass Tierheit und Menschheit bildungssprachlich mit Bestialität und Humanität wiedergegeben werden könnten, wenn nicht im Wort Bestie heute stets etwas von besonderer Wildheit und Grausamkeit mitschwingen und wenn nicht Humanität allzu leicht an eine mildtätige Menschenfreundlichkeit denken lassen würde (anstelle des ersteren dieser beiden Worte mag die weniger verfängliche Animalität treten).)

Meine Menschheit ist also das eigentlich Menschliche an mir, das, was mich, darüber hinaus, dass ich Hände oder Augen habe, dass ich Lust oder Schmerz fühle, dass ich gehen und Geräusche von mir geben kann – was ich doch alles mit dem Tiere teile – zum Menschen macht. Es handelt sich um einen höchst erhabenen Begriff, auf dem alle Moral gegründet ist und den man, wenn man ihn bei Kant oder Fichte liest, nur mit tiefer Ehrfurcht hören kann: Meine Menschheit verleiht mir die Vernunft. Die Wenigsten erheben sich je zur Menschheit, indem sie den Mut ausbilden, wirklich vernünftig zu sein, anstatt Sklaven einer launenhaften Natur. Die Würde der Menschheit (nicht etwa des Menschen, der als solcher, als rein biologisches Wesen, das frisst, fickt und stirbt, nicht mehr Würde hat als irgendeine Laus) habe ich zu achten, sowohl in meiner Person als auch in der jedes anderen: Alle Unsittlichkeit, ob nun der Betrug, ob die Vergewaltigung, ob der Mord, besteht darin, dass ich jemandes Menschheit missachte und ihn als bloßes Ding handhabe. Viele mögen sich selbst missachten und dieserart als Ding behandeln, und insofern sie dies tun, handeln sie ebenfalls unmoralisch und sind übrigens ohne alle Würde. Aber auch Jener Menschheit habe ich zu achten; es wird hier deutlich, warum manche sich so schwertun, den Verbrecher zu achten, warum sie nach Hinrichtung oder Folter, nach aller Art von Rache schreien und ihm das Menschsein ganz absprechen können und warum es den Vertretern einer weichlichen Menschlichkeit so schwerfällt, sie hiervon abzubringen: Jene gegen den Verbrecher Wetternden haben von ihrer Seite her ganz recht, er ist wahrlich kein Mensch und er ist, als der, der er ist, als Verbrecher, wirklich keiner Achtung wert, und keine Vernunft könnte angeben, was daran gelegen sein soll, dass er, wie er ist, weiterlebe – aber nicht ihn soll ich achten, sondern die Menschheit in ihm, und wenn ich sein Leben schonen, wenn ich ihn nicht demütigen oder foltern soll, so nicht um dessen willen, was er ist – dieses ist in der Tat ohne allen Wert und verdiente das Leben nicht –, sondern um dessentwillen, was er sein kann und wozu selbst der Verworfenste sich vielleicht noch zu erheben vermag, weshalb wir verpflichtet bleiben, ihm mit Achtung zu begegnen und an seiner Besserung zu arbeiten.

Es ist nun deutlich, weshalb der Begriff der Menschheit gänzlich ausgestorben und heute die Sache selbst nicht einmal bekannt ist, während man mit dem Wort etwas ganz anderes und höchst Banales bezeichnet: Derlei geschieht nie zufällig, denn die Worte spiegeln das Denken einer Nation, und in diesem Falle offenbart sich hier das Zeitalter der Ausklärung in all seiner Plattheit: Es kennt eben nichts Geistiges und Erhabenes, nichts jenseits der empirischen Oberfläche Liegendes, es kennt keine Menschheit und deshalb auch keine höhere Moral. Es ist bezeichnend, dass es statt von der Menschheit gerne von der Menschlichkeit redet, ein weit schlafferer und breiig-unbestimmter Begriff: Die Menschlichkeit ist ebenfalls, was mich zum Menschen macht, aber viel mehr im kreatürlichen Sinne als im Verstande eines Vernunftwesens, sie bezeichnet viel mehr meine Emotionen als meine Vernunft. Und auch in der Menschlichkeit schwingt etwas Moralisches mit, aber etwas sehr Gefühlsduseliges, etwas von Erbarmen und Mitleid, das also zugleich insgeheim sehr selbstgerecht als auch nicht wahrhaft moralisch, nicht auf Vernunft Gegründetes und eine Pflicht Gebietendes ist: Manche Gutmütigen würden gegen den oben genannten Verbrecher Menschlichkeit fordern; begründen könnten sie das gegen Jene nicht, die zurecht nicht einsehen, warum sie mit solch einem Verbrecher mitleiden sollten, und gegen ihn selbst wären sie höchst unsittlich, denn in ihrer Menschlichkeit belassen sie ihn, wie er ist, anstatt in ihm das zu achten und zu fördern, was er zu sein vermöchte. Eine große Denkerin wie Arendt hatte guten Grund, sich dagegen auszusprechen, dass man den Straftatbestand des crime against humanity (ein höchst dreideutiger Begriff) mit Verbrechen gegen die Menschlichkeit übersetzt: „–as though the Nazis had simply been lacking in human kindness, certainly the understatement of the century.“ („– als hätten es die Nazis lediglich an ‚Menschlichkeit‘ fehlen lassen, als sie Millionen in die Gaskammern schickten, wahrhaftig das Understatement des Jahrhunderts.“ Johanna Arendt: Eichmann in Jerusalem. Epilog. Und im Vorbeigehen gefragt, was sollte man sich überhaupt unter einem Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorzustellen haben? Äußersten Falles könnte das Verbrechen doch in einem Mangel an Menschlichkeit bestehen, aber es würde darob doch nicht gegen die Menschlichkeit verübt, diese, die kein Subjekt ist, wäre nicht das Opfer des Verbrechens. Ein Verbrechen gegen die Menschheit hingegen, das ist etwas mögliches.) So sah es freilich ein Eichmann: der sein eigentliches Verbrechen nie als solches bekannte, sich aber empörte, wenn er von einzelnen Wachen hörte, die Juden misshandelt hatten, als sie sie in die Züge in die KZs steckten, da er an Mord offenbar nichts Falsches sah, aber wollte, dass dabei alles anständig und menschlich zuging. Die Nazis hätten die Juden aber nicht menschlich behandeln, sie hätten sie nicht ein wenig schonen oder ihnen ein paar Brotkrumen aus Mitleid zuwerfen sollen; menschlich kann man auch gegen das Tier sein (und war es manch gänzlich unsittlicher Nazi gegen dieses). Nein, sie hätten sie als Menschen, d. i. sie hätten ihre Menschheit achten sollen.

Hier könnte nun noch jemand fragen, wie er denn, wenn das Wort Menschheit künftig für Das reserviert sein soll, was es eigentlich bezeichnet und was keinen anderen Namen hat noch duldet, fortan das bezeichnen soll, was heute gemeinhin Menschheit genannt wird. Aber dies ist keine große Schwierigkeit, der Möglichkeiten gibt es viele: Er kann von Menschen schlechtweg reden. Was nimmt es Wendungen wie „Menschheitsgeschichte“ oder „Der Klimawandel ist die größte Bedrohung, der sich die Menschheit je gegenüber sah“, wenn ich stattdessen „Menschengeschichte“ oder „Der Klimawandel ist die größte Bedrohung, der sich der Mensch je gegenüber sah“ sage? Wir könnten auch dazu übergehen, wieder das schöne Wort Menschengeschlecht zu gebrauchen, das im Zeitalter der Aufklärung in Gebrauch war und das dem englischen humankind am nächsten kommt. Ich meinesteils möchte das Wort Menschenschaft in Vorschlag bringen: Die Endung -schaft nämlich dient viel eher als die Endung -heit dazu, Gruppen zu bezeichnen (wenn dies auch nicht ihre ausschließliche Funktion ist): So ist unter meiner Verwandtschaft die Summe all meiner Verwandten zu verstehen (noch Luther verwendet auch das Wort Freundschaft in analoger Weise), eine Mannschaft ist eine Gruppe von Männern, ich kann von der Lehrerschaft oder der Schülerschaft einer Schule sprechen, wenn ich alle dortigen Lehrer oder Schüler umfassen will, usw. Auch Wissenschaft wurde einst in diesem Sinne gebraucht, ein Mann von großer Wissenschaft, das bezeichnete ehemals jemanden, der viel Wissen besaß, also den, den man heute einen Gebildeten nennen würde. (In anderen Fällen bezeichnen Schaften heute eher abstrakte Institutionen und gemeine Wesen, hatten aber ursprünglich ebenfalls die Bedeutung eines Kollektivs, so die Gesellschaft, die Burschenschaft, die Bruderschaft, die einmal ganz unmittelbar eine Ansammlung von Gesellen, Burschen oder Brüdern meinten.) Die Menschenschaft, das wäre demnach das ganze Gewimmel und Gewusel an Menschen, das diesen Planeten bevölkert, also gerade, was man heute irrtümlich als Menschheit tituliert.

Menschlichkeit

Siehe Menschheit.

Negativ

Siehe Positiv(ismus).

Philodoxie

Philía (φιλία) ist Freundschaft oder Liebe, doxa (δόξα) eine Meinung oder ein Schein. Während also der Philosoph die Weisheit (sophía, σοφία) liebt, liebt der Philodox die Meinung. Er kann sehr gescheit sein, aber er dünkelt, statt zu denken, und er ist bestenfalls klug (d. h. er kennt vielleicht seinen Vorteil), aber nie weise (d. h. er ist nicht gut).

Die kardinale Tugend des Philosophen ist seine Wahrheitsliebe, sein Wahlspruch lautet: fiat veritas et pereat mundus (es sei Wahrheit und die Welt gehe zugrunde). An seiner statt hat der Philodox den geheimen Wahlspruch – er wird ihn nie vor anderen oder auch nur sich selbst bekennen, denn das würde ja bereits Liebe zur Wahrheit voraussetzen –: fiat mundus (id est: fiat ego) et pereat veritas (es sei die Welt (das ist: es sei ich) und die Wahrheit gehe zugrunde). Er ist nicht nur kein Freund der Wahrheit, dem diese gleichgültig wäre, sondern er ist ihr Todfeind und er hasst sie und jeden ihrer Priester leidenschaftlich, und dies ist ganz natürlich, denn er liebt ja die Meinung, Wahrheit aber tötet und vernichtet die Meinung, wo immer sie sich offenbart.

Wahrheit erlangen wir nur durch die Vernunft. Wer die Wahrheit liebt, der wird sich daher ihrem Ausspruch unterwerfen. Er weiß, dass er selbst nicht mitzureden hat, und er will auch nicht mitreden, wenn die Vernunft gebietet: 1 + 1 ist 2. Hier schreit aber der Philodox trotzig und empört: „Wo bleibe denn da aber ich? Soll denn etwa nur die Stimme der Vernunft laut werden dürfen und meine eigene gar nichts gelten? Ich möchte, dass 1 + 1 = 3 sei oder auch 67 oder Gartenzaun!“ So wie alle Wahrheit aus der Vernunft kommt, so kommt alle Meinung vom Selbst her. Die Philodoxie ist also in ihrer Wurzel Selbstliebe, und so wie der Philosoph von Wahrheitsliebe getragen ist, so der Philodox von jener. Über alle Ansprüche, die Vernunft, Wahrheit, Wissenschaft auf seine unbedingte Unterwerfung tun, wird er daher ein Gezeter erheben, wird von Diktatur und Totalitarismus und Ende der Meinungsfreiheit schreien, auch wenn ihm keiner etwas verbietet und er nur erinnert wurde, dass er in seiner kleinen Person nicht das Absolute vorstellt.

Nimmt man die Begriffe in einem weiten Sinne, so könnte man wohl urteilen: Jeder Mensch ist entweder Philosoph oder Philodox. Wenigstens gilt das in einem ausgeklärten Zeitalter wie dem unseren: – denn negative Aufklärung macht Philodoxen; vor jeder Aufklärung möchte der Mensch noch eher Dogmatiker sein und an einer fremden Meinung mehr hängen als an der eigenen, oder aber schlicht ein Unbekümmerter, der nach wahr und falsch nicht fragt, während er seinem Tagwerk nachgeht.

Fasst man die Begriffe enger, so verstehe ich unter Philodoxen vor allem jene Intellektuellen, die als Philosophen aufzutreten die Stirn haben, aber nicht redlich die Wahrheit suchen, sondern nur sich profilieren und ihre Meinung in Büchern, Feuilletons, Podcasts und Talkshows herausposaunen, wenn sie es auch verstehen, diese gewichtig und nachdenklich klingen zu lassen. Solche entarteten Philosophen sind böse und verächtlich, denn sie sind Schmarotzer an der Gesellschaft, die zu ihr nichts beitragen: Ein unaufgeklärter Bäcker oder Lokführer backt doch immer noch den Menschen Brot oder fährt sie von Hier nach Dort, ein unaufgeklärter Philosoph aber philosophiert nicht, er ist gar Nichts, denn er sollte ja gerade Aufklärer sein und nicht bloßer Schwätzer, er zehrt also von der Gesellschaft, lebt von ihrer Aufmerksamkeit und ihrem Gelde, hat sich wahrscheinlich von ihr sein Studium und seine Promotion ermöglichen lassen, gibt ihr dafür aber doch nichts zurück und wäre weniger verachtenswert, wenn er stattdessen offen aufs Arbeiten verzichtete und einfach Sozialhilfe beantragte. Die Philodoxen sind aber überdies gefährlich, denn sie sind ja nicht nur Äffchen oder Papageien, die zwar keinen Beitrag leisten wie der Ackergaul und der Hofhund, sondern in der Öffentlichkeit abgeschmackte, aber in der Folge immerhin harmlose Kunststückchen vollführen. Sie sind Ausklärer. Sie machen in den Augen derer, die den Unterschied zwischen ihnen und den Philosophen nicht kennen, die Philosophie verächtlich und benehmen ihr damit alle mögliche Wirkung auf die Aufklärung der Menschen: Dank ihrer geht die Masse entweder achtlos an den Philosophen vorbei, wähnend, auch diese wären nur Philodoxen und die ganze Philosophie wäre solch läppische Schwätzerei – was noch der bessere Fall ist – oder – was die üblere und gerade heute umso häufigere Folge ist – sie erziehen auch die Masse zum Meinen und zur Philodoxie und lassen im gemeinen Manne den Gedünkel aufkommen: „Wenn mehr nicht dazu gehört und wenn es ohnehin keine Wahrheit, sondern nur Meinung gibt – dann kann ja auch ich mitschwatzen und verdiene ebenso, gehört zu werden, und darf ebenso bei vernünftigem Widerspruch auf die heilige Meinungsfreiheit pochen, kann also ebenso Philosoph sein!“

Philosophologen sind, als solche, keine Philodoxen. Sie können ehrenwerte und redliche Gelehrte sein, zwar vielleicht nicht wahrheitsliebend, aber doch immerhin faktenliebend, während der Philodox immer verächtlich und immer falsch ist und immer mehr seiner eigenen Meinung anhängt als den Tatsachen, gegen die er stets sehr wegwerfend sein wird, denn sie stören, wie jede noch so geringe Wahrheit, nur als ein Ballast den freien Flug seines Eigendünkels und seiner Einbildungskraft. Indes können Philodoxen auch als Philosophologen arbeiten. Sie sind dann, außer dass sie jederzeit schlechte Gelehrte abgeben, da sie für Philologie keinen Sinn haben und alles Mikrologische, was den historischen Arbeiter auszeichnet, ja überhaupt alles, was nach echter Arbeit riecht, scheuen, jederzeit besonders schädlich, denn sie unterrichten an den Universitäten die Jugend, d. h. sie bringen die Ausklärung und den Kampf gegen Philosophie und Vernunft bis in die Seminarräume und verderben gerade Die, die mehr sein sollten, bis aus ihnen eine neue Generation von Philodoxen geworden ist. (Auch mag sich der Philodox in seinem Eigendünkel zumeist nicht auf ein Seminar oder eine Vorlesung beschränken, denn er will nicht nur für sich oder für Wenige meinen, er will mit seiner Meinung gehört werden, so wenig er sich damit aufhalten mag, andere Meinungen anzuhören. Solche Professoren, während ernsthaftere Kollegen die Zeit abseits der Lehre ganz für ihre Forschung aufwenden, werden daher gerade jene sein, die sich in Podcasts laden lassen und die den Buchmarkt mit ihren Ergüssen überfluten.)

Vom Sophisten unterscheidet sich der Philodox dadurch: Dass zwar auch der Sophist nicht die Wahrheit liebt; er liebt aber auch nicht gerade die eigene Meinung, d. h. er wähnt auch gar nicht, die Wahrheit zu lieben, sondern weiß, was er ist: Er ist ein Betrüger, und eben damit ist er ehrlicher als der Philodox. Der ist zwar – nicht gerade in seiner plumpesten Form, als gemeiner Mann, aber doch wohl, wenn er Intellektueller ist – auch sophistisch, aber er ist nicht Sophist, das soll besagen: Er betrügt die Menschen nicht absichtlich und wissentlich durch Scheingründe, sondern er betrügt vor allem und zuvörderst sich selbst. Sein Kampf gegen Philosophie, Vernunft und Wahrheit ist aus einem Instinkt heraus geführt, nicht aus einem bewussten Plane.

Es gibt neben der aktiven Philodoxie, der Liebe zur eigenen Meinung und dem lauten Herumgemeine, auch noch eine passive Philodoxie: die Liebe zu fremden Meinungen, den Drang, sich allerhand Meinungen anzuhören, etwa lauter kluge Bücher von lauter klugen Philodoxen zu lesen, wobei es einem solchen passiven Philodox nie darum geht, hierbei etwas zu lernen, also wirklich gebildet und transformiert zu werden und Wahrheit zu finden durch die Hilfe Anderer, sondern es ist nur ein müßiger Zeitvertreib, eine Art Geistesmassage, ein fruchtloses Suhlen in und Sammeln von fremden Meinungen, die man dann bestenfalls besitzt wie ein Insektensammler eine Reihe aufgespießter und toter Schmetterlinge besitzt. So jemandem sind alle Meinungen gleich, er hat kein Ja und er hat kein Nein, ja es erschreckt, es belustigt ihn, wenn ein anderer zu den Meinungen, die er, der passive Philodox, auf sich einfließen lässt, ja oder nein sagt, zuletzt empört und ängstigt es ihn, wenn der Andere damit nach einem freundlichen und amüsierten Tadel nicht aufhört, sondern anzeigt, dass es ihm ernst ist. Der Philodox hasst den Ernst. Er lässt sich alle Meinungen gefallen, findet alle Meinungen „interessant“ oder „bedenkenswert“, selbst menschenverachtende, böse und schädliche Meinungen stoßen ihm nicht auf und er will sie auch als solche nicht benannt wissen, aber dass jemand nicht meint, sondern überzeugt ist, dass jemand mit Ernst von Wahr und Falsch, Gut und Böse, Schön und Hässlich redet, das macht ihn zuletzt rasend und ist ein gutes Mittel, aus dem Ausgeklärten den Faschisten herauszukitzeln, der irgendwo in dessen Seele immer schlummert. Übrigens, das sei zum Schlusse klargestellt, dürfte kaum irgendwo ein wahrhaft passiver Philodox zu finden sein. So jemand würde sein Selbst ja ganz wegwerfen, er würde sich unterwerfen, wie er soll, wenn auch nicht, unter wen er soll, nämlich nicht unter die Vernunft, sondern unter den Dünkel anderer Menschen. Die Philodoxie wurzelt ja aber gerade in der Selbstliebe und speist sich vor allem aus dem Eigendünkel. Solche passiven Philodoxe wollen doch durch die Beschäftigung mit anderen Meinungen zuletzt ihre eigenen nähren: entweder dass sie einen Stoff zum blöden Meinen zusammensuchen oder dass sie, die sich nie an dem bilden wollen, was sie sich zu Gemüte führen, sich doch dadurch bilden lassen: nämlich verbilden und ausklären und von der Nichtigkeit aller Wahrheit und dem souveränen Wert aller Meinung, also zuletzt doch auch der eigenen, belehren. Meist sind es Menschen mit kleinerem Wirkungskreis: Man lädt sie nicht in Talkshows und keine Feuilletons würden ihre Texte veröffentlichen (oft könnten sie auch gar keine schreiben, nicht einmal schlechte). Aber man sei gewiss, dass sie in ihrem begrenzten Wirkungskreise, und sei es nur am Küchentisch gegenüber der Verwandtschaft und Bekanntschaft, so emsig und aktiv die Philodoxie betreiben werden wie ihre großen Vorbilder und Verderber.

Philosophologie

Es ist eine Unsitte, ja ein Verbrechen, dass heute jeder drittklassige Professor der Philosophologie im Feuilleton, in Talkshows, in Podcasts, auf Buchrücken ein Philosoph heißen darf. Es ist zum mindesten ein Beweis für die gänzliche Unkenntnis dessen, was Philosophie auch nur ist (um vom Inhalte derselben ganz zu schweigen); ja mehr, es ist ein Beweis, dass man keinen Augenblick auch nur nachdenkt, was Philosophie und was wiederum solch ein Professor ist: Denn es bräuchte keineswegs die mindeste Kenntnis der Philosophie, um zu bemerken, dass ein solcher eben kein Philosoph ist, es müsste dieses auch dem gänzlich Fachfremden aufgehen, wenn er nur einmal mündig seinen Verstand gebrauchte, statt gedankenlos nachzuplappern, was er so aufschnappt. – Auch der Unkundige begreift ja leicht, dass es einen Unterschied gibt zwischen dem Dichter und dem Literaturwissenschaftler oder -historiker, zwischen dem Musiker oder Komponisten und dem Musikwissenschaftler oder -historiker, zwischen dem Maler oder Bildhauer und dem Kunstwissenschaftler oder -historiker, zwischen dem Propheten oder Heiligen oder Mystiker und dem Religionswissenschaftler; es bedarf keineswegs der inhaltlichen Kenntnis der Dichtung, der Musik, der Malerei, der Religion, um unmittelbar einzusehen, dass es ein Anderes ist: eine Sache tätig schaffen und in die Welt bringen und sie, nachdem ein andrer sie hervorgebracht, auffassen, untersuchen, einordnen, auf ihre Entstehungsgeschichte und ihre Abhängigkeiten und Folgen hin befragen, deuten. Dass man allein im Falle der Philosophie und Philosophologie, obwohl man doch auch gegen die anderen genannten Gebiete reichlich ignorant ist, diesen Unterschied verkennt, das spricht dafür, dass hier mehr als bloße harmlose Ignoranz wirkt, ein Verdacht, der sich umso mehr erhärtet, bedenkt man, dass selbst eine Vielzahl von Philosophologen nicht wissen, dass sie solche sind, und sich ganz gedankenlos als Philosophen bezeichnen, obwohl doch gerade sie es besser wissen und den unendlichen Abstand zwischen ihrer eigenen Beschränktheit und Mittelmäßigkeit und der Riesenhaftigkeit unsrer großen Geister deutlich spüren müssten. Es zeigt sich hier, dass die genannte Verwechslung Teil einer (freilich durchaus ganz unbewussten und ganz dezentralen, nicht von irgendeiner bösen Kamarilla gesteuerten) Verschwörung ist: eines Versuches, die Philosophie zu banalisieren und zu solch einer seichten, schwammigen, unklaren und belanglosen Sache zu machen in den Augen der meisten, dass diese Meisten sich mit ihr niemals befassen und ihre Schätze nie entdecken werden.

Ich grenze also vom Philosophen ab denjenigen, der sich mit den Philosophen und ihren Worten auseinandersetzt, sie erforscht und interpretiert. Den letzteren könnte man den Philosophiehistoriker oder -kundler nennen: – einmal insofern er alle Philosophie nicht genetisch aus sich selbst hervorgehen lässt, sondern als ein schon vorhandenes historisches Datum auffasst, mit dem er sich nun auseinandersetzt, zum anderen insbesondere, insofern oftmals gerade die Geschichte der Philosophie und der philosophischen Systeme, Versuche und Kritiken sein Forschungsgegenstand ist. Die Interpretation derselben will aber über reine Historie hinausgehen. Man könnte diesen Forscher daher auch analog zu den anderen genannten, etwa zum Literaturwissenschaftler, einen Philosophiewissenschaftler nennen, allerdings ist dies ein höchst zweideutiger und unbestimmter Gebrauch des Wortes Wissenschaft und man dürfte diese Bezeichnung höchstens so verstehen, dass sie jemanden meint, der Wissenschaft, d. i. Wissen und Kenntnis, von der Philosophie hat, nicht jemanden, der eigentlich wissenschaftlich, d. i. genetisch anstatt historisch, erkennt: insofern nämlich keine genetische Erkenntnis des zufälligerweise schon von Menschen Gedachten stattfinden kann, eine genetische Erkenntnis des notwendig zu Denkenden oder überhaupt Denkbaren aber bereits Philosophie selbst wäre. Ich wähle daher meist die, gewiss ebenfalls unvollkommene, Bezeichnung Philosophologe, wobei ich hier unter -logie wie in anderen ähnlichen Wortzusammensetzungen die Lehre von (d. i. hier die Lehre von der Philosophie) begreife, nicht die Wissenschaft von. Philosophologie wäre das Fach des Philosophologen – und dieses Fach allein wird an den Universitäten gelehrt, es ist also falsch, wenn jemand behauptet, er habe Philosophie studiert, in Philosophie promoviert, einen philosophischen Lehrstuhl, etc., indem ja nirgends an den Universitäten Philosophieunterricht stattfindet oder Menschen zu Philosophen gemacht werden (ja man machte sich selbst das Leben an der Universität gehörig schwer, versuchte man etwa in einer Hausarbeit, statt nur historisch zu arbeiten, eigene philosophische Gedanken vorzulegen, und auch der Dozent, der in einer Vorlesung eine Übersicht über die Philosophiegeschichte gibt, wird sich zumeist hüten, mehr zu tun, als die verschiedenen Systeme nebeneinanderzustellen und vielleicht ihre Beziehung zueinander darzustellen, wird nicht wie etwa seinerzeit Hegel ein eigentliches Urteil über die behandelten Systeme fällen), sondern hier eben Philosophologie betrieben wird. (Der sogenannte Philosophieunterricht an den Schulen hingegen ist zumeist auch kein, nicht einmal schlechter und oberflächlicher, philosophiehistorischer Unterricht, sondern ein Philodoxieunterricht, der die Schüler nur recht zum Meinen erziehen und, wiederum als Teil jener unbewussten und ungeplanten Verschwörung, von der wahrhaften Philosophie fernhalten soll.)

Es sollte keiner Klarstellung bedürfen, bedarf ihrer aber erfahrungsgemäß doch: dass ich die Bezeichnung Philosophologie nicht im abwertenden, sondern im rein beschreibenden und unterscheidenden Sinne gebrauche. Ein Philosophologe ist mir nicht ein schlechter oder Pseudophilosoph, das Wort Philosophologie bezeichnet mir nicht die Afterphilosophie in irgendeiner ihrer Gestalten, sondern eben die historische Auseinandersetzung mit den Philosophen und ihren Lehren – was ein ehrenwertes und wichtiges Geschäft ist, welches mindestens von Diogenes Laertios an mit viel Fleiß getrieben wurde. Es wurde auch immer wieder von den Philosophen getrieben: Denn wenn ich auch freilich darauf beharre, dass ein Philosophologe als Philosophologe kein Philosoph ist, so kann doch ein Mensch durchaus beides sein, so wie ja auch ein Philologe durchaus zugleich Dichter sein kann und sich beides nicht ausschließt: Aristoteles war, noch vor Diogenes Laertios, vielleicht der erste Philosoph, der auch eine gewisse Philosophologie trieb, in neuerer Zeit ist vor allem Hegel als Philosophologe bedeutsam und in dieser Hinsicht auch schon oben angeführt worden, aber auch Nietzsche hat ein unvollendetes philosophologisches Werk über die Vorsokratiker verfasst und selbst bei Kant gibt es einzelne philosophologische Passagen und Bemerkungen; um von vielen Weiteren zu schweigen. Und bin ich nicht selbst, der ich doch Philosoph bin, in viel umfassenderer Weise Philosophologe als vielleicht irgendeiner meiner philosophischen Vorgänger? Sollte nicht schon dies hinreichend sein, um zu erkennen, dass ich mit dieser Bezeichnung keine generelle Abwertung verbinden kann, da ich ja mich selbst abwerten würde? Die Philosophologen haben ihren Platz und werden gebraucht, gerade auch von den Philosophen: Wer, wie Fichte bemerkte, nicht länger sucht, sondern sein eigenes System ausgearbeitet hat, der wird an dessen Ausarbeitung feilen und weiter auf der eingeschlagenen Bahn voranschreiten, er wird nicht die Muße und Kraft haben, sich noch ausgiebig mit Allem zu beschäftigen, was andere gedacht haben, auch wenn er dessen Wert anerkennt und würdigt, d. h. er wird sich vielleicht selbst nicht umfassend philosophologisch betätigen können. Dem Philosophen sind daher „einige hundert Jagdgehülfen und feine gelehrte Spürhunde“ (Friedrich Wilhelm Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse. Drittes Hauptstück. 45.) zu wünsche, die er ins Dickicht der Bücher und Worte entsenden kann und die ihm das Wichtige zutragen können. Nur soll sich der Spürhund nicht mit dem Jäger verwechseln, und der Philosophologe, sofern er nur dieses ist, soll nicht mehr sein wollen. Wenn es also mitunter den Anschein hat, als blickte ich auf die Philosophologen herab, so betrifft das nicht diese an sich, wohl aber die Mehrzahl der heute faktisch vorhandenen, weil sie nämlich schlechte Philosophologen sind, die ihre eigentliche Arbeit nicht machen und von dieser auch nichts verstehen. Die guten und die schlechten Philosophologen lassen sich nämlich schon an dem Einen Umstand meist klar unterscheiden: ob sie wissen, was sie sind, oder ob sie sich für Philosophen halten und als solche bezeichnen. Ich weiß dies aus eigener Erfahrung – unter meinen Dozenten war es der gelehrte Wilhelm Schmidt-Biggemann, der als einziger sich keinen Philosophen, sondern einen Philosophiehistoriker nannte und der als einziger ein tauglicher Philosophologe war –, es sollte dieses aber auch dem bloßen Nachdenken einsichtig sein: Wer von der Philosophie, die er doch liest und studiert, so wenig verstanden hat, dass er nicht einmal weiß, was sie ist und dass das, was er treibt, kein Teil von ihr ist, der hat von ihr schlechterdings gar nichts verstanden und kann eben darob kein guter Historiker derselben sein.

Aber freilich, einen reinen Philosophologen, der sich wirklich bescheidet, nur allein dieses zu sein, wird man selten, vielleicht nie antreffen. Und dies liegt in der Natur der Sache. Der Philosophologe ist ja kein reiner Archivar der Philosophie, sondern ihr Interpret. Nun möchte es angehen, dass ein Philologe, ohne selbst Romane oder Novellen oder Gedichte zu verfassen, solche deutet. Um aber einen philosophischen Text richtig zu interpretieren, muss man selbst im Besitze der rechten Philosophie sein, und die Interpretation selbst wird Philosophie sein. Es können daher in aller Strenge nur die Philosophen rechte Philosophologen sein (aber der Strenge nach kann überhaupt alle Wissenschaft nur von einem Philosophen, einem der Ideen Teilhaftigen, getrieben werden). Und wer Philosophologie treibt, ohne Philosoph zu sein, dessen Auslegung wird leicht zur Philodoxie geraten. Und dies ist denn, weshalb man mich oft Kritik an den Philosophologen üben hören wird: nicht an der Philosophologie selbst, aber an ihnen, insofern sie ihre Philosophologie nicht philosophisch, sondern philodoxisch treiben.

Positiv(ismus)

In der Alltagssprache ist positiv heute so viel wie das Gute, negativ das Schlechte. Richtiger wohl wäre es aber, diese beiden Ausdrücke mit „vorhanden“ und „nicht vorhanden“ zu übersetzen, sie ein bisschen zu verstehen wie das Türkische var und yok. Positiv leitet sich nämlich vom lateinischen ponere her, was setzen, stellen oder legen bedeutet, das Positive ist also eigentlich das Gesetzte oder Gegebene. Man denke an die Position, ein Wort, welches ja keine Wertung im Sinne von gut oder schlecht ausdrückt, sondern einen Standort bezeichnet, den Punkt also, an den jemand oder etwas gesetzt – d. i. positioniert – wurde.

Auf diese Weise, nicht im alltäglichen Sinne von gut, wird das Wort positiv in der Fachsprache nach wie vor vielfach gebraucht: So mag es alles andere als etwas Gutes bedeuten, HIV-positiv zu sein, es ist aber insofern positiv, als der Virus eben im Körper vorhanden ist. In ganz demselben Sinne kann ein Schwangerschaftstest positiv oder negativ ausfallen, unabhängig ob nun im fraglichen Falle das Vorhandensein oder gerade das Nichtvorhandensein einer Schwangerschaft für gut oder für schlecht genommen wird.

Und in diesem Sinne hat man denn diese beiden Begriffe auch in der Philosophie zu nehmen. Etwa bezeichnet Positivismus eine Haltung, die keineswegs sonderlich gut, die vielmehr in höchstem Grade unaufgeklärt und verächtlich ist, für die es nur das je Gegebene gibt und die dieses unhinterfragt hinnimmt: So lehnt ein theoretischer Positivismus jede Metaphysik ab und akzeptiert nur das in der Erfahrung Gegebene, ohne zu fragen, wer es denn gegeben haben soll oder wie die Erfahrung zustandekommt; der Rechtspositivismus erklärt das positive, d. i. das gerade gegebene Recht stets für das gültige und lehnt die Frage ab, ob dieses selbst Recht oder Unrecht ist; Machtpositivismus wäre es, sich immer der gerade herrschenden Macht zu unterwerfen und diese niemals auf ihre Legitimität hin zu prüfen; der moralische Positivist nimmt jene Moralvorstellungen hin, die er eben gerade vorfindet, sie mögen lauten, wie sie wollen; die positive Religion schließlich ist, unabhängig von der Frage, ob sie eine gute oder eine schlechte ist, jede, etwa durch eine Offenbarung, gegebene, und religiöser Positivismus wäre es, irgendwelche Dogmen oder heiligen Texte, wie sie eben sind, für wahr zu nehmen und nicht zu fragen, ob sie mit der Vernunftreligion in Einklang stehen.

Auch in anderen Zusammenhängen als in dem des Positivismus mögen die Begriffe positiv und negativ Anwendung finden. Beispielsweise wäre „Frieden ist die Abwesenheit von Krieg“ eine negative Definition von Frieden, womit nicht ausgedrückt werden soll, dass es sich um eine schlechte, sondern dass es sich um eine Definition handelt, die Frieden dadurch erklärt, was er nicht ist; positiv definieren könnte man ihn hingegen z. E. dadurch, dass man sagte: „Frieden ist der Zustand der gelebten Achtung.“ Auch wenn ich zwischen positiver und negativer Aufklärung unterscheide, ist dies zunächst keine Wertung: Ich nenne negative Aufklärung die, die darin besteht, sich von fremder Leitung freizumachen und die Fußschellen der Unmündigkeit abzuwerfen, positive hingegen die Selbstleitung, das Lernen selbstständigen Laufens.

Selbstbewusstsein

Schlimm steht es um das Sprachvermögen und das Denken der Menschen, denen man dieses Wort erklären muss, besagt es doch selbst, was es meint: Selbstbewusst ist, wer sich seiner selbst bewusst ist. Wen der gemeine Sprachgebrauch selbstbewusst nennt, der ist meist höchst selbstunbewusst, der geht mit blindem Eigendünkel durchs Leben, der handelt, ohne viel nachzudenken und der verschwendet auch keinen Gedanken daran, wer er selbst, welches sein Wert und sein Beruf ist und was er kann und was nicht. Offenbar macht man die Bedeutung des Wortes allein an seinem ersten Bestandteil fest, am Selbst; Bewusstsein scheint dem gemeinen Sprecher des Deutschen – und wie die Menschen das ihre zu gebrauchen oder vielmehr zu missbrauchen pflegen, spricht dafür – ein Bollwerk gegen die Außenwelt zu sein, dass Bewusstsein ein Reflektieren bedeutet, davon weiß man nichts, selbstbewusst soll gerade der von allem jenseits seines Selbst unberührbare sein. Wie nur kann man gerade die Blindheit mit dem Namen des Sehens belegen?

Höchst kurios fand ich schon immer, seit ich überhaupt darauf reflektierte, dass im Deutschen und im Englischen das Wort Selbstbewusstsein gleichermaßen, aber dabei auf ganz unterschiedliche, ja entgegengesetzte Weise falsch gebraucht wird. Was der gemeine Deutsche selbstbewusst nennt, würde der Sprecher des Englischen nicht so, sondern vielmehr als (self-)confident bezeichnen, was wörtlich eher an sich selbst glaubend, weniger wörtlich sich selbst vertrauend hieße. Self-conscious hingegen, was ganz wörtlich selbstbewusst bedeutet, ist gerade nicht der, den der Deutsche als selbstbewusst bezeichnen würde, sondern dessen Gegenteil: ein besonders Unsicherer, Befangener und Verschüchterter. (Dem Angelsachsen scheint Selbstbewusstsein also nur zu bedeuten, dass jemand sich seiner Mängel und seines Ungenügens, in anderen Worten: seiner Kleinheit und Beschränktheit bewusst ist. Dies ist von einem bestimmten Standpunkt aus durchaus treffend: Das empirische Ich ist klein und mangelhaft, es steht einer um ein Unendliches größeren und gewaltigeren Welt gegenüber und ist dieser hilflos ausgeliefert; Ursache zur confidence, also zum Selbstbewusstsein im Sinne des gemeinen Deutschen, hat es eigentlich nur, wenn es sich seiner gerade nicht bewusst wird, umso mehr sein Bewusstsein seiner selbst hingegen zunimmt, umso mehr muss es sich ängstlich zusammenkauern und jede Tat fürchten. Nun ist der Standpunkt, von dem aus dieses gilt, selbst ein sehr beschränkter – um davon zu schweigen, dass er zugleich ein widersprüchlicher ist, denn damit sich das Ich in seiner Kleinheit erkennen kann, muss es zugleich doch groß genug sein, die ganze Welt zu umfassen und sich mit ihr zu vergleichen. Aber es ist der Standpunkt des unaufgeklärten empirischen Menschen, der sich zu einem höheren Ich nie erhoben hat. Und über diesen Standpunkt ist das angelsächsische Denken nie hinausgekommen – man bedenke, dass man es hier mit einem Volk zu tun hat, das es nicht notwendig für etwas sehr Übles und Verwerfliches hält, thoughtless, d. i. gedankenlos zu sein, sondern das hierin einen im Grunde recht erstrebenswerten Zustand, nämlich Sorglosigkeit oder Unbekümmertheit sieht: dem Gedanken also Sorgen und Kümmernisse sind.)

Selbstbewusstsein ist ein philosophischer Fachbegriff; der gemeine Mensch, der nie danach gefragt hat, was eigentlich Bewusstsein ist, und der übrigens ein Selbstbewusstsein im echten Sinne auch nicht hat, sollte dieses Wort am besten gar nicht gebrauchen und hat auch im Alltag niemals Ursache, dies zu tun. Dafür aber, es falsch zu gebrauchen, wie dies gewöhnlich geschieht, gibt es keinerlei Entschuldigung, denn anders als im Fall manch anderen philosophischen Fachbegriffes ist dieser kein Fremdwort, auch kein seinen Ursprung nicht sogleich offenbarendes, sondern ein seine Bedeutung im Namen tragendes Wort: Wer es falsch gebraucht, erweist sich als Sprachpositivist [siehe unter Positiv(ismus)], der Wörter nicht nach ihrem Sinn befragt, sondern gerade so benutzt, wie sie ihm eben unterkommen, und er erweist sich damit als gedankenlos – versteht sich, im unzweideutigen deutschen Sinne.

Und sollte jemand fragen, welches Wort er denn stattdessen nehmen solle, um jene zu bezeichnen, die er bisher selbstbewusst genannt hat: Die deutsche Sprache gibt dir eine genügende Auswahl für alle denkbaren Situationen: selbstsicher etwa, dünkelhaft, anmaßend, selbstgewiss, selbstvertrauend… Ich selbst würde als neues und in vielen Fällen treffendes Wort vorschlagen: selbstblind.

Sittlichkeit

Sittlichkeit ist das deutsche Wort für Moral. Es handelt sich um eine wörtliche Entsprechung der geläufigeren lateinischen und griechischen Ausdrücke: Denn mos oder ethos (ἔθος) heißt nichts anderes als Sitte, Brauch oder Gewohnheit.

Unser herrliches deutsches Wort ist leider gänzlich in Vergessenheit geraten, man hört niemanden mehr von Sittlichkeit sprechen oder davon, was sittlich, was unsittlich ist. Bestenfalls kommt es einem noch unter, wenn etwas als sittenwidrig bezeichnet oder wenn von gesittetem Verhalten gesprochen wird. Aber auch diese abgeleiteten Wörter sind selten geworden und wirken altbacken; übrigens klingen sie nach verklemmten spitzlippigen Gouvernanten, für die Moralität sich auf die Vermeidung alles Sexuellen und die Einhaltung von Benimmregeln reduziert. – Zugleich hat man auch in neuerer Zeit versucht, den Wörtern Moral und Ethik eine unterschiedliche Bedeutung zu geben.

Moral ist dabei zu einem Schimpfwort verkommen, man versteht hierunter teils heuchlerische, teils fanatisch-ideologische, jedenfalls überhebliche Angriffe auf das höchste Gut des ausgeklärten Menschen: die Freiheit seines kleinen Selbst, möglichst unfrei zu sein und möglichst gedanken- und verantwortungslos zu leben, und man verwahrt sich gegen alle „Moralapostel“, „Gutmenschen“ und „Weltverbesserer“, die in den Augen derer, die durch den Gebrauch solcher Schimpfwörter offen bekennen, dass sie Apostel der Unmoral, Schlechtmenschen und Weltverschlechterer sind, aber sich denn doch jedes Mal moralisch empören, wenn man sie offen verachtet und böse nennt, nur einen unverschämten oder gar gefährlichen Tugendterror veranstalten. Und es ist keinesweges nur der rechte Mob, es ist auch der ausgeklärte Bildungsphilister, der heute beim Klang des Wortes Moral nicht an ein edles Herz, eine hohe Verantwortlichkeit und ein der Pflichterfüllung und dem Guten geweihtes Leben denkt, sondern vor allem an die Verdammung irgendeines vermeintlich Bösen durch selbstgerechte Jakobiner.

Es sind vor allem solche ausgeklärten Bildungsphilister, die, während sie von solch strengen Worten wie Moral und Pflicht nichts wissen wollen, doch zugleich auch nicht darauf verzichten wollen, für anständig und menschenfreundlich zu gelten, weshalb sie denn der Moral die Ethik als etwas weniger Gestrenges und Klares gegenüberstellen, etwas Wabernd-Wässriges, eine windelweiche humanistische Wohlmeinendheit für heroische Charaktere, die, weil sie ja schon gut sind, nicht erst gut handeln müssen und die es sich erlauben dürfen, beständig ein Auge und oft genug auch beide zuzudrücken: Die Unverbindlichkeit solch einer Ethik macht es möglich, ein guter Mensch zu sein, weil man höflich ist, vielleicht ein wenig Geld spendet und noch nie jemanden erschlagen hat, während man zugleich sein Kind mit Neins erzieht, eine zerstörerische Kreuzfahrt bucht und ein Smartphone aus China nutzt, ohne auch nur darüber nachzudenken. Diese neue Wortbedeutung ist der Grund, weshalb wir heute in Schulen einen Ethikunterricht haben: Ein so belang- wie harmloses Laberfach, aus dem die Schüler mit eben der Meinung und – wichtiger – Gesinnung herausgehen, die sie schon vorher hatten. Wollte die Regierung in irgendeinem Bundesland einen Moralunterricht einführen, wäre – obwohl doch das lateinische Wort die genaue Übersetzung des griechischen ist – das Geschrei groß, hier würden die Kinder indoktriniert werden und eine Ideologie aufgezwungen bekommen; aber einen Ethikunterricht lässt man sich gefallen, da kann man sich auf die Schulter klopfen dafür, dass man Kinder in der Schule nicht nur für die Arbeitswelt nützliche Fähigkeiten vermittle, sondern mit ihnen auch über Werte spreche, aber man weiß doch zugleich, dass die paar Diskussionen in der Klasse und die paar gebastelten Plakate zu Mobbing, Homoehe, Sterbehilfe und Glück an nichts rütteln und nicht verhindern werden, dass wir weiterhin unsere Lebensgrundlagen zerstören, den größeren Teil der Weltbevölkerung ausbeuten und unsere Freunde, Untergebenen und Kinder wie auch uns selbst Tag für Tag missachten können.

Sittlichkeit, Moralität, Ethik, sie meinen alle dasselbe, nämlich das Ziel aller Aufklärung, die Verwirklichung der Vernunft. Und die Bezeichnung ist durchaus treffend, denn es geht doch dabei gerade nicht darum, die richtige Meinung oder Ideologie zu vertreten, es geht auch nicht darum, bloß eine begrenzte Zahl klar vorgegebener Benimmregeln einzuhalten, gleichgültig wie man sich in allen von diesen Regeln nicht abgedeckten Fällen betragen mag – das wäre bloße Gesittetheit –, sondern es geht um einen bestimmten Charakter, um eine Denkungsart, eine Gesinnung, um eine Haltung des Herzens: kurzum, um ein Ethos, eine Moral, eine Sitte, die man annimmt und die einem Gewohnheit und zweite Natur wird.

Ich gebrauche die drei Wörter also stets synonym. Wenn ich aber insbesondere des ersteren mich vorzüglich bediene, so hat dies zwei Gründe: Einmal ist es immer ratsam, sich der Fremdwörter sparsam und mit Vorsicht zu bedienen, und gemeiniglich ist ein Wort der eigenen Sprache vorzuziehen, so ein treffendes vorhanden ist. Fremde Wörter, sie mögen noch so viele Jahrhunderte verwendet werden und noch so sehr in den gemeinen Wortschatz einer Sprachgemeinschaft eingehen, bleiben doch für den gemeinen Sprecher an sich bedeutungslose Laute und machen den gedankenlosen Ge- und Missbrauch leicht – man ist so viel eher geneigt, irgendeinen Hochschuldozenten einen Philosophen zu nennen, als man sich andererseits getrauen würde, ihn einen Freund der Weisheit zu heißen –, und wir dürfen dankbar sein dafür und sollten zu erhalten streben, dass unsere Muttersprache nicht wie beispielsweise die Englische zur Hälfte aus uns ganz bedeutungslosen Ausdrücken besteht. Zum anderen aber ist Sittlichkeit, wenngleich eigentlich ein altes Wort, heute beinahe ein ganz neues: Die meisten Menschen haben es noch nie vernommen, es ist frei von all den Konnotationen, dem Ballast und den Umdeutungen, mit denen seine lateinische und griechische Übersetzung bei uns verdorben wurden, und wenngleich freilich nichts verhindert, dass, sollte sein Gebrauch wieder in Mode kommen, man mit ihm nach kurzem ähnliches Schindluder treiben würde, so ist es doch wenigstens für den Moment vielleicht besser geeignet als die beiden anderen Bezeichnungen, um von einer Sache zu sprechen, von der heute nicht dringend und laut genug gesprochen werden kann.

Sorgen

Fragt man die meisten Menschen, so werden sie wohl aussagen, sie wollten gerne ein möglichst sorgloses Leben führen. Das gereicht ihnen wenig zur Ehre, wenn man nur den wahren Sinn des Wortes Sorge bedenkt; ja der Wunsch offenbart sich dann als der ewige Wunsch der Feigen und Schwachen, nur ja keine Verantwortung tragen zu wollen.

Sorgen, das heißt nämlich sich kümmern, sich annehmen. Diesen Sinn und keinen anderen hat es in solchen Wörtern wie versorgen, umsorgen, besorgen, vorsorgen, die alle kein großes Bangen und Zittern ausdrücken, sondern eben, dass man sich um eine Sache bemüht oder etwas herbeischafft, das benötigt wird. Aber auch sorgen selbst und ohne jede Vorsilbe wird in diesem Sinne verwendet, wenn es nur gemeinsam mit der Präposition für gebraucht wird: für jemanden sorgen, das ist, was dem Angelsachsen to care for somebody heißt. Doch sobald wir statt des für ein um verwenden (seltsam, da doch die Zusammensetzung mit dieser Silbe, das Umsorgen, einen ganz anderen Sinn hat) und das Wort reflexiv gebrauchen, sobald wir sprechen, wir sorgten uns um jemanden, nimmt es eine andere Bedeutung, nämlich die des Englischen to worry for somebody an.

Hier liegt eine Doppeldeutigkeit, die das Englische nicht kennt und die manchmal, wie jede Doppeldeutigkeit, ein Reichtum sein mag, aber auch, wiederum wie jede Doppeldeutigkeit, zur Verarmung führen kann, wenn sie nämlich zur Eindeutigkeit wird und der eine Doppelsinn den andren gänzlich zu überdecken und verdrängen droht. Obwohl das deutsche Sorgen mindestens so sehr dem to care wie dem to worry entspricht, denken die meisten, wenn sie das Wort für sich genommen hören, doch zuerst an das letztere: Sorgen sind etwas anstrengendes, belastendes, einem das Leben verleidendes und es wäre einem lieber, man machte sie sich nicht. So denkt, wie gesagt, der Sklave und Mutlose, dem jede Verantwortung eine Überlastung ist: Einem solchen wird aus der Sorge um hierher fliehende Menschen oder aus der Sorge um das Klima dieses Planeten sogleich die Angst, es könnte ihm jemand etwas wegnehmen, was er dann ausdrücken mag: er sorge sich um seinen Wohlstand, seine Freiheit und Sicherheit usw. Der Mutige, Kräftige, Verantwortliche, der Über- und sittliche Mensch will nicht bloß müßig herumsitzen, er will Sorgen haben, will für sich und andere und seine Um- und Mitwelt die Verantwortung tragen, ein solcher wird es also verschmähen, dem Worte eine schlimme Bedeutung zu geben.

Rede ich von Sorge, soll es daher nur in jenem Sinne eines Kümmerns verstanden sein. Andersherum verbitte ich mir in den meisten Fällen, da man es tut, das Wort zu gebrauchen. Denn wenn die Menschen es gewöhnlich gebrauchen, so umschreiben sie damit ein hilfloses Gefühl, welches daher kommt, dass sie sich gerade nicht genug sorgen: So ist der Mensch dann in Angst um die Zukunft, wenn er diese als ein hereinbrechendes Schicksal erwarten muss, dem er ausgeliefert sein wird, er darf also nicht behaupten, um sie besorgt zu sein, denn wenn er für eine gute Zukunft sorgte, hätte er keinen Anlass zur Angst. So verbat ich mir einst die angeblichen Sorgen meines Onkels – der wähnte, ich wäre unselbstständig, von meinem Papchen abhängig und sozial isoliert, ohne mich zu treffen oder mehr als einmal im Jahr für einige Minuten mit mir zu sprechen, ohne über mein Leben irgendetwas zu wissen oder zu erfragen und vor allem ohne ein ernsthaftes Interesse, dieses tätig zu bereichern – als eine Übergriffigkeit; wenn er gerne Angst empfinde und sich eine schlimme Zukunft ausdenke, sei das seine Sache, ich aber wenigstens wolle nicht der Gegenstand dieser Selbstquälerei sein, echte Sorge empfinde für mich mein Papchen – und eben darum, weil es mich so liebevoll umsorgte und auch echte Nähe zu mir geschaffen hatte, keine Angst um mich.

Wie aber soll man dieses Gefühl der in schwere Falten gelegten Stirn und des Lippenbeißens und Händeringens heißen, das ja doch ein wirkliches und leider in dieser unaufgeklärten Welt nur allzu häufiges Gefühl ist und daher einen Namen braucht?, so mag jemand fragen, der nun eingesehen hat, dass es jedenfalls nicht Sorge heißen darf. Ich antworte: Es ist die Bangigkeit: Schon jetzt kann man statt des nur keine Sorge zur Beschwichtigung eines Menschen nur keine Bange, statt sich um jemanden sorgen, um jemanden bangen sagen und meint beide Male ganz dasselbe. In anderen Fällen wird es zunächst seltsam klingen, statt vom Sorgen vom Bangen zu sprechen: bebangt, anstatt besorgt, bangevoll, statt sorgenvoll, voll der Bange (oder, so man lieber will: Bangigkeit) sein, anstelle von voll der Sorgen sein, das mag zunächst ungewohnt sein, aber es ist auch nicht mehr als dieses, und wenn wir nur recht viel und konsequent so sprächen, so würde es wohl bald zur Gewohnheit werden. Mir will das Bangen der vortrefflichste Ersatz des Sorgens im Sinne des Englischen to worry sein, nicht nur, weil es, wie bemerkt, schon jetzt mitunter an seine Stelle treten kann, sondern auch, weil es nach seinem eigentlichen Wortsinne viel besser ausdrückt, was in Wahrheit gemeint ist oder jedenfalls sein sollte: Bang, das ist nämlich der Wortherkunft nach mit Angst verwandt, und beides entspringt derselben Wurzel wie eng: Die enge, zusammengezogene, beklommene Brust aber ist es, die wir in diesem Zustande empfinden, da wir uns selbst beengen und das Leben schwer machen, hingegen wird, wer sich wirklich und im fruchtbaren Sinne sorgt und also aus sich heraus und an ein anderes herantritt, von der eigenen Kraft und Liebe diesem labend zuströmen und abgeben lässt, sich öffnen und die Weite seiner Brust und seines Herzens empfinden.