Philía (φιλία) ist Freundschaft oder Liebe, doxa (δόξα) eine Meinung oder ein Schein. Während also der Philosoph die Weisheit (sophía, σοφία) liebt, liebt der Philodox die Meinung. Er kann sehr gescheit sein, aber er dünkelt, statt zu denken, und er ist bestenfalls klug (d. h. er kennt vielleicht seinen Vorteil), aber nie weise (d. h. er ist nicht gut).

Die kardinale Tugend des Philosophen ist seine Wahrheitsliebe, sein Wahlspruch lautet: fiat veritas et pereat mundus¹. An seiner statt hat der Philodox den geheimen Wahlspruch – er wird ihn nie vor anderen oder auch nur sich selbst bekennen, denn das würde ja bereits Liebe zur Wahrheit voraussetzen –: fiat mundus (id est: fiat ego) et pereat veritas². Er ist nicht nur kein Freund der Wahrheit, dem diese gleichgültig wäre, sondern er ist ihr Todfeind und er hasst sie und jeden ihrer Priester leidenschaftlich, und dies ist ganz natürlich, denn er liebt ja die Meinung, Wahrheit aber tötet und vernichtet die Meinung, wo immer sie sich offenbart.

Wahrheit erlangen wir nur durch die Vernunft. Wer die Wahrheit liebt, der wird sich daher ihrem Ausspruch unterwerfen. Er weiß, dass er selbst nicht mitzureden hat, und er will auch nicht mitreden, wenn die Vernunft gebietet: 1 + 1 ist 2. Hier schreit aber der Philodox trotzig und empört: „Wo bleibe denn da aber ich? Soll denn etwa nur die Stimme der Vernunft laut werden dürfen und meine eigene gar nichts gelten? Ich möchte, dass 1 + 1 = 3 sei oder auch 67 oder Gartenzaun!“ So wie alle Wahrheit aus der Vernunft kommt, so kommt alle Meinung vom Selbst her. Die Philodoxie ist also in ihrer Wurzel Selbstliebe, und so wie der Philosoph von Wahrheitsliebe getragen ist, so der Philodox von jener. Über alle Ansprüche, die Vernunft, Wahrheit, Wissenschaft auf seine unbedingte Unterwerfung tun, wird er daher ein Gezeter erheben, wird von Diktatur und Totalitarismus und Ende der Meinungsfreiheit schreien, auch wenn ihm keiner etwas verbietet und er nur erinnert wurde, dass er in seiner kleinen Person nicht das Absolute vorstellt.

Nimmt man die Begriffe in einem weiten Sinne, so könnte man wohl urteilen: Jeder Mensch ist entweder Philosoph oder Philodox. Wenigstens gilt das in einem ausgeklärten Zeitalter wie dem unseren: – denn negative Aufklärung macht Philodoxen; vor jeder Aufklärung möchte der Mensch noch eher Dogmatiker sein und an einer fremden Meinung mehr hängen als an der eigenen, oder aber schlicht ein Unbekümmerter, der nach wahr und falsch nicht fragt, während er seinem Tagwerk nachgeht.

Fasst man die Begriffe enger, so verstehe ich unter Philodoxen vor allem jene Intellektuellen, die als Philosophen aufzutreten die Stirn haben, aber nicht redlich die Wahrheit suchen, sondern nur sich profilieren und ihre Meinung in Büchern, Feuilletons, Podcasts und Talkshows herausposaunen, wenn sie es auch verstehen, diese gewichtig und nachdenklich klingen zu lassen. Solche entarteten Philosophen sind böse und verächtlich, denn sie sind Schmarotzer an der Gesellschaft, die zu ihr nichts beitragen: Ein unaufgeklärter Bäcker oder Lokführer backt doch immer noch den Menschen Brot oder fährt sie von Hier nach Dort, ein unaufgeklärter Philosoph aber philosophiert nicht, er ist gar Nichts, denn er sollte ja gerade Aufklärer sein und nicht bloßer Schwätzer, er zehrt also von der Gesellschaft, lebt von ihrer Aufmerksamkeit und ihrem Gelde, hat sich wahrscheinlich von ihr sein Studium und seine Promotion ermöglichen lassen, gibt ihr dafür aber doch nichts zurück und wäre weniger verachtenswert, wenn er stattdessen offen aufs Arbeiten verzichtete und einfach Sozialhilfe beantragte. Die Philodoxen sind aber überdies gefährlich, denn sie sind ja nicht nur Äffchen oder Papageien, die zwar keinen Beitrag leisten wie der Ackergaul und der Hofhund, sondern in der Öffentlichkeit abgeschmackte, aber in der Folge immerhin harmlose Kunststückchen vollführen. Sie sind Ausklärer. Sie machen in den Augen derer, die den Unterschied zwischen ihnen und den Philosophen nicht kennen, die Philosophie verächtlich und benehmen ihr damit alle mögliche Wirkung auf die Aufklärung der Menschen: Dank ihrer geht die Masse entweder achtlos an den Philosophen vorbei, wähnend, auch diese wären nur Philodoxen und die ganze Philosophie wäre solch läppische Schwätzerei – was noch der bessere Fall ist – oder – was die üblere und gerade heute umso häufigere Folge ist – sie erziehen auch die Masse zum Meinen und zur Philodoxie und lassen im gemeinen Manne den Gedünkel aufkommen: „Wenn mehr nicht dazu gehört und wenn es ohnehin keine Wahrheit, sondern nur Meinung gibt – dann kann ja auch ich mitschwatzen und verdiene ebenso, gehört zu werden, und darf ebenso bei vernünftigem Widerspruch auf die heilige Meinungsfreiheit pochen, kann also ebenso Philosoph sein!“

Philosophologen sind, als solche, keine Philodoxen. Sie können ehrenwerte und redliche Gelehrte sein, zwar vielleicht nicht wahrheitsliebend, aber doch immerhin faktenliebend, während der Philodox immer verächtlich und immer falsch ist und immer mehr seiner eigenen Meinung anhängt als den Tatsachen, gegen die er stets sehr wegwerfend sein wird, denn sie stören, wie jede noch so geringe Wahrheit, nur als ein Ballast den freien Flug seines Eigendünkels und seiner Einbildungskraft. Indes können Philodoxen auch als Philosophologen arbeiten. Sie sind dann, außer dass sie jederzeit schlechte Gelehrte abgeben, da sie für Philologie keinen Sinn haben und alles Mikrologische, was den historischen Arbeiter auszeichnet, ja überhaupt alles, was nach echter Arbeit riecht, scheuen, jederzeit besonders schädlich, denn sie unterrichten an den Universitäten die Jugend, d. h. sie bringen die Ausklärung und den Kampf gegen Philosophie und Vernunft bis in die Seminarräume und verderben gerade Die, die mehr sein sollten, bis aus ihnen eine neue Generation von Philodoxen geworden ist. (Auch mag sich der Philodox in seinem Eigendünkel zumeist nicht auf ein Seminar oder eine Vorlesung beschränken, denn er will nicht nur für sich oder für Wenige meinen, er will mit seiner Meinung gehört werden, so wenig er sich damit aufhalten mag, andere Meinungen anzuhören. Solche Professoren, während ernsthaftere Kollegen die Zeit abseits der Lehre ganz für ihre Forschung aufwenden, werden daher gerade jene sein, die sich in Podcasts laden lassen und die den Buchmarkt mit ihren Ergüssen überfluten.)

Vom Sophisten unterscheidet sich der Philodox dadurch: Dass zwar auch der Sophist nicht die Wahrheit liebt; er liebt aber auch nicht gerade die eigene Meinung, d. h. er wähnt auch gar nicht, die Wahrheit zu lieben, sondern weiß, was er ist: Er ist ein Betrüger, und eben damit ist er ehrlicher als der Philodox. Der ist zwar – nicht gerade in seiner plumpesten Form, als gemeiner Mann, aber doch wohl, wenn er Intellektueller ist – auch sophistisch, aber er ist nicht Sophist, das soll besagen: Er betrügt die Menschen nicht absichtlich und wissentlich durch Scheingründe, sondern er betrügt vor allem und zuvörderst sich selbst. Sein Kampf gegen Philosophie, Vernunft und Wahrheit ist aus einem Instinkt heraus geführt, nicht aus einem bewussten Plane.

Es gibt neben der aktiven Philodoxie, der Liebe zur eigenen Meinung und dem lauten Herumgemeine, auch noch eine passive Philodoxie: die Liebe zu fremden Meinungen, den Drang, sich allerhand Meinungen anzuhören, etwa lauter kluge Bücher von lauter klugen Philodoxen zu lesen, wobei es einem solchen passiven Philodox nie darum geht, hierbei etwas zu lernen, also wirklich gebildet und transformiert zu werden und Wahrheit zu finden durch die Hilfe Anderer, sondern es ist nur ein müßiger Zeitvertreib, eine Art Geistesmassage, ein fruchtloses Suhlen in und Sammeln von fremden Meinungen, die man dann bestenfalls besitzt wie ein Insektensammler eine Reihe aufgespießter und toter Schmetterlinge besitzt. So jemandem sind alle Meinungen gleich, er hat kein Ja und er hat kein Nein, ja es erschreckt, es belustigt ihn, wenn ein anderer zu den Meinungen, die er, der passive Philodox, auf sich einfließen lässt, ja oder nein sagt, zuletzt empört und ängstigt es ihn, wenn der Andere damit nach einem freundlichen und amüsierten Tadel nicht aufhört, sondern anzeigt, dass es ihm ernst ist. Der Philodox hasst den Ernst. Er lässt sich alle Meinungen gefallen, findet alle Meinungen „interessant“ oder „bedenkenswert“, selbst menschenverachtende, böse und schädliche Meinungen stoßen ihm nicht auf und er will sie auch als solche nicht benannt wissen, aber dass jemand nicht meint, sondern überzeugt ist, dass jemand mit Ernst von Wahr und Falsch, Gut und Böse, Schön und Hässlich redet, das macht ihn zuletzt rasend und ist ein gutes Mittel, aus dem Ausgeklärten den Faschisten herauszukitzeln, der irgendwo in dessen Seele immer schlummert. Übrigens, das sei zum Schlusse klargestellt, dürfte kaum irgendwo ein wahrhaft passiver Philodox zu finden sein. So jemand würde sein Selbst ja ganz wegwerfen, er würde sich unterwerfen, wie er soll, wenn auch nicht, unter wen er soll, nämlich nicht unter die Vernunft, sondern unter den Dünkel anderer Menschen. Die Philodoxie wurzelt ja aber gerade in der Selbstliebe und speist sich vor allem aus dem Eigendünkel. Solche passiven Philodoxe wollen doch durch die Beschäftigung mit anderen Meinungen zuletzt ihre eigenen nähren: entweder dass sie einen Stoff zum blöden Meinen zusammensuchen oder dass sie, die sich nie an dem bilden wollen, was sie sich zu Gemüte führen, sich doch dadurch bilden lassen: nämlich verbilden und ausklären und von der Nichtigkeit aller Wahrheit und dem souveränen Wert aller Meinung, also zuletzt doch auch der eigenen, belehren. Meist sind es Menschen mit kleinerem Wirkungskreis: Man lädt sie nicht in Talkshows und keine Feuilletons würden ihre Texte veröffentlichen (oft könnten sie auch gar keine schreiben, nicht einmal schlechte). Aber man sei gewiss, dass sie in ihrem begrenzten Wirkungskreise, und sei es nur am Küchentisch gegenüber der Verwandtschaft und Bekanntschaft, so emsig und aktiv die Philodoxie betreiben werden wie ihre großen Vorbilder und Verderber.

1 es sei Wahrheit und die Welt gehe zugrunde

2 es sei die Welt (das ist: es sei ich) und die Wahrheit gehe zugrunde