Was geschehen ist, ist Sache des Wissens, nicht des Urtheilens. Zwar bedürfen wir, um auch diese bloss historische Wahrheit aufzufinden und zu unterscheiden, gar sehr der Urtheilskraft; – bedürfen ihrer, theils um die physische Möglichkeit oder Unmöglichkeit der vorgeblichen Thatsache selbst, theils um den Willen oder das Vermögen der Zeugen, sie zu sagen, zu beurtheilen: wenn aber diese Wahrheit einmal ausgemittelt ist, so hat für jeden, der sich von ihr überzeugte, die Urtheilskraft ihr Geschäft vollendet, und überträgt den nun geläuterten und zugesicherten reinen Besitz dem Gedächtnisse.

Ganz etwas anderes aber, als diese Beurtheilung der Glaubwürdigkeit einer Thatsache, ist die Beurtheilung der Thatsache selbst, – die Reflexion über sie. In einer Beurtheilung von der letzteren Art wird die gegebene und schon aus anderen Gründen für wahr anerkannte Thatsache mit einem Gesetze verglichen; um entweder die erstere durch ihre Uebereinstimmung mit dem letzteren, oder das letztere durch seine Uebereinstimmung mit der ersteren zu rechtfertigen. Im ersten Falle muss das Gesetz, nach welchem die Thatsache geprüft wird, schon vor der Thatsache vorausgegangen und als schlechthin gültig – als ein solches anerkannt seyn, nach welchem die letztere sich richten müsse, da es nicht seine Gültigkeit von der Begebenheit, sondern die Begebenheit die ihrige von ihm erwartet. Im letzten Falle soll das Gesetz entweder selbst, oder die grössere oder geringere Gemeingültigkeit desselben durch die Vergleichung mit der Thatsache gefunden werden.

Nichts verwirrt unsere Urtheile mehr, und nichts macht uns für uns selbst und für andere unverständlicher, als wenn wir diesen wichtigen Unterschied übersehen; wenn wir urtheilen wollen, ohne eigentlich zu wissen, aus welchem Gesichtspuncte wir urtheilen; wenn wir bei gewissen Thatsachen uns auf Gesetze, auf allgemeingültige Wahrheiten berufen, ohne zu wissen, ob wir die Thatsache nach dem Gesetze, oder das Gesetz nach der Thatsache; ob wir den Winkelhaken, oder den Perpendikel prüfen.

Dies ist die reichhaltigste Quelle jener schaalen Vernünfteleien, in die sich nicht nur unsere galanten Herren und Damen, sondern auch unsere gepriesensten Schriftsteller täglich verwirren, wenn sie von dem grossen Schauspiele urtheilen, das uns Frankreich in unseren Tagen gab.

 

Johann Gottlieb Fichte: Beiträge zur Berichtigung der Urtheile des Publicums über die französische Revolution. Erster Teil. Erstes Heft. Einleitung.