Beim Worte billig dürften die Menschen heute zuerst daran denken, dass eine Sache einen geringen Preis habe – in zweiter Hinsicht, dass sie von minderer Qualität sei: so mag man ein Argument als ein „billiges“ abschmettern und will damit ausdrücken, es sei nicht sehr gut. Die zweite Bedeutung des Wortes ist offensichtlich aus der ersten abgeleitet: Die Sache, so unterstellen wir, ist um einen geringen Preis feil, weil sie auch tatsächlich nicht sehr viel wert, weil sie eben Ramsch ist. Diese erste Bedeutung selber, die die meisten für die eigentliche halten dürften, ist aber selbst nur eine abgeleitete und eigentlich grundfalsch. Und der falsche heutige Gebrauch des Wortes deutet auf unser schlechtes Verhältnis zur Sache, die es eigentlich bezeichnen sollte.

Der richtige Sinn dieses schönen alten Wortes kommt noch am ehesten in zwei selbst bereits veralteten und nur noch selten zu hörenden Ausdrücken vor: etwas sei „recht und billig“ und man „billige etwas“. Was man billigt, das lässt man zu, ja heißt es gar gut, was man missbilligt, das verbietet man vielleicht nicht geradeheraus, man rümpft aber zum wenigsten darüber die Nase. In diesem Verstande scheint Billigkeit am ehesten eine deutsche Entsprechung zur lateinischen Toleranz, doch sind die Begriffe höchstens verwandt, nicht deckungsgleich, da doch tolerare ein bloßes Dulden, vielleicht nur passives und dennoch innerlich missbilligendes Dulden meint, während das Billigen noch weiter geht und eine gewisse Bejahung des Gebilligten ausdrückt. Ähnlichkeit zur Toleranz aber besteht jedenfalls darin, dass beides nicht zwischen Gleichen geübt wird und nicht schlechthinnige Pflicht ist, sondern dass beides eine Herrschertugend gegen den weniger Mächtigen und zu einem gewissen Grade Ausgelieferten ist: billigen wie tolerieren kann nur, wer es nicht muss, wer jederzeit auch „nein“ sagen könnte, aber sich in seiner Souveränität fürs „Ja“ oder „Es sei“ entscheidet. Dies weist uns auf die eigentliche Rolle der Billigkeit: sie ist, wie die schon angeführte Wendung es ahnen lässt, die das Billige neben das Rechte stellt, der Gerechtigkeit verwandt, aber eben mit ihr doch nicht eins (eine Sache könnte auch recht sein, ohne zugleich billig zu sein). In der Tugendlehre des Aristoteles ist sie (ἐπιείκεια – epieikeia) eine wichtige Ergänzung der letzteren: Wenn Gerechtigkeit bedeutet, jedem das Seine zu geben, dem Verdienstvollen seinen Verdienst, dem Verbrecher seine Strafe und einem jeden Stellung, Ehren und Eigentum, wie sie ihm gebühren, so ist die Billigkeit: – die Einsicht darein, wann man einmal von der allgemeinen Regel der Gerechtigkeit abweichen muss, ohne doch deshalb Unrecht zu tun, ja vielmehr Unrecht täte, wenn man kalt und grausam die Gerechtigkeit vollstreckte (die ja immer Krieg ist – und gewiss wird es niemals Weltfrieden geben, solange wir darauf pochen, dass jedes vergangene Unrecht geahndet und begradigt, jedes einmal eroberte Gebiet und jeder gestohlene Besitz zurückgegeben wird, sondern erst dann, wenn wir Billigkeit walten lassen und über manche Kränkung hinwegsehen). Der billige Herrscher mag einmal Milde und Gnade walten lassen, wo jemand dem Buchstaben des Gesetzes zuwider gehandelt hat, aber doch keine Strafe verdient, er mag aber ebenso einmal mit Härte reagieren, wo nach der streng wörtlichen Auslegung des Gesetzes kein Übertreten desselben stattgefunden hat, aber doch ein Unrecht zu ahnden ist.

Billigkeit war eine der antiken Welt wichtige Tugend. Wie die Philosophie, wie Aristoteles sie kannte, kannte sie auch stets die Religion: Billig ist es, wenn die Bibel betont: „Den reinen ists alles rein“¹, und wenn Jesus erinnert, dass der Sabbat für den Menschen, nicht der Mensch für den Sabbat geschaffen ist, billig ist es, wenn der Koran nicht nur konkrete Einschränkungen seiner Gebote gibt und etwa die Schwachen und Gebrechlichen vom Fasten ausnimmt, sondern wenn er auch ganz allgemein verkündet: „Für die, die glauben und verrichten gute Werke, ist keine Sünde in dem, was sie essen, wenn sie gottesfürchtig sind und glauben und verrichten gute Werke, dann gottesürchtig sind und glauben, dann gottesfürchtig sind und Gutes tun. Und Gott liebt die Schönhandelnden.“² – und die Assassinen zogen aus derlei Passagen späterhin den Satz der radikalen Billigkeit, den Nietzsche zum Motto des Übermenschen erhob: Nichts ist wahr, alles ist erlaubt. Mit einigem Fug darf man die Billigkeit als zentrale Tugend des Aufgeklärten hochhalten: Denn sie verlangt, im Gegensatze zur Gerechtigkeit, die jede Maschine üben kann, der man die entsprechenden Rechtsmaximen einspeichert, ein Hinschauen und ein eigenes Urteil in jedem Einzelfalle. Es verwundert eben deshalb nicht, wenn eine so unaufgeklärte Zeit wie die unsere die Billigkeit nicht kennt und den Begriff ertötet hat, indem sie seinen Namen fehldeutete und zu einer Banalität herabwürdigte (wie dieses kam, sollte indes leicht ersichtlich sein: man fand es eben billig von einem Verkäufer, seine Ware zu einem niedrigen Preise anzubieten und vielleicht für weniger herzugeben, als er gerechterweise dafür hätte verlangen mögen; man ersieht aber eben hieran auch, wie falsch wir selbst noch den abgeleiteten Sinn des Wortes gebrauchen, denn wir nennen schlechthin alles billig, was uns zu einem niedrigen Preise angeboten wird, und fragen nicht, ob dieser denn wirklich billig ist – oder nicht vielmehr gerade angemessen, weil die Ware eben wirklich geringen Wertes ist, oder selbst unbillig und überteuert, weil die Ware gerechterweise noch weniger kosten müsste). Die Unaufgeklärten wollen nicht die Verantwortung für eigene Urteile und Entscheidungen tragen, sie sind zu faul und zu feig dafür, sie wollen, dass man ihnen eine allgemeine Formel gebe, die sie in ausnahmslos jedem Falle ohne alles Bedenken anwenden können, ohne fragen zu müssen, ob sie hier passe. Sie wollen von einem Kult gesagt bekommen, dass sie nur auf diese Speise verzichten, dies Gebet verrichten müssen und dann sicher in den Himmel kommen. Sie wollen von einem Arzt gesagt bekommen, dass sie nur gerade so viel Sport machen, so viel Kohlenhydrate zu sich nehmen müssen, um gesund zu sein. Oder sie wollen hören, welche bösen Wörter sie zu vermeiden haben oder aber nach welchem allgemeinen Muster sie jemanden verführen können. Es ist auch schwer, den Leuten ihre allgemeinen Regeln auszureden, weil sie immer, wenn man gegen eine Regel spricht, glauben, man wolle das Gegenteil zur Regel erheben, obwohl man vielleicht gerade gegen das gedankenlose Regelbefolgen selbst spricht. So mag dann ein Unternehmen in den USA, aus Angst vor #metoo, seinen Mitarbeitern verbieten, ihre Kollegen auch nur anzutippen, weil ja schon dieses sexuelle Belästigung sein könnte. Die Wahrheit ist, dass es das nicht immer, ja wahrscheinlich nicht einmal oft ist, aber dass es das sein kann – und dass man eigentlich das Antippen weder jederzeit als übergriffig ablehnen noch jederzeit als harmlos geschehen lassen kann, sondern von Fall zu Fall hinschauen müsste, welcher Art es denn hier war, was aber lebensuntüchtige Feministen wie am Guten nicht, sondern nur an persönlicher Schadensbegrenzung interessierte Firmen überfordern würde. Es sei zuletzt betont, dass gerade Verwaltung, dieser Hort der Unmündigkeit, keine Billigkeit kennt, und was nicht mit Formblatt A38 abgefragt werden kann, unbeachtet bleibt – so wie man meine Beschwerde gegen eine Schulleiterin, die mich auf das Betreiben der Bürgermeisterin Giffey hin als AG-Leiter fristlos entließ, abwies, weil sie formal gegen kein Recht verstoßen hatte und für mich als über einen externen Träger Angestellten an der Schule dem Gesetze nach kein Kündigungsschutz bestand. Man ist heute geradezu stolz, seit dem Einsetzen der Ausklärung die Billigkeit im Staate eliminiert zu haben, sodass heute beispielsweise niemand mehr wie einst Fichte oder Nietzsche als Jüngling und ohne vorhergehende Promotion Professor werden könnte. Man denkt heute bei Billigkeit nur an Willkür und die Gefahr von Korruption, Vetternwirtschaft und Klüngelei. Und es ist wahr, dass diese Gefahr besteht, wo man einem Einzelnen verstattet, sich nach eigenem Gutdünken über den Buchstaben einer Regel hinwegzusetzen. Billigkeit kann eben nur von wahrhaft Aufgeklärten geübt werden und wäre bei allen andren nur die Rechtfertigung ihrer Ungerechtigkeit und Tyrannei. Aber das sollte gerade Grund mehr sein, wieder an diese Tugend zu erinnern und sie zu lehren, anstatt ihre Existenz durch den falschen Gebrauch ihres Namens vergessen machen zu lassen.

Und wenn zuletzt jemand klagen wollte, es fehlte doch aber an einem Worte für jene andere Sache, den niedrigen Preis, wenn wir uns den falschen Wortgebrauch verbieten wollten: So irrte er! Was man heute billig heißt, das könnte man auch ebenso gut günstig nennen – womit wir ausdrücken, dass der Preis uns gelegen kommt, d. i. eine Gunst erweist; oder auch preiswert – was aber streng genommen ein ebenfalls falsch gebrauchtes Wort ist, da es ja nur besagt, eine Sache sei ihren Preis wert, nicht, dieser Preis sei niedrig: es könnte nämlich eine Sache sehr teuer, aber eben diesen teuren Preis auch wert sein. Und mag man sich dieser Wörter nicht bedienen, so gibt es ja zum dritten noch das schöne alte wohlfeil, das es verdient, wiederbelebt zu werden, und das gegenüber günstig und preiswert den Vorteil hat, dass es sich auch im anfangs besprochenen abgeleiteten Sinne auf die mindere Güte einer Sache beziehen lässt: sodass man denn ein schlechtes Argument statt ein billiges ein wohlfeiles schimpfen kann.

1 Tit 1,15

2 Koran: 5:93