Sittlichkeit ist das deutsche Wort für Moral. Es handelt sich um eine wörtliche Entsprechung der geläufigeren lateinischen und griechischen Ausdrücke: Denn mos oder ethos (ἔθος) heißt nichts anderes als Sitte, Brauch oder Gewohnheit.

Unser herrliches deutsches Wort ist leider gänzlich in Vergessenheit geraten, man hört niemanden mehr von Sittlichkeit sprechen oder davon, was sittlich, was unsittlich ist. Bestenfalls kommt es einem noch unter, wenn etwas als sittenwidrig bezeichnet oder wenn von gesittetem Verhalten gesprochen wird. Aber auch diese abgeleiteten Wörter sind selten geworden und wirken altbacken; übrigens klingen sie nach verklemmten spitzlippigen Gouvernanten, für die Moralität sich auf die Vermeidung alles Sexuellen und die Einhaltung von Benimmregeln reduziert. – Zugleich hat man auch in neuerer Zeit versucht, den Wörtern Moral und Ethik eine unterschiedliche Bedeutung zu geben.

Moral ist dabei zu einem Schimpfwort verkommen, man versteht hierunter teils heuchlerische, teils fanatisch-ideologische, jedenfalls überhebliche Angriffe auf das höchste Gut des ausgeklärten Menschen: die Freiheit seines kleinen Selbst, möglichst unfrei zu sein und möglichst gedanken- und verantwortungslos zu leben, und man verwahrt sich gegen alle „Moralapostel“, „Gutmenschen“ und „Weltverbesserer“, die in den Augen derer, die durch den Gebrauch solcher Schimpfwörter offen bekennen, dass sie Apostel der Unmoral, Schlechtmenschen und Weltverschlechterer sind, aber sich denn doch jedes Mal moralisch empören, wenn man sie offen verachtet und böse nennt, nur einen unverschämten oder gar gefährlichen Tugendterror veranstalten. Und es ist keinesweges nur der rechte Mob, es ist auch der ausgeklärte Bildungsphilister, der heute beim Klang des Wortes Moral nicht an ein edles Herz, eine hohe Verantwortlichkeit und ein der Pflichterfüllung und dem Guten geweihtes Leben denkt, sondern vor allem an die Verdammung irgendeines vermeintlich Bösen durch selbstgerechte Jakobiner.

Es sind vor allem solche ausgeklärten Bildungsphilister, die, während sie von solch strengen Worten wie Moral und Pflicht nichts wissen wollen, doch zugleich auch nicht darauf verzichten wollen, für anständig und menschenfreundlich zu gelten, weshalb sie denn der Moral die Ethik als etwas weniger Gestrenges und Klares gegenüberstellen, etwas Wabernd-Wässriges, eine windelweiche humanistische Wohlmeinendheit für heroische Charaktere, die, weil sie ja schon gut sind, nicht erst gut handeln müssen und die es sich erlauben dürfen, beständig ein Auge und oft genug auch beide zuzudrücken: Die Unverbindlichkeit solch einer Ethik macht es möglich, ein guter Mensch zu sein, weil man höflich ist, vielleicht ein wenig Geld spendet und noch nie jemanden erschlagen hat, während man zugleich sein Kind mit Neins erzieht, eine zerstörerische Kreuzfahrt bucht und ein Smartphone aus China nutzt, ohne auch nur darüber nachzudenken. Diese neue Wortbedeutung ist der Grund, weshalb wir heute in Schulen einen Ethikunterricht haben: Ein so belang- wie harmloses Laberfach, aus dem die Schüler mit eben der Meinung und – wichtiger – Gesinnung herausgehen, die sie schon vorher hatten. Wollte die Regierung in irgendeinem Bundesland einen Moralunterricht einführen, wäre – obwohl doch das lateinische Wort die genaue Übersetzung des griechischen ist – das Geschrei groß, hier würden die Kinder indoktriniert werden und eine Ideologie aufgezwungen bekommen; aber einen Ethikunterricht lässt man sich gefallen, da kann man sich auf die Schulter klopfen dafür, dass man Kinder in der Schule nicht nur für die Arbeitswelt nützliche Fähigkeiten vermittle, sondern mit ihnen auch über Werte spreche, aber man weiß doch zugleich, dass die paar Diskussionen in der Klasse und die paar gebastelten Plakate zu Mobbing, Homoehe, Sterbehilfe und Glück an nichts rütteln und nicht verhindern werden, dass wir weiterhin unsere Lebensgrundlagen zerstören, den größeren Teil der Weltbevölkerung ausbeuten und unsere Freunde, Untergebenen und Kinder wie auch uns selbst Tag für Tag missachten können.

Sittlichkeit, Moralität, Ethik, sie meinen alle dasselbe, nämlich das Ziel aller Aufklärung, die Verwirklichung der Vernunft. Und die Bezeichnung ist durchaus treffend, denn es geht doch dabei gerade nicht darum, die richtige Meinung oder Ideologie zu vertreten, es geht auch nicht darum, bloß eine begrenzte Zahl klar vorgegebener Benimmregeln einzuhalten, gleichgültig wie man sich in allen von diesen Regeln nicht abgedeckten Fällen betragen mag – das wäre bloße Gesittetheit –, sondern es geht um einen bestimmten Charakter, um eine Denkungsart, eine Gesinnung, um eine Haltung des Herzens: kurzum, um ein Ethos, eine Moral, eine Sitte, die man annimmt und die einem Gewohnheit und zweite Natur wird.

Ich gebrauche die drei Wörter also stets synonym. Wenn ich aber insbesondere des ersteren mich vorzüglich bediene, so hat dies zwei Gründe: Einmal ist es immer ratsam, sich der Fremdwörter sparsam und mit Vorsicht zu bedienen, und gemeiniglich ist ein Wort der eigenen Sprache vorzuziehen, so ein treffendes vorhanden ist. Fremde Wörter, sie mögen noch so viele Jahrhunderte verwendet werden und noch so sehr in den gemeinen Wortschatz einer Sprachgemeinschaft eingehen, bleiben doch für den gemeinen Sprecher an sich bedeutungslose Laute und machen den gedankenlosen Ge- und Missbrauch leicht – man ist so viel eher geneigt, irgendeinen Hochschuldozenten einen Philosophen zu nennen, als man sich andererseits getrauen würde, ihn einen Freund der Weisheit zu heißen –, und wir dürfen dankbar sein dafür und sollten zu erhalten streben, dass unsere Muttersprache nicht wie beispielsweise die Englische zur Hälfte aus uns ganz bedeutungslosen Ausdrücken besteht. Zum anderen aber ist Sittlichkeit, wenngleich eigentlich ein altes Wort, heute beinahe ein ganz neues: Die meisten Menschen haben es noch nie vernommen, es ist frei von all den Konnotationen, dem Ballast und den Umdeutungen, mit denen seine lateinische und griechische Übersetzung bei uns verdorben wurden, und wenngleich freilich nichts verhindert, dass, sollte sein Gebrauch wieder in Mode kommen, man mit ihm nach kurzem ähnliches Schindluder treiben würde, so ist es doch wenigstens für den Moment vielleicht besser geeignet als die beiden anderen Bezeichnungen, um von einer Sache zu sprechen, von der heute nicht dringend und laut genug gesprochen werden kann.