(Es ist sonach, in dem Sinne, wie man das Wort oft genommen hat, gar kein Naturrecht, d. h. es ist kein rechtliches Verhältniss zwischen Menschen möglich, ausser in einem gemeinen Wesen und unter positiven Gesetzen. – Entweder, es findet durchgängige Moralität und ein allgemeiner Glaube an sie statt und es tritt überdies, was auch bei dem besten Willen aller oft nicht geschehen könnte, der grösste Zufall aller Zufälle ein, dass alle Menschen in ihren Ansprüchen sich vereinigen: so hat das Rechtsgesetz gar keine Wirkung, es kömmt nicht zum Sprechen, denn was nach demselben geschehen sollte, geschieht ohne dfasselbe, und was es verbietet, wird nie gewollt. – Für eine Gattung vollendeter moralischer Wesen giebt es kein Rechtsgesetz. Dass der Mensch diese Gattung nicht seyn könne, ist schon daraus klar, weil er zur Moralität erzogen werden, und sich selbst erziehen muss; weil er nicht von Natur moralisch ist, sondern erst durch eigene Arbeit sich dazu machen soll.

Oder – der zweite Fall – es findet nicht durchgängige Moralität oder wenigstens kein allgemeiner Glaube an sie statt, so tritt das äussere Rechtsgesetz allerdings ein; aber es kann keine Anwendung erhalten, ausser in einem gemeinen Wesen. Hierdurch fällt das Naturrecht weg.

Was wir aber an der einen Seite verlieren, erhalten wir an der anderen mit Gewinn wieder; denn der Staat selbst wird der Naturstand des Menschen, und seine Gesetze sollen nichts anderes seyn, als das realisirte Naturrecht.)

 

Johann Gottlieb Fichte: Grundlage des Naturrechts nahc Prinzipien der Wissenschaftslehre. Drittes Hauptstück. Zweites Kapitel der Rechtslehre. § 15.