Es ist eine Unsitte, ja ein Verbrechen, dass heute jeder drittklassige Professor der Philosophologie im Feuilleton, in Talkshows, in Podcasts, auf Buchrücken ein Philosoph heißen darf. Es ist zum mindesten ein Beweis für die gänzliche Unkenntnis dessen, was Philosophie auch nur ist (um vom Inhalte derselben ganz zu schweigen); ja mehr, es ist ein Beweis, dass man keinen Augenblick auch nur nachdenkt, was Philosophie und was wiederum solch ein Professor ist: Denn es bräuchte keineswegs die mindeste Kenntnis der Philosophie, um zu bemerken, dass ein solcher eben kein Philosoph ist, es müsste dieses auch dem gänzlich Fachfremden aufgehen, wenn er nur einmal mündig seinen Verstand gebrauchte, statt gedankenlos nachzuplappern, was er so aufschnappt. – Auch der Unkundige begreift ja leicht, dass es einen Unterschied gibt zwischen dem Dichter und dem Literaturwissenschaftler oder -historiker, zwischen dem Musiker oder Komponisten und dem Musikwissenschaftler oder -historiker, zwischen dem Maler oder Bildhauer und dem Kunstwissenschaftler oder -historiker, zwischen dem Propheten oder Heiligen oder Mystiker und dem Religionswissenschaftler; es bedarf keineswegs der inhaltlichen Kenntnis der Dichtung, der Musik, der Malerei, der Religion, um unmittelbar einzusehen, dass es ein Anderes ist: eine Sache tätig schaffen und in die Welt bringen und sie, nachdem ein andrer sie hervorgebracht, auffassen, untersuchen, einordnen, auf ihre Entstehungsgeschichte und ihre Abhängigkeiten und Folgen hin befragen, deuten. Dass man allein im Falle der Philosophie und Philosophologie, obwohl man doch auch gegen die anderen genannten Gebiete reichlich ignorant ist, diesen Unterschied verkennt, das spricht dafür, dass hier mehr als bloße harmlose Ignoranz wirkt, ein Verdacht, der sich umso mehr erhärtet, bedenkt man, dass selbst eine Vielzahl von Philosophologen nicht wissen, dass sie solche sind, und sich ganz gedankenlos als Philosophen bezeichnen, obwohl doch gerade sie es besser wissen und den unendlichen Abstand zwischen ihrer eigenen Beschränktheit und Mittelmäßigkeit und der Riesenhaftigkeit unsrer großen Geister deutlich spüren müssten. Es zeigt sich hier, dass die genannte Verwechslung Teil einer (freilich durchaus ganz unbewussten und ganz dezentralen, nicht von irgendeiner bösen Kamarilla gesteuerten) Verschwörung ist: eines Versuches, die Philosophie zu banalisieren und zu solch einer seichten, schwammigen, unklaren und belanglosen Sache zu machen in den Augen der meisten, dass diese Meisten sich mit ihr niemals befassen und ihre Schätze nie entdecken werden.

Ich grenze also vom Philosophen ab denjenigen, der sich mit den Philosophen und ihren Worten auseinandersetzt, sie erforscht und interpretiert. Den letzteren könnte man den Philosophiehistoriker oder -kundler nennen: – einmal insofern er alle Philosophie nicht genetisch aus sich selbst hervorgehen lässt, sondern als ein schon vorhandenes historisches Datum auffasst, mit dem er sich nun auseinandersetzt, zum anderen insbesondere, insofern oftmals gerade die Geschichte der Philosophie und der philosophischen Systeme, Versuche und Kritiken sein Forschungsgegenstand ist. Die Interpretation derselben will aber über reine Historie hinausgehen. Man könnte diesen Forscher daher auch analog zu den anderen genannten, etwa zum Literaturwissenschaftler, einen Philosophiewissenschaftler nennen, allerdings ist dies ein höchst zweideutiger und unbestimmter Gebrauch des Wortes Wissenschaft und man dürfte diese Bezeichnung höchstens so verstehen, dass sie jemanden meint, der Wissenschaft, d. i. Wissen und Kenntnis, von der Philosophie hat, nicht jemanden, der eigentlich wissenschaftlich, d. i. genetisch anstatt historisch, erkennt: insofern nämlich keine genetische Erkenntnis des zufälligerweise schon von Menschen Gedachten stattfinden kann, eine genetische Erkenntnis des notwendig zu Denkenden oder überhaupt Denkbaren aber bereits Philosophie selbst wäre. Ich wähle daher meist die, gewiss ebenfalls unvollkommene, Bezeichnung Philosophologe, wobei ich hier unter -logie wie in anderen ähnlichen Wortzusammensetzungen die Lehre von (d. i. hier die Lehre von der Philosophie) begreife, nicht die Wissenschaft von. Philosophologie wäre das Fach des Philosophologen – und dieses Fach allein wird an den Universitäten gelehrt, es ist also falsch, wenn jemand behauptet, er habe Philosophie studiert, in Philosophie promoviert, einen philosophischen Lehrstuhl, etc., indem ja nirgends an den Universitäten Philosophieunterricht stattfindet oder Menschen zu Philosophen gemacht werden (ja man machte sich selbst das Leben an der Universität gehörig schwer, versuchte man etwa in einer Hausarbeit, statt nur historisch zu arbeiten, eigene philosophische Gedanken vorzulegen, und auch der Dozent, der in einer Vorlesung eine Übersicht über die Philosophiegeschichte gibt, wird sich zumeist hüten, mehr zu tun, als die verschiedenen Systeme nebeneinanderzustellen und vielleicht ihre Beziehung zueinander darzustellen, wird nicht wie etwa seinerzeit Hegel ein eigentliches Urteil über die behandelten Systeme fällen), sondern hier eben Philosophologie betrieben wird. (Der sogenannte Philosophieunterricht an den Schulen hingegen ist zumeist auch kein, nicht einmal schlechter und oberflächlicher, philosophiehistorischer Unterricht, sondern ein Philodoxieunterricht, der die Schüler nur recht zum Meinen erziehen und, wiederum als Teil jener unbewussten und ungeplanten Verschwörung, von der wahrhaften Philosophie fernhalten soll.)

Es sollte keiner Klarstellung bedürfen, bedarf ihrer aber erfahrungsgemäß doch: dass ich die Bezeichnung Philosophologie nicht im abwertenden, sondern im rein beschreibenden und unterscheidenden Sinne gebrauche. Ein Philosophologe ist mir nicht ein schlechter oder Pseudophilosoph, das Wort Philosophologie bezeichnet mir nicht die Afterphilosophie in irgendeiner ihrer Gestalten, sondern eben die historische Auseinandersetzung mit den Philosophen und ihren Lehren – was ein ehrenwertes und wichtiges Geschäft ist, welches mindestens von Diogenes Laertios an mit viel Fleiß getrieben wurde. Es wurde auch immer wieder von den Philosophen getrieben: Denn wenn ich auch freilich darauf beharre, dass ein Philosophologe als Philosophologe kein Philosoph ist, so kann doch ein Mensch durchaus beides sein, so wie ja auch ein Philologe durchaus zugleich Dichter sein kann und sich beides nicht ausschließt: Aristoteles war, noch vor Diogenes Laertios, vielleicht der erste Philosoph, der auch eine gewisse Philosophologie trieb, in neuerer Zeit ist vor allem Hegel als Philosophologe bedeutsam und in dieser Hinsicht auch schon oben angeführt worden, aber auch Nietzsche hat ein unvollendetes philosophologisches Werk über die Vorsokratiker verfasst und selbst bei Kant gibt es einzelne philosophologische Passagen und Bemerkungen; um von vielen Weiteren zu schweigen. Und bin ich nicht selbst, der ich doch Philosoph bin, in viel umfassenderer Weise Philosophologe als vielleicht irgendeiner meiner philosophischen Vorgänger? Sollte nicht schon dies hinreichend sein, um zu erkennen, dass ich mit dieser Bezeichnung keine generelle Abwertung verbinden kann, da ich ja mich selbst abwerten würde? Die Philosophologen haben ihren Platz und werden gebraucht, gerade auch von den Philosophen: Wer, wie Fichte bemerkte, nicht länger sucht, sondern sein eigenes System ausgearbeitet hat, der wird an dessen Ausarbeitung feilen und weiter auf der eingeschlagenen Bahn voranschreiten, er wird nicht die Muße und Kraft haben, sich noch ausgiebig mit Allem zu beschäftigen, was andere gedacht haben, auch wenn er dessen Wert anerkennt und würdigt, d. h. er wird sich vielleicht selbst nicht umfassend philosophologisch betätigen können. Dem Philosophen sind daher „einige hundert Jagdgehülfen und feine gelehrte Spürhunde“¹ zu wünsche, die er ins Dickicht der Bücher und Worte entsenden kann und die ihm das Wichtige zutragen können. Nur soll sich der Spürhund nicht mit dem Jäger verwechseln, und der Philosophologe, sofern er nur dieses ist, soll nicht mehr sein wollen. Wenn es also mitunter den Anschein hat, als blickte ich auf die Philosophologen herab, so betrifft das nicht diese an sich, wohl aber die Mehrzahl der heute faktisch vorhandenen, weil sie nämlich schlechte Philosophologen sind, die ihre eigentliche Arbeit nicht machen und von dieser auch nichts verstehen. Die guten und die schlechten Philosophologen lassen sich nämlich schon an dem Einen Umstand meist klar unterscheiden: ob sie wissen, was sie sind, oder ob sie sich für Philosophen halten und als solche bezeichnen. Ich weiß dies aus eigener Erfahrung – unter meinen Dozenten war es der gelehrte Wilhelm Schmidt-Biggemann, der als einziger sich keinen Philosophen, sondern einen Philosophiehistoriker nannte und der als einziger ein tauglicher Philosophologe war –, es sollte dieses aber auch dem bloßen Nachdenken einsichtig sein: Wer von der Philosophie, die er doch liest und studiert, so wenig verstanden hat, dass er nicht einmal weiß, was sie ist und dass das, was er treibt, kein Teil von ihr ist, der hat von ihr schlechterdings gar nichts verstanden und kann eben darob kein guter Historiker derselben sein.

Aber freilich, einen reinen Philosophologen, der sich wirklich bescheidet, nur allein dieses zu sein, wird man selten, vielleicht nie antreffen. Und dies liegt in der Natur der Sache. Der Philosophologe ist ja kein reiner Archivar der Philosophie, sondern ihr Interpret. Nun möchte es angehen, dass ein Philologe, ohne selbst Romane oder Novellen oder Gedichte zu verfassen, solche deutet. Um aber einen philosophischen Text richtig zu interpretieren, muss man selbst im Besitze der rechten Philosophie sein, und die Interpretation selbst wird Philosophie sein. Es können daher in aller Strenge nur die Philosophen rechte Philosophologen sein (aber der Strenge nach kann überhaupt alle Wissenschaft nur von einem Philosophen, einem der Ideen Teilhaftigen, getrieben werden). Und wer Philosophologie treibt, ohne Philosoph zu sein, dessen Auslegung wird leicht zur Philodoxie geraten. Und dies ist denn, weshalb man mich oft Kritik an den Philosophologen üben hören wird: nicht an der Philosophologie selbst, aber an ihnen, insofern sie ihre Philosophologie nicht philosophisch, sondern philodoxisch treiben.

Friedrich Wilhelm Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse. Drittes Hauptstück. 45.